Kleist – LOW

David Bowie’s Berlin Years

Story und Zeichnungen: Reinhard Kleist

Originalausgabe

Carlsen Comics
Hardcover Book | 176 Seiten | Farbe | 25,00 €
ISBN: 
978-3-551-79363-8

Cover Kleist LOW

Rock’n’Roll ist im Sprachgebrauch fest verbunden mit Drogen, Aussetzern und psychologischen Auffälligkeiten. Zwar sterben nur die wenigsten mit 27 Jahren, bei vielen scheint das aber eher zufällig zu sein. Auch David Bowie war kurz davor, sich in seinen Kunstfiguren wie Ziggy Stardust zu verlieren. Die Abgrenzung zu sich selbst schilderte der erste Band dieser Biografie. Mittlerweile lebt der Star mehr schlecht als recht in Los Angeles und beschließt, sein Leben erneut zu verändern …

Das innovative Zentrum in der Provinz … Westberlin

1976 ist Berlin noch weit davon entfernt, wiedervereint zu werden. In West-Berlin endet jeder Weg irgendwann an der Mauer und trotzdem entwickelt sich die Stadt zu einem Ort, der künstlerische Innovationen fördert. Schon immer war Berlin Avantgarde mit Brecht, Weil oder der Berliner Brücke, in den wilden Zwanzigern war es auch das Zentrum einer alternativen, freizügigen Partylandschaft.  Und doch ist es gleichzeitig so provinziell, dass Stars wie etwa David Bowie unerkannt durch die Straßen spazieren können.

Diese Mischung ist es, die Bowie nach Westberlin zieht. Natürlich hat er Iggy Pop im Schlepptau. Bowie versucht, sich zum wiederholten Male neu zu erfinden und mietet sich in einem Plattenstudio ein, dass vorher eher Die Flippers produziert hat. Für Fans folgen nun viele Konversationen und Begegnungen mit Brian Eno, Kraftwerk, Tangerine Dream und natürlich immer wieder Iggy über „wahre“ Kunst, das Unverständnis des Mainstreams und der Plattenfirmen und die technischen Herausforderungen.

Kleist LOW page 6

Gleichzeitig muss der Star seine Drogensucht und seine Psychosen mit sich herumschleppen. Auch hier stellt Iggy eine Art Gegenentwurf dar und beschwert sich sogar darüber, dass Bowie ihn kopieren wolle. Aber auch Romy Haag, schon damals ein(e) erfolgreiche(r) Travestie-Künstler(in), stellt die richtigen Fragen. Kleist gräbt sich in die Materie ein und präsentiert das Ganze – wie etwa auch in Cash – mit einer Leichtigkeit, die die Schwierigkeit immer genau die richtigen Worte zu finden komplett überdeckt.

Chaos und Selbstdarstellung

Reinhard Kleist ist natürlich wieder für die Zeichnungen in seinem Werk verantwortlich. Mir gefällt der Gegensatz des sich selbst inszenierenden Stars, der nach androgynem Weltraumwesen, verlorenem Raumfahrer, arrogantem Dandy nun als gereifte Avantgarde auftritt und des chaotischen, in den Tag hineinlebenden Suchenden. Dieser Gegensatz findet sich auch im Seitenlayout wieder, das zwischen durchgestylt und chaotisch changiert.

Kleist LOW page 7

Selbst der aufkommende Punk hat Einfluss, nimmt er doch einiges an Druck von den Musikakteur*innen die plötzlich mehr „sie selbst“ sein dürfen (wenn sie denn wollen). Auch diese Freiheit findet ihren Weg in die Zeichnungen. Zudem ist Low nicht nur eine Biografie des Künstlers und seiner Szene, sie ist auch eine Liebeserklärung an die Stadt in der der gebürtige Hürther seit fast dreißig Jahren lebt!

Eine Empfehlung ohne Einschränkung!

Biografien sind relativ dankbare Objekte. Zwar ist es sehr schwierig, den zu porträtierenden Menschen so tief zu erfassen, dass es wirklich eine „gute“ Produktion wird. Auf der anderen Seite ist der Kreis der potenziellen Käufer*innen aber immer relativ hoch da Fans oft automatisch zugreifen. Hier allerdings lohnt sich der Kauf unbedingt und für alle, die einfach nur ein Interesse an Musik oder der Stadt Berlin haben, ebenfalls!

Kleist LOW page 9

Beim Lesen werden viele bekannte Melodien im Kopf ein zweites Leben beginnen und vielleicht war ja auch der eine oder die andere in den Siebzigern in Berlin. Ob junge Menschen sich damit erreichen lassen werden? Wahrscheinlich nicht, aber das macht auch nichts. Es gibt genügend Ältere, die diese Graphic Novel unter dem Weihnachtsbaum vorfinden dürften. Und sie dürfen sich schon mal darauf freuen. Es gibt im Übrigen auch eine Luxusausgabe …

Dazu passen natürlich nur „Heroes“ von David Bowie und ein Berliner Kindl.

© der Abbildungen 2024 Carlsen Verlag GmbH, Hamburg

Lemoine/Dufau, Baril – Spirou und Fantasio Spezial 43

Die Schweinebucht

Story: Christophe Lemoine

Zeichnungen: Elric Dufau, Baril

Originaltitel: La Baie Des Cohones

Carlsen Comics
Softcover | 64 Seiten | Farbe | 12,00 €
ISBN: 
978-3-551-80470-9

Cover Spirou und Fantasio Spezial

Auch bei Spirou haben sich die Zeiten geändert, die tatsächliche und die erdachte Welt nähern sich immer mehr an und tatsächliche Figuren aus Politik und Zeitgeschichte dürfen oder vielmehr müssen unter ihrem wahren Namen Rollen übernehmen. Ob das jede*r gut finden wird? Wahrscheinlich nicht! Aber Kritik ist die Serie ja gerade gewöhnt, die in Deutschland als Band 42 erschienene Geschichte von Yann und Dany wurde in Frankreich sogar zurückgezogen.

