Gesamtausgabe
Story: Maryse & Jean-François Charles
Zeichnungen: Jean-François Charles
Originaltitel: China Li Vol. 1 – 4 (Shanghai, L’honorable monsieur Zhang, La fille de l’eunuque, Hong Kong – Paris)
Hardcover Überformat |264 Seiten | Farbe | 45,00 € |
ISBN: 978-3-98721-379-3
Das Ehepaar Maryse & Jean-François Charles hat sich schon mehrfach mit Dreams/Träumen auseinandergesetzt. Egal, ob in Frankreich, Afrika oder Indien, immer beschreiben sie persönliche Schicksale und verknüpfen kriegerische und weltpolitische Ereignisse mit diesen Geschehnissen. Während die Geschichtsschreibung sich auf die großen, heroischen Momente konzentriert, sind die Auswirkungen im Alltäglichen manchmal ganz anders, zeitversetzt und alles andere als heroisch.
Die Tochter eines Eunuchen
Wie immer in ihren Werken stellt das belgische Ehepaar eine Frau in das Zentrum ihrer Geschichte. Diese spielt in China während des Übergangs zur Moderne. Die chinesische Nation musste während dieser Zeit einige Demütigungen erdulden. Zunächst einmal waren die europäischen Staaten als Konzessionsmächte tonangebend, die japanische Armee war brandschatzend, vergewaltigend und mordend eingefallen und der Kampf zwischen den Truppen des nationalistischen Generals Chiang Kai-shek mit den revolutionären Organisationen unter Führung der Kommunistischen Partei und Mao Ze-Dong hatte ebenfalls immense Opferzahlen zur Folge.
Neben der politischen Führung gab es aber zu Beginn des letzten Jahrhunderts eine große Schattenwirtschaft um Opiumkonsum, Prostitution und Bestechung, die von den chinesischen Organisationen der Triaden geleitet wurde. Und nicht zuletzt spielten auch die alten Traditionen noch eine immense Rolle und in ihnen das Schicksal der Eunuchen. Diese wurden teilweise bereits als kleine Kinder entmannt und in die Dienste innerhalb der Verbotenen Stadt gegeben. So geschah es auch dem Eunuchen Zhang, der sich im Verlauf der Zeit zum skrupellosen Führer der in Shanghai herrschenden Triade entwickelt hat. Er nimmt die junge Chinesin Li unter seine Fittiche, als diese im Alter von 7 Jahren als Wettschuld verkauft wird.
Die Geschichte erzählt, teilweise ineinander verwoben, sowohl von dem Aufstieg und der Herrschaft Zhangs, als auch das Leben von Li, die von einem misshandelten Mädchen zur einflussreichen Adoptivtochter des mächtigen Herrschers wird. Dabei gibt es nicht nur spannende Momente in ihrer Jugend, sie geht später nach Paris, begleitet Mao auf seinem langen Marsch und versucht, den letzten Auftrag ihres Adoptivvaters auszuführen. Nach chinesischer Religion ist es nämlich wichtig, dass der Körper eines Toten komplett vergraben wird. Ansonsten ist der Weg in das Paradies versperrt. Also bedeutet dass, das die entfernten Testikel im Besitz des Eunuchen sein müssen.
Zartes Aquarell und heftige Brutalität
Die Zeichnungen von Jean-François Charles, der wieder selbst den Pinsel übernommen hat, sind in ihrer grundsätzlichen Ausformung zarte Aquarelle. Diese passen insbesondere zu den teils ganzseitigen Bildern, die die Natur darstellen und von der chinesischen Tradition inspiriert sind! Meistens enthalten sie Elemente von Yin und Yang und drücken damit ein Gleichgewicht aus. Neben diesen ruhigen Haltepunkten gibt es aber auch die Hektik der Großstadt, die Verzweiflung der Süchtigen und Armen, vor allem aber die Gewalt. Diese wird hauptsächlich von Männern ausgeübt und richtet sich gegen angeblich Minderwertige und Andersdenkende.
Natürlich sind auch die Auseinbandersetzungen innerhalb der Triaden und mit europäischen Mafia-ähnlichen Gruppen nicht gerade friedlich. Während diese aber irgendwie noch Sinn machen, ist die Gewalt der japanischen Besatzer und die der kriegsführenden Parteien gegenüber allen Anderen kaum noch nachvollziehbar. Umso erstaunlicher ist es, dass die Erzählung immer wieder ihren Weg zurück zu der Geschichte findet und die gewalttätigen Szenen letztlich nur als Beiwerk einbindet und deutet. Hier werden auch kulturelle Aspekte immer wieder eingewoben.
Gelungene Kombi aus „Großem“ und „Kleinem“
Geschichte leidet immer ein wenig darunter, dass sie entweder die relevanten Ereignisse in den Vordergrund stellt und so tut, als ob sie eine Abfolge von Kalenderdaten wäre, oder aber die sozialgeschichtlichen Aspekte überbetont. Dem Ehepaar Charles ist es in China Li gelungen, beide Sichtweisen zu vereinen. Während die Struktur „bekannt“ ist, sind es die persönlichen Biographien, an denen die Auswirkungen deutlich werden. Dieser Anspruch ist nicht neu, scheitert aber (viel zu) oft!
Zusätzlich gefällt mir die zarte, pinselgetriebene Zeichnung in den Panels, die selbst in stressigen Situationen eine gewisse Ruhe ausstrahlt. Am besten gelingen dabei die grandiosen Darstellungen der Natur. Aber auch das Treiben in den Städten (so wohl der europäischen als auch der asiatischen) ist glaubhaft. Und in dem Gewimmel, das teilweise zum Besten gegeben wird, verstecken sich eine Unmenge an Details. Und schließlich bietet der Band auch für die Freund*innen der Cameos die eine oder andere versteckte Überraschung!
Dazu passen The Oldtones, etwa mit „Tocamos Ska“, und ein Singapore Sling!
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