Marsupilami
Story: Zidrou, Frank Pé
Zeichnungen: Frank Pé
Originaltitel: La Bête
Hardcover | 156 Seiten | Farbe | 25,00 € |
ISBN: 978-3-551-78510-7
Das Marsupilami ist eines der faszinierendsten Geschöpfe des europäischen Comics. Ursprünglich erschaffen von André Franquin war es zunächst nur in den Geschichten um Spirou und Fantasio unterwegs. Später bekam es dann seine eigene Reihe mit Zeichnungen von Batem bevor es vor einigen Jahren auch wieder in den Spirou-Kanon eingereiht wurde. Üblicherweise reden wir dabei über genau ein Exemplar und seine Familie. Natürlich wird es im Dschungel von Palumbien auch noch andere Marsupilamis geben und das ist der Ansatzpunkt für die Geschichte von Zidrou und Frank Pé.
Gelbschwanz
1955 ist Belgien ein Land, das sich bereits ein wenig vom Zweiten Weltkrieg erholt hat: die gröbsten Zerstörungen sind beseitigt, die Wirtschaft läuft wieder und die Zoos ordern bereits wieder neue Tiere. Sie werden aus Übersee verschifft und sind hoffentlich gut genug versorgt um die lange Reise zu überstehen. Ein spezielles Schiff hat auf der Überfahrt leider eine lange Flaute in Kombination mit einem Maschinenschaden zu überstehen gehabt und so sind nicht mehr viele Tiere am Leben. Eine ganz besonders wilde Bestie schafft es immerhin, im Hafen von Antwerpen entwischen zu können.
Währenddessen muss sich eine alleinerziehende junge Frau mit ihren Mitmenschen herumschlagen. Sie hatte sich während der Besatzung in einen deutschen Soldaten verliebt und wurde dementsprechend der Kollaboration bezichtigt. Auch jetzt, 10 Jahre nach Kriegsende, wird sie noch angefeindet und ihr aus dieser Beziehung hervorgegangener Sohn in der Schule gemobbt. Dieser, gezwungener Maßen ein Einzelgänger, hat dafür seine Liebe zu besonderen Tieren entdeckt: eine tagaktive Fledermaus, ein Huhn ohne Federn, ein dreibeiniger Hund, ein alkoholkrankes Pferd und andere Ausgestoßene hat er bereits aufgenommen. Nun kommt er mit einem völlig verdreckten und angstaggressiven gelben Tier nach Hause.
Wie wir unschwer erkennen können, handelt es sich dabei um ein Marsupilami. Im Gegensatz zu seinem berühmten Vetter ist es allerdings nicht gut drauf, sondern verängstigt, hungrig, übermüdet und verwirrt. Kurzum, es passt genau in die Menagerie des Außenseiters. Zidrou hat schon öfter bewiesen, dass er sich in solche Rollen hineinversetzen kann und auch hier schafft er es sowohl auf der Seite der Tiere als auch auf der der Menschen. Besonders ist seine Fähigkeit, dabei Entwicklungen aufzuzeigen und allen Stadien vom kleinen Pflänzchen bis zur vollen Blütenpracht genau die richtige Aufmerksamkeit entgegenzubringen.
Emotionale Intelligenz
Diese Wertschätzung der Entwicklung und der kleinen Dinge wird von Frank Pé kongenial umgesetzt. Im gelingt es nicht nur das Ankuscheln umzusetzen, sondern die Wärme und den Trost dieser Aktion spürbar werden zu lassen. Der geteilte Apfel ist nicht nur Nahrung sondern auch Geborgenheit. Aber: Genauso gilt das Gegenteil, denn die gezeigte Brutalität gegenüber dem Jungen oder von den staatlichen Behörden kommt dementsprechend natürlich auch viel eindringlicher rüber als es eine rein technische Beschreibung erreichen könnte.
Wer hier kindgerechte Zeichnungen erwartet hat, wird definitiv nicht zufrieden sein. Das Marsupilami von Zidrou und Pé ist nicht niedlich oder süß. Huba ist nicht immer ein Ausruf von Freude oder ausgelassener Verspieltheit. Es kann auch ausdrücken „Ich werde es euch zeigen“ oder „Ihr habt es nicht anders gewollt“. Der Anfang der Geschichte ist von soviel Leid geprägt, dass er fast schon depressiv macht. Dazu ist ein Happy End – wie bei einem ersten Band einer solchen Geschichte auch nicht anders zu erwarten – nicht in Sicht.
Aber: Die Autoren beweisen soviel Mitgefühl und beschreiben auch einige Personen, etwa den Jungen, seine Mutter und auch die zart aufkeimende Liebe so warmherzig, dass trotzdem positive Energie aus dieser Geschichte gezogen werden kann. Wir können nur hoffen, dass die Geschichte so weitergeht und nicht in Kitsch abgleitet. Das ist allerdings nicht wirklich zu befürchten, wenn man andere Werke von Zidrou oder etwa ZOO von Frank Pé betrachtet.
Must have?
Ja, in gewisser Weise schon. Das lustige Fabeltier stand schon immer im Verdacht, eigentlich ein tragisches zu sein. Es gab nur wenig Beobachtungen, Großwildjäger waren auf seiner Fährte und der unberührte Dschungel wird immer kleiner. Was also lag näher, als eine erwachsene Sichtweise zu lancieren? Nicht, dass ich keinen Spaß verstehen würde oder die Klimakrise überall diskutiert werden müsste, nein. Es ist aber auch wichtig, einen Blick jenseits des reinen Vergnügens zu erlauben.
Die Bestie kombiniert beides. Es sind genug Situationskomikelemente enthalten, genügend grafisch brillante Umsetzungen von Ideen, genügend Befriedigung von Neugier und Spannung (wie wird er das wohl lösen?) um das Ganze einfach als wunderbare Bilderzählung zu lesen. Es gibt aber eben auch genügend Anknüpfungspunkte zur korrekten Behandlung von Mitgeschöpfen, zu Mobbing, zu Ehrfurcht vor der Natur und schließlich zu Fragen der Norm um das Werk eben auch als Debattenbeitrag zu nehmen. In diesem Sinne ist Die Bestie eine der besten Graphic Novels dieses Jahres.
Dazu kommt die angemessene Präsentation des Werkes als Hardcover mit sehr stabilem, mattem Papier . Das wirkt einerseits ein wenig nostalgisch, andererseits aber eben auch wertig. Nicht zuletzt ist das Format so anders, dass das Buch in jedem Regal sofort auffällt und vielleicht greift ja auch der eine oder die andere Besucher*in danach.
Ich würde ein Trappistenbier, etwa Orval, dazu empfehlen und Musik aus den 50-ern: den „jungen“ Ray Charles!
© der Abbildungen Dupuis 2020 by Zidrou, Pé, Carlsen Verlag GmbH 2021