Abenteuer in Kuba …

Tatsächlich wagen sich die Macher der Serie an zwei Ikonen der lateinamerikanischen Befreiungsbewegungen: Fidel Castro und Che Guevara! Während ersterer nicht nur die kubanische Mafia aus Kuba vertrieben, sondern dadurch gleichzeitig auch den amerikanischen Einfluss dramatisch reduziert hatte, war letzterer sowohl vorher als auch nachher in anderen lateinamerikanischen Revolutionen aktiv. Das Portrait von Che auf rotem Hintergrund hat sich zu einem die Jahrzehnte überdauernden popkulturellen Postermotiv entwickelt dessen Entstehungsgeschichte hier karikiert wird.

Überhaupt sie die realen Akteure, gleich ob kubanischen oder amerikanischen Ursprungs nicht wirklich nett und vertrauenswürdig. Während die CIA-Agenten eher als dusselig geschildert werden, ist bei den kubanischen der Machismo überdeutlich prominent. Auf jeden Fall wird in die Schweinebucht deutlich, dass beide Seiten für das Erlangen ihrer Ziele über Leichen gehen würden und keine Rücksicht auf irgendjemand anders nehmen werden!

Spirou und Fantasio Spezial 43 page 3

Spirou wird verhaftet, Fantasio möchte ihn befreien, versucht aber gleichzeitig Steffani in Bezug auf eine Reportage über Kuba austzustechen. Das Marsupilami stiftet Chaos und zerstört dabei die eine oder andere Dekoration oder Auslage und Agent Longplaying darf nach langer Zeit (Franquins Tal der Budhhas) wieder einmal auftreten. Und auch der GAG spielt eine tragende (oder besser  schwebende) Rolle. Die Geschichte von Christophe Lemoine schwankt zwischen Real-Satire, Anklage und Splapstick-Spannung und versucht so, den klassischen Esprit der Serie wieder einzufangen.

… in klassischer Manier!

Die Zeichnungen von Elric Dufau und Baril versuchen, den klassischen Vorbildern zu folgen. Natürlich sind die Hintergründe, die Klamotten und auch die technischen Geräte wie Autos im Jahre 1961 nicht viel anders als diejenigen, die Andre Franquin inspiriert haben. Es gelingt daher auch relativ einfach, den Charme dieser Zeit einzufangen. Trotzdem bewegen sich die Figuren darin anders, moderner und von dem aktuellen Erwartungshorizont beeinflusst. Das betrifft nicht nur die Witze (niemand würde heute noch Gottschalk als Textgeber für aktuelle Produktionen haben wollen), sondern auch die Slapstickeinlagen.

Detail Spirou und Fantasio Spezial 43 page 5

Den beiden Zeichnern gelingt diese schwierige Spagatlage ziemlich gut. Zudem schaffen sie es, den kritisierten Persönlichkeiten ein wenig Würde zu lassen. Sie machen somit den Widerspruch zwischen einigen Revolutionserrungenschaften und der Missachtung der Interessen der Einzelnen deutlich und nachvollziehbar. Und auch das Thema der Emanzipation taucht unterschwellig immer wieder auf.

Eine Annäherung!

Grundsätzlich ist der Band eine gelungene Hommage an die wohl erfolgreichste Periode der Serie. Der kleine präpubertäre Giftzwerg ist nicht ganz mein Geschmack und erinnert zu sehr an die andere große belgische Serie. Ansonsten wird der Band den Fans sicherlich gefallen. Ob man damit neue Fans gewinnen kann, wage ich allerdings zu bezweifeln. Dafür ist das Thema heutzutage zu unbekannt und von aktuellen Krisen (und Popkultur-Heroen) bereits lange verdrängt.

Spirou und Fantasio Spezial 43 page 7

Das Backcover gefällt mir dagegen sehr gut, stellt es doch einen Zusammenhang des aktuellen Bandes mit Vorläufern und mit anderen Bänden der beteiligten Künstler her. Zudem wird endlich klar, wie groß der Kosmos um die miteinander verbundenen Serien bereits geworden ist!

Dazu passen „Viva la revolución“ in der Version von den Toten Hosen und ein kubanischer Rum.

© der Abbildungen DUPUIS, 2024 / 2024 Carlsen Verlag GmbH, Hamburg

Bottier/Callixte – Hercule Poirots Weihnachten

Agatha Christie Classics 3 – Ein Poirot-Krimi

Story: Isabelle Bottier nach Agatha Christie

Zeichnungen: Callixte

Originaltitel: Le Noel D’Hercule Poirot

Carlsen Comics
Hardcover | 64 Seiten | Farbe | 20,00 €
ISBN: 
978-3-551-80426-6

Cover Hercule Poirots Weihnachten

Es weihnachtet wieder. Während die einen anfangen, nervös zu werden, weil sie nicht wissen, was sie schenken sollen, fangen die anderen an, sich mit Plätzchen und Geschichten in die richtige Stimmung zu bringen. Auch Carlsen hat mindestens einen Weihnachtsklassiker pro Jahr im Angebot. Auf Dickens folgt nun die Queen of Crime.

