Gesamtausgabe der Berlin-Trilogie
Story: Jason Lutes
Zeichnungen: Jason Lutes
Originaltitel: Berlin
Carlsen Comics
Broschur | 608 Seiten | s/w | 34,00 €
ISBN: 978-3-551-80586-7

Wer leichte Lektüre sucht, ist hier gleich mehrfach falsch, die Gesamtausgabe der Berlin-Trilogie ist auch als Broschur deutlich größer und dicker als ein Ziegelstein und fordert den Leser*innen einiges ab. Dafür ist es aber auch eine Geschichte der deutschen Hauptstadt und zeigt viele ihrer Facetten zwischen Ende der 20-er und den Anfängen der 30-er Jahre.
Geschichte aus Geschichten
Jason Lutes erzählt Geschichten aus den Leben von vielen Bewohner*innen der Stadt, seien sie nun zugezogen und Student*in, Arbeiterin und Mutter, alleinlebend und journalistisch tätig, Familienvater und Opfer der antisemitischen Stimmung oder auf der Straße lebende Waise. Alle diese Schicksale und noch viele mehr sind ineinander verwoben. Die Personen begegnen sich in aus unterschiedlichen Perspektiven erzählten Strängen, haben ihre Vorlieben und Geheimnisse, und schaffen somit ein Mosaik aus Einzelheiten das ein sehr genau beobachtetes Bild des Ganzen erschafft.
Das Berlin dieser Zeit war einerseits geprägt von künstlerischer und sexueller Aufbruchstimmung; Dinge, die noch kurz zuvor undenkbar waren, konnten plötzlich in relativer Offenheit geschehen. Man darf allerdings nicht vergessen, dass trotzdem eine latente Gefahr drohte, waren die Handlungen doch immer noch strafbar, etwa nach dem § 175 StGB. Gleichzeitig drohte auch Massenarbeitslosigkeit, Menschen verhungerten und begehrten gewaltsam dagegen auf. Die in Deutschland gescheiterte Revolution nach dem Ersten Weltkrieg war schließlich noch nicht lange vorbei.

Lutes beschreibt auch den Aufstieg der Nationalsozialisten, die sich anschickten, die Macht über die Straße zu gewinnen, das Massaker der Berliner Polizei an den Demonstrant*innen des 1. Mai und die Bestrebungen der Intellektuellen um die „Weltbühne“, die Wiederbewaffnung des Deutschen Reiches und die Verbindungen zwischen Konservativen, Nationalisten und Faschisten aufzuzeigen.
Eindrucksvolle Bildfolgen
Jason Lutes zeichnet grundsätzlich in einem realistischen Stil, lässt aber auch viel weg, um die markanten Teile hervorzuheben. Seine Bilder wirken daher gar nicht so sehr, wenn man sie einzeln betrachtet. Erst die gesamte Doppelseite bekommt eine Wirkmächtigkeit die ich bei Graphic Novels oftmals vermisse.

Die dicken Panelrahmen geben Struktur; die Sequenzen bestehen teilweise aus Bildfolgen mit nur minimalen Änderungen und trotz der Fülle von teilweise fast 20 Bildern auf einer kleinen Seite ist die Lesegeschwindigkeit relativ hoch. Häufig wird der Text kursiv gesetzt. Im Vorwort werden die möglichen Bedeutungen dieses Stils erläutert. Den Sinn dahinter verstehe ich vollkommen, meine Augen sind aber nicht immer gut genug, um auch alle kursiven Passagen lesen zu wollen.
Wertvoll, lesenswert und anregend
Immer wieder wird versucht, das Aufkommen des Faschismus zu erklären. Wie konnte das passieren? Oftmals gefolgt von einem „Nie wieder ist jetzt!“. Nun ist es allerdings schwierig etwas zu verhindern, dass man nicht begreifen kann. Berlin enthält eine ganze Menge an Informationen, die sich jede*r allerdings selbst erschließen muss. Welchen Einfluss haben Familie und Gesellschaft, welchen haben Lebensentwürfe? Was macht Sexualität mit jemanden, der/die sie nicht ausleben darf? Wie kann Frustration, Gewalt und Desinformation verarbeitet werden?

Alle diese Fragen stellen sich beim Lesen der handwerklich super gemachten (!!) Gesamtausgabe, sie werden aber nicht mit dem berühmten Zeigefinger präsentiert oder gar beantwortet. Berlin schließt mit ein paar Skizzen, einem Interview mit Jason Lutes, der rund zwei Jahrzehnte an diesem Werk gearbeitet hat, und ein paar grundsätzlichen Bemerkungen. Wer vor ein paar Jahren die Hardcoverausgabe verpasst hat, sollte jetzt auf jeden Fall zuschlagen.
Dazu passen Ideal und eine (grüne) Berliner Weisse.
© der Abbildungen 2024 Carlsen Verlag GmbH, Hamburg