Die Familie, ein Hort des Friedens

Und noch ein Gegensatz: Während die einen sich darauf freuen, im Kreis der Familie ein paar glückliche Tage zu verbringen, es zu genießen, dass alle wieder vereint sind und von ihren Leben erzählen, gibt es andere, die jetzt schon wissen, dass sie die Heuchelei nicht aushalten werden.

Diese Geschichte gehört eher zu der zweiten Kategorie: Der Hausherr, reich und alt, ist ein wenig speziell und gängelt seine Kinder durchaus. Die meisten von ihnen sind aber folgsam, hängen sie doch am finanziellen Tropf. Für dieses Jahr hat er aber auch das schwarze Schaf der Familie eingeladen und zusätzlich noch eine uneheliche Enkelin. Als dann auch noch bekannt wird, dass der alte Herr sein Testament ändern möchte, ist der Siedepunkt erreicht, die Stimmungen kochen über.

Natürlich wird der alte Simeon Lee tot aufgefunden und Hercule Poirot ist zur Stelle, den Fall aufzuklären. In für Agatha Christie typischer Manier wird eine verborgene Sache nach der anderen aufgedeckt und am Ende ist wirklich jede*r verdächtig. Trotzdem wird natürlich der Fall geklärt werden müssen.

Hercule Poirots Weihnachten page 3

Weiß!

Die Zeichnungen von Callixte bringen die Atmosphäre eines englischen Landgutes und seiner Bewohner*innen gut zum Tragen. Kostüme und Dekors sind sehr stimmig und die Eigenarten im Verbergen von Gefühlen, die einigen Bewohner‘*innen der englischen Inseln zugeschrieben werden, werden ebenfalls sehr glaubwürdig dargebracht. Mit den Gesichtern, speziell den Mundpartien, steht Callixte jedoch eindeutig auf Kriegsfuß!

Wer darüber hinwegsehen kann, dass – wie so oft – eine weiße Aussparung den Mund darstellt, findet hier eine unterhaltsame Wiedergabe des klassischen Krimistoffes. (Innen-)Architektur und Kleidung gelingen jedenfalls gut genug, um trotzdem eine Empfehlung abgeben zu können!

Hercule Poirots Weihnachten page 4

Zur Einstimmung!

Weihnachtliche Katastrophengeschichten erlauben einem immer, sich zu freuen, dass es bei einem selbst anders oder aber mindestens nicht so schlimm ist. Insofern eignen sie sich perfekt zur Einstimmung. Der Baum wird geschmückt, die entsprechenden Teilchen müssen doch irgendwo im Keller sein, oder? Nachdem alles bereitet ist, kann man sich mit Hercule Poirots Weihnachten gemütlich im Sessel zurücklegen und entspannen!

Doch halt: Es fehlen noch Geschenke! Zumindest zur Adventszeit ist dieses Buch eine sehr gelungene Möglichkeit, auch andere an der Freude teilhaben zu lassen!

Hercule Poirots Weihnachten page 5

Dazu passen „Rudolph“ in der Version von Amasic und ein erster Glühwein.

© der Abbildungen BELG Prod. (2017), 1938, Agatha Christie Limited / 2024 Carlsen Verlag GmbH, Hamburg

Munuera/BeKa – Rostige Herzen 2

Inspiration

Story: Jose Luis Munuera & BeKa

Zeichnungen: Jose Luis Munuera

Originaltitel: Les Cœurs de ferraille 2 – L’Inspiration

Carlsen Comics
Hardcover | 72 Seiten | Farbe | 22,00 €
ISBN: 
978-3-551-79893-0

Cover Rostige Herzen 2

Eine Prise Science-Fiction, eine Prise Romantik, etwas Rührseligkeit und einen erbitterten Gegner, mehr braucht es nicht, um eine wundervolle Geschichte zu erzählen! Wie schon in Band 1 spielt die Geschichte in einer ländlichen Gegend. Einerseits ist die Technologie etwas weniger entwickelt als hier (und auch die Gesellschaft!), andererseits gibt es künstliche Wesen, also Roboter. Eine Geschichte über Freundschaft, Rassismus, und Menschen, die glauben einer Herrenrasse anzugehören.

Die revolutionäre Kraft des geschriebenen Wortes

So neu ist die Geschichte gar nicht: Ein Buch wird geschrieben, gedruckt und gelesen. Plötzlich entwickelt sich daraus etwas Neues, Ideen oder Wahrheiten werden deutlich, verbreiten sich und führen zu einer anderen Gesellschaft… Auch wenn das manchmal nur eine Hoffnung bleibt, ist das doch gleichzeitig der Wunschtraum aller Autor*innen, die inspirieren wollen, und der Alptraum aller beharrenden Kräfte.

Aber zu den Details der Geschichte: Ein menschliches Ehepaar wird grausam von zwei Robotern ermordet. Zurück bleibt nur ein kleines Mädchen, das sich verstecken kann. Die Kleine schließt Freundschaft mit einem Welpen und gemeinsam schlagen sie sich mit Einbrüchen und kleinen Diebstählen durch. Schließlich entdeckt das Mädchen ein Buch, herzzerreißend schön geschrieben, und erfährt das damit zusammenhängende Geheimnis.

Der Besitz des Buches lässt sie zur Zielscheibe werden. Allerdings erfährt sie unerwartete Hilfe und Unterstützung. Schließlich kann sie sogar den Grund für die Ermordung ihrer Eltern aufdecken und der Kreis schließt sich. Eine bewegende Geschichte über Vorurteile, Machtmissbrauch und Gewalt auf der einen, Zusammenhalt und Liebe auf der anderen Seite! Ach, würden doch mehr Menschen für solche Geschichten aufnahmebereit sein.

Rostige Herzen 2 page 3

Filmisch

Die Zeichnungen von Jose-Luis Munuera lassen einen immer an etwas ältere Filme denken. Nicht mit der Handkamera gedrehte, schnelle Schnitte, sondern Fahrten, die heranzoomen, Protagonist*innen in den Fokus nehmen und das Ergebnis der Handlung im folgenden Bild in Großaufnahme zeigen. Natürlich erwartet niemand hier einen Fotorealismus. Trotzdem sind gerade die Darstellungen der künstlichen Wesen perfekt. Sie drücken sowohl Liebe und Anteilnahme aus wie auch brutale Pflichterfüllung – je nach Modell! Dazu trägt auch das Design (ein- bzw. zweiäugig) bei.

Wie schon bei der Weihnachtsgeschichte und der Blauen-Boys-Interpretation steht die vom Zeichner mitentwickelte Geschichte im Vordergrund, die Zeichnungen unterstützen aber kongenial, ohne sich aufzudrängen. Dadurch wirken diese Geschichten immer wie aus einem Guss. In diesem Band sind die Rückblicke schwarz-weiß, aktuelle Ereignisse farbig wiedergegeben.

Rostige Herzen 2 page 4

Mitreißend!

Mein Lieblingszitat ist definitiv dasjenige über das ungedruckte Buch, das nicht gelesen werden kann und somit nicht existiert! Man kann den Comic auf viele verschiedene Weisen lesen: es ist natürlich eine spannende Geschichte, es ist eine Parabel auf die heutige, leider immer noch von Vorurteilen geprägte Zeit und es ist eine Art dystopischer Science-Fiction. Keine dieser Lesarten wird dabei zugunsten einer anderen beschnitten und so müsste der Band eigentlich einer unheimlich großen Anzahl von Leser*innen gefallen!

Die Ausgabe als Hardcover ist angemessen, schreckt aber möglicherweise Gelegenheitskäufer*innen ab. Diesen sei gesagt: Es ist nicht zwingend, Band 1 gelesen zu haben. Man kann den Band auch ohne Vorkenntnisse verstehen und vor allem genießen. Wer die Kombination Munuera/BeKa mag, kann hier bedenkenlos ebenfalls zugreifen.

Detail Vorblatt Rostige Herzen 2

Dazu passen Bob Dylans “The Times, they are a-changin“ in der Version von Flogging Molly und ein Pülleken.

© der Abbildungen DUPUIS 2023, by BeKa, Munuera (Jose Luis) / 2024 Carlsen Verlag GmbH, Hamburg

Sente/Verron – Mademoiselle J. 2

1945: Bis ans Ende der Welt

Story: Yves Sente

Zeichnungen: Laurent Verron

Originaltitel: Jusq’au bout du monde

Carlsen Comics
Hardcover | 64 Seiten | Farbe | 12,00 €
ISBN: 
978-3-551-76749-3

Cover Mademoiselle J. 2

Ein Spin-Off, das sich aus einer Hommage entwickelt hat. Diese nicht allzu häufige Konstruktion finden wir hier. Mademoiselle J(uliette) erblickte das Licht der Welt in einem der „Spirou par“-Bände die in Deutschland unter dem Titel Spirou und Fantasio Spezial erscheinen. Sein Name war Ptirou, so der Titel, war so erfolgreich und die Figur der aufgeschlossenen und unerschrockenen jungen Frau so vielversprechend, dass eine Reihe daraus entstanden ist.

Die Besatzung, der Holocaust und die Folgen

Die Geschichte ist wieder in eine fortlaufende Rahmenhandlung eingebettet: Onkel Paul kommt zu Besuch und erzählt die Abenteuer von Juliette de Sainteloi. In Band 1 hatte sie sich gerade noch weigern können, das Unternehmen ihres Vaters an einen Nazi verkaufen zu müssen. Als am 14. Juni 1940 die deutsche Armee in Paris einmarschiert, wird der Betrieb allerdings zwangsenteignet. Und auch ihre Wohnung in der Hauptstadt wird zumindest teilweise zweckentfremdet, wird doch dort ein deutscher Offizier einquartiert.

Während die meisten Deutschen als brutal und stupide gekennzeichnet werden, ist der einquartierte Offizier wenigstens höflich und hat sich ein wenig Menschlichkeit bewahrt. Juliettes Freundin Lea und ihre Eltern sind jüdischen Glaubens. Leider befolgen sie den Rat zur Flucht nicht und bei ihren Menschenjagden greifen die Deutschen sie auf und verfrachten sie in Vernichtungslager im Osten.

Mademoiselle J. 2 pages 3, 4

Nach der Befreiung durch die Alliierten macht sich Mademoiselle J bis ans Ende der Welt auf, Lea zu suchen. Dabei kommt ihr zur Hilfe, dass sie sich im Widerstand aktiv in der Redaktion einer Untergrundzeitung engagiert hat. Yves Sente spinnt den Lebensfaden dieser mutigen Frau weiter. Sie steht ein für Freiheit, gegen Unterdrückung und Machtmissbrauch und natürlich auch für die Rechte der Frau. Immer wieder taucht ein geträumter Ptirou auf, um sie moralisch zu unterstützen, er ist aber eindeutig nur eine Nebenfigur und nimmt keine Heldenrolle ein.

Realistische Zeichnungen

Die (überlange) Folge kombiniert in ihren Zeichnungen knallharten Realismus mit der romantischen Marcinelle-Schule. Die moderne Variante macht klar, dass keine Wichtel um die Ecke kommen werden. Eine magische Wendung ist ebenfalls ausgeschlossen. Trotzdem vermittelt Lauren Verron das Prinzip Hoffnung. Solange es Menschen gibt, die sich für das Gute und die Freiheit einsetzen, ist nicht alles verloren.

Dementsprechend machen auch die Physiognomien bereits deutlich auf welcher Seite die Personen stehen. Böse Menschen haben sowohl eine ständig bedrohliche Körperhaltung als auch einen entsprechenden Gesichtsausdruck. Wenn es etwas zu meckern gibt, dann vielleicht, dass Juliette eine Blondine mit Model-Maßen ist. Ein wenig mehr „Alltag“ wäre hier möglicherweise besser gewesen.

Mademoiselle J. 2 pages 5, 6

Ein der spannendsten Serien aus dem Spirou-Kosmos!

Der Spirou-Kosmos wächst und wächst. Neben der wieder neu laufenden Hauptreihe gibt es unzählige Interpretationen durch Gast-Künstler*innen. Dazu kommen lokale Interpretationen, die bei Erfolg weltweit ausgerollt werden. Im Zuge des 100. Geburtstag von André Franquin wurden viele Titel neu aufgelegt und dann gibt es ja noch die ganzen Reihen mit dem Marsupilami.

Viele der neuen Reihen (etwa die „Freunde“ oder von Bravo) beschäftigen sich mit dem Zweiten Weltkrieg und den Gräueltaten der Deutschen. Mademoiselle J. fügt aber einen aufgeklärten Feminismus hinzu der weder belehren noch erziehen will. Danke!

Dazu passen Operation Ivy mit “Unity“ und eine Limetten Limonade.

© der Abbildungen DUPUIS 2023 / 2024 Carlsen Verlag GmbH, Hamburg

Dahmen – Columbusstraße

Eine Familiengeschichte 1935 – 1945

Story: Tobi Dahmen

Zeichnungen: Tobi Dahmen

Originalausgabe

Carlsen Comics

Hardcover Book | 528 Seiten | Farbe | 40,00 €
ISBN: 
978-3-551-79663-9

Cover Dahmen - Columbusstraße

Es gibt nicht mehr allzu viele Zeitzeug*innen des sogenannten „Dritten Reiches“, aber immer noch eine ganze Menge an offenen Fragen. Eines ist jedoch sicher: je größer der Abstand wird, desto unverständlicher werden Motive, Situationen und Emotionen, die ein Handeln begründet haben. Und da sich die Diskussionskultur gerade nicht unbedingt positiv entwickelt, ist es auch kein Wunder, dass Vorwürfe (egal aus welcher Richtung) die Tonalität bestimmen. Columbusstraße ist nicht als Beitrag zu einer Diskussion gedacht, es dient zunächst einmal der eigenen Information. Natürlich stellen sich daraus aber auch Fragen nach Verantwortung. Mehr zum Thema hier. Tobi Dahmen hat seine eigene Jugend in Fahrradmod beschrieben.

Der Feind sitzt in Russland

Tobi Dahmen hatte die Gelegenheit, nachzufragen. Und diese hat er weidlich genutzt, um die Geschichte seiner eigenen Familie während fast der gesamten Zeit der Nazi-Herrschaft aufzuzeichnen. Dabei geht er keineswegs einen leichten Weg. Viele Aussagen, Situationen und auch Zeichnungen sind nur schwer zu ertragen. Er hat allerdings den Vorteil, dass eine ganze Menge an Diskussionen schon gelaufen ist. Vor rund 20 Jahren zog die „Wehrmachtsausstellung“ durch die Deutschen Lande. Sie räumte mit der landläufig vertretenen Meinung auf, dass sich der Landser keiner Verbrechen schuldig gemacht hätte. Was damals noch Bombenattentate rechtsradikaler Aktivisten zur Folge hatte, ist heute Allgemeingut.

Detail aus Dahmen - Columbusstraße 2

Dieses Wissen droht allerdings von Fake-Facts übertüncht zu werden. Umso wichtiger ist es, die Geschehnisse immer wieder und wieder einfach nur darzustellen. Es geht nicht um den moralischen Impetus, die Frage an die heutige Generation, wie sie sich verhalten hätte (mit dem Wunsch auf zwei völlig unterschiedliche Antworten, je nach eigener Position) und auch nicht um Effekthascherei. Was könnte dafür geeigneter sein als Erinnerungen, die einfach nur wiedergegeben werden?

Und so lässt Dahmen sie alle zu Wort kommen, die Soldaten, den landverschickten Buben, den christlichen Vertreter der Moral, den Kriegswirtschaftsverwalter und viele andere mehr. Es mag störend sein, dass Antisemitismus, Antibolschewismus, Chauvinismus und andere -ismen quasi ungefiltert geäußert werden. Sie sind aber notwendig, um die Situation zu beschreiben, eine Antwort geben zu können, was jede*r (nicht) gewusst haben könnte/müsste, und damit authentische Zeugnisse gewinnen zu können.

Detail aus Dahmen - Columbusstraße 3

Realismus als Prinzip

Der Anspruch dieser Graphic Novel ist die Wiedergabe von Fakten. Die Aufgabe der Leser*innen ist es, diese zu bewerten und Schlüsse daraus zu ziehen. Und natürlich lässt einen der Realismus von Content und Zeichnungen oftmals daran zweifeln, ob es auch nur die leichteste Möglichkeit gibt, das Dargestellte gut finden zu wollen. Und doch gibt es das, wir müssen uns also damit auseinandersetzen. Dabei geht es natürlich nicht um Kollektivschuld oder ähnliche Vorwürfe. Es geht darum, zu verstehen, wie und warum sich so etwas entwickeln konnte.

In einer aktuellen Serie, die im Berlin der Nachkriegsjahre spielt und die in der ZDF-Mediathek abrufbar ist, heißt es, dass schlimmer als ein Nazi nur der Helfer eines Nazis sei. Aussagen dieser Art werden in Columbusstraße nicht getroffen. Die Zeichnungen erlauben in ihrer Emotionalität dafür aber durchaus, den Unterschied zwischen öffentlicher Rede (etwa in Feldpostbriefen) und eigenem Erleben darzustellen. Manchmal allerdings klingt das bereits sehr zynisch. Alles in Allem ist Tobi Dahmen dafür zu bewundern, dass er diese Geschichte und ihre Details outet. Er macht sich angreifbar, weil er es wichtig findet, Verantwortung zu übernehmen!

Detail aus Dahmen - Columbusstraße 1

Must Have!

Die Aussage, dass etwas ein „Must have“ sei, ist immer mit Vorsicht zu genießen. Natürlich „muss“ sich niemand mit deutscher Geschichte befassen. Niemand ist gezwungen, nachzuforschen, ob seine oder ihre Verwandten involviert waren. Wer aber noch nachfragen kann, sollte das jetzt tun, denn die direkte Erinnerung mag zwar im Laufe der Jahrzehnte getrübt sein, ist aber trotzdem einer gefilterten Aussage aus zweiter Hand vorzuziehen. Wer diese Möglichkeit nicht (mehr) hat, bekommt mit diesem Werk die Möglichkeit, eine fremde, authentische Erinnerung nachzuvollziehen.

Natürlich wird es auch hier Lücken gegeben haben, die bewusst oder unbewusst gefüllt worden sind. Bevor jetzt akribisch veranlagte Menschen damit anfangen, die Fensterscheiben in einem historischen Gebäude auf „Wahrheit“ zu überprüfen: Das ist nicht der Punkt! Es geht um die Beschreibung der Zeit, um authentische Gefühle und Wahrnehmungen. Im Laufe der Zeit mögen Details sich dagegen leicht verschieben. Ein wichtiges Buch, dass sogar die Chance verdient hätte, als Schullektüre verwendet zu werden.

Bild aus Dahmen - Columbusstraße

Dazu passen die Toten Hosen mit “Moorsoldaten“ und ein Füchschen Altbier.

© der Abbildungen 2024 Carlsen Verlag GmbH, Hamburg, by Tobi Dahmen

Fromental, Bocquet/Floc‘h – Die Kunst des Krieges

Ein Abenteuer von Blake & Mortimer in New York

Story: Jean-Luc Fromental, José-Louis Bocquet nach Edgar P. Jacobs

Zeichnungen: Floc’h nach Edgar P. Jacobs

Originaltitel: Un autre regard sur Blake & Mortimer : L`Art de la guerre

Carlsen Comics
Hardcover | 124 Seiten | Farbe | 26,00 €
ISBN: 
978-3-551-79414-7

Cove Blake & Mortimer Spezial 3

Unter dem Reihentitel Blake & Mortimer Spezial bringt der Carlsen-Verlag in unregelmäßigen Abständen Werke heraus, die nicht in die reguläre Reihe und ihre Kontinuität gehören, trotzdem aber dem Blake & Mortimer Kosmos zugehörig sind. Als dritter Band ist gerade Die Kunst des Krieges erschienen.

Der Feind sitzt in Russland

Die Geschichte spielt in der Vergangenheit und könnte doch kaum aktueller sein. Während Blake vor der UN-Vollversammlung einen Vortrag über Abrüstung halten soll, passieren in New York seltsame Dinge. Unter anderem wird ein Mann dabei ertappt, dass er nachts im verschlossenen Metropolitan-Museum „Bei Horus Ver“ auf eine alte ägyptische Stele ritzt. Der verwirrt wirkende Täter kann festgenommen werden und entpuppt sich als … Olrik.

Natürlich sind unsere beiden Briten bemüht herauszufinden, was hinter dem Ganzen steckt. Immer wieder wird Blake allerdings in Form eines running gags daran erinnert, dass seine wirkliche Priorität der Vortrag sei und er ihn doch bitte einreichen möge. Bürokratie trifft hier auf Kriminalistik. Und auch das klassische Werk Die Kunst des Krieges spielt eine wiederkehrende Rolle.

Fromental und Bocquet schaffen es, eine spannende, verzwickte Suche zu schildern die viele falsche Wege andeutet. Wie immer gibt es dabei auch psychologische Aspekte zu beachten. Im Gegensatz zum Original ist der Anteil von erklärenden Textboxen allerdings sehr gering.

Klassische Moderne

Floc’h verbindet die Ligne Claire mit einer modernen Abstraktion. Da der Comic zudem in einem dreistreifigen Layout daherkommt, wirkt er zunächst ein wenig aufgebläht. Schon nach wenigen Seiten stellt sich dadurch aber eine einzigartige Stimmung ein, die in gewisser Weise an die sprichwörtliche britische Ruhe beim Teetrinken erinnert. Mag es auch noch so hektisch zugehen, die Helden nehmen sich Zeit.

Logo Blake & Mortimer

Dazu kommt, dass die Zeichnungen etwas grobschlächtig daherkommen. Nicht nur fehlen naturgemäß die Details im Hintergrund, auch die Figuren nähern sich in ihrer Darstellung an eine schematische Weise an. Dadurch schafft Floc’h seine eigene Interpretation des Klassikers und verhindert, als Epigone abgestempelt zu werden.

Passende Erweiterung der Serie

In der Spezial-Reihe erscheinen Bände, die nicht ganz den Vorgaben der Serie entsprechen. Hier sind weder die Autoren bereit, extrem lange Texte zu schreiben, noch folgt der Zeichner dem sehr realistischen Stil von Jacobs und abstrahiert kräftig. Bei anderen Reihen würde dieser Band daher als sehr eigenständige Hommage durchgehen. Inhaltlich werden Fans aber nicht antäuscht sein. Alle Elemente einer klassischen Blake & Mortimer-Geschichte sind vorhanden!

Die Herausgabe als Hardcover unterstreicht die Besonderheit, der Preis ist für Ausstattung und Umfang absolut angemessen. Fast mag man es bedauern dass das Backcover wohl nicht als eigenständiger Druck escheinen wird.

Dazu passen The Selecter mit “Celebrate the Bullet“ und Lander Bräu Strong Beer.

© der Abbildungen Éditions Blake & Mortimer / Studio Jacobs (Dargaud-Lombard S.A.) 2023 | 2024 Carlsen Verlag GmbH, Hamburg

Yann/Dany – Spirou und Fantasio Spezial 42 – UPDATE

Spirou und die blaue Gorgone

Story: Yann

Zeichnungen: Dany

Originaltitel: Spirou et la Gorgone bleue

Carlsen Comics
Softcover | 96 Seiten | Farbe | 14,00 €
ISBN: 
978-3-551-79956-2

Cover Spirou und Fanstasio Spezial 42

UPDATE: Mittlerweile hat DUPUIS den Band zurückgezogen, er wird nicht mehr verkauft. Es hatte – wie bereits unten vorausgesagt – eine intensive Diskussion gegeben, ob es sich um Satire handele oder um Bild-gewordenen Sexismus und Rassismus. Auch auf der deutschen Seite von Carlsen ist der Band nicht mehr gelistet, er wurde allerdings nicht zurückgezogen, er wird nur nicht nachgedruckt.

Dany hat erklärt, dass er den Band als Hommage an die 60-er Jahre betrachtet hat und keineswegs jemanden verletzen wollte. Er hätte den Fehler eingesehen und würde ihn nicht wiederholen.

Während die reguläre Serie über den Hotelpagen und seine Freund*innen ein mittlerweile sehr gemäßigtes Publikationstempo aufgenommen hat, erscheinen die „Spirou par …“-Bände, die bei uns in Deutschland als Teil der Spezial-Reihe erscheinen, deutlich häufiger. Kein Wunder, haben doch hier die Autor*innen und Zeichner*innen viel mehr Freiheiten bezüglich des Stils und der Kontinuität. Yann ist bereits ein alter Bekannter, hat er doch sowohl reguläre als auch Sonderbände bereits mehrfach getextet. Für Dany ist es das erste Mal.

Kampf gegen Fastfood

Heutzutage wird die Klimakatastrophe bzw. die menschgemachte Klimaänderung nur noch von Wissenschaftsleugnern angezweifelt. Ein Teil des Problems ist die weltumspannende Fast-Food-Kultur, die unter anderem zu einer aktuell nicht mehr beherrschbaren Menge an (Verpackungs-)Müll führt. Sehr deutlich wird in dem Comic auf den sog. 8. Kontinent hingewiesen, der aus schwimmendem Müll besteht.

Es gibt eine alles beherrschende Fast-Food-Kette, die von einem sehr reichen Mann geführt wird der einen verblüffend an einen unsympathischen Mann erinnert. Bei ihren potentiellen Kund*innen ist die Kette vor allem wegen der hochwertig inszenierten Werbeclips und Sammelobjekte beliebt. Die Kette ist aber auch das Hauptziel der blauen Gorgone. Ihre Kämpferinnen treten vermummt und in einheitlichem Outfit auf um mit Sachbeschädigungen auf die Gefahren von Fast-Food aufmerksam zu machen.

Spirou und Fanstasio Spezial 42 page 5

Plötzlich ändert die Organisation jedoch ihre Handlungsweise und entführt das Anchor Girl der Kette, die gleichzeitig Lebensgefährtin des Chefs ist. Stefanie ist als Reporterin undercover live dabei und auch Spirou und Fantasio werden in die Ermittlungen hineingezogen. Selbst der Graf von Rummelsdorf scheint eine Rolle zu spielen.

Traditionell und doch unerwartet

Dany kann sehr wohl realistisch zeichnen (etwa hier), bewegt sich bei diesem Abenteuer grundsätzlich aber in den gewohnten Spirou-Bahnen. Es gibt jedoch einige Anspielungen, die eher nicht kindgerecht sind, etwa das Aussehen eines bestimmten Pilzes. Und auch Gorgonen wie Strandurlauberinnen sehen etwas anders aus. Ansonsten trifft er aber den Ton der Serie: Fantasio ist rechthaberisch und aufbrausend, Spirou eher die Ruhe selbst und Pips der Rächer der Machtlosen!

Spirou und Fanstasio Spezial 42 page 6

Da der Band recht lang ist, besteht genügend Zeit, grundlegende Szenen auszudehnen und nicht in ein oder zwei Panel abhandeln zu müssen. Dany nutzt das aus, um mit Perspektivwechseln zusätzliche Bewegung aufzunehmen. Die Geschichte wirkt dadurch sehr flott erzählt. Manchmal verliert man dabei den Blick für die Details. Ich empfehle daher mindestens einen zweiten Durchgang!

Grandiose Satire!

Yann schafft eine wirklich grandiose Satire auf die heutige Zeit mit den sinnlosen Abwehrkämpfen gegen wissenschaftliche Erkenntnisse. Leider haben die Leugner immer wieder die Dummheit der Masse auf ihrer Seite. Zudem beweist die Story, dass man nicht immer gut sein muss um Gutes zu wollen und vice versa. Mir gefällt auch der Anfang, der die Leser*innen an eine bestimmte Schaffensperiode von Dany erinnert. Während die Zeichnungen in diesem Stil bleiben, ist der Inhalt mit Oh LaLa natürlich keineswegs zu vergleichen.

Spirou und Fanstasio Spezial 42 page 9

Die Militärs und Geheimdienste sind genau so überzeichnet wie Kapitalist*innen und naive Beschützer*innen. Wahrscheinlich werden sich einige Leute auf allen Seiten auf den Schlips getreten fühlen. Tatsächlich ist hier aber ein großer Spaß entstanden, der allerdings trotzdem klar macht, auf welcher Seite man steht.

Dazu passen Paul Wellers neues Album “66“ und hand-made Lemonade.

© der Abbildungen Dupuis, 2023 | 2024 Carlsen Verlag GmbH, Hamburg

Roba – Boule & Bill Gesamtausgabe 1

1959 – 1963

Story: Jean Roba mit Maurice Rossy

Zeichnungen: Jean Roba

Originaltitel: Boule & Bill

Carlsen Comics

Hardcover | 268 Seiten | Farbe | 38,00 €
ISBN: 
978-3-551-80266-8

Boule und Bill Gesamtausgabe 1 Cover

One-Pager, also Gags, die genau eine Seite einnehmen, sind eine typische Publikationsform in Magazinen. Einerseits dienen sie durchaus als Ankerpunkt in der Kund*innenbindung und zählen oft zu den beliebtesten Serien, andererseits sind sie auch als Trenner zwischen zwei Beiträgen beliebt. Dadurch können sie sowohl in Stadtmagazinen und Illustrierten auftreten als auch in Magazinen wie Spirou, Tintin/Kuifje oder ZACK. Die Spielarten dieser Serien sind so weit wie das gesamte Comic-Spektrum hergibt, Tiere sind jedoch definitiv beliebt.

Ein Junge und sein Cocker Spaniel

Mittlerweile sind im Original in der regulären Serie 44 Sammelbände erschienen. Autoren und Zeichner haben genauso gewechselt wie Verlage und selbst der Zuschnitt der Bände hat sich geändert. Auch in Deutschland gab es die eine oder andere Veränderung. Alles begann bereits 1964 unter dem Namen Schnieff und Schnuff bei Kauka. Später publizierte Ehapa bevor der Salleck-Verlag (der im Übrigen in diesem Band immer noch in einem Panel beworben wird) und Finix übernahmen. Jetzt also die Gesamtausgabe bei Carlsen!

Das erste Abenteuer kam in Form eines Mini-Recits und hat zwar schon die späteren Figuren, atmet aber noch eine komplett andere Stimmung aus. Erst danach kommen die lustigen, teils klamaukhaften Einseiter im Rahmen der Familie. Der siebenjährige Boule und sein Cocker Spaniel Bill erleben Abenteuer aus der Sicht der „Kleinen“, der Vater versucht den Spagat zwischen Erzieher und Kumpel und scheitert daher hin und wieder.

Die Mutter dagegen räumt zwar auf und beseitigt alle Schäden, ist aber auch ganz klar die gefürchtete (und geachtete) Respektsperson. Die Nachbarin dagegen ist die Vertreterin des Kleingeistes und ihre Katze der Antagonist zu Bill. Die Geschichten sind niedlich, kindgerecht und haben trotzdem manchmal eine Komponente für Erwachsene.

Boule und Bill Gesamtausgabe 1 Detail

Einfach schön

Die Zeichnungen von Roba sind einfach schön! Man merkt ihnen an, dass Roba an drei Abenteuern von Spirou zusammen mit Franquin gearbeitet hat. Kompositionen und Tempo stimmen und die Zeichnungen verbreiten den Charme der Marcinelle Schule. Realismus und Gemütlichkeit bilden eine Einheit.

Dementsprechend waren die Seiten in Deutschland auch sowohl in Lupo und Fix und Foxi als auch im ZACK vertreten. Für heutige Kinder wären sie wahrscheinlich zu langweilig. Die zu Geld gekommenen früheren Kinder werden sich aber an fast jeder Seite erfreuen können, sind die Gags doch gewissermaßen zeitlos.

Eine schöne Gesamtausgabe

Der Band enthält sowohl eine internationale Einführung als auch einen auf Deutschland bezogenen Beitrag und rahmt die Geschichten somit angemessen. Viele zusätzliche Abbildungen, die nur in Spirou enthalten waren, ergänzen die hier chronologisch und komplett wiedergegeben One-Pager.

Die hier abgedruckten ersten drei Originalalben (mit deutlich höherer Seitenzahl als die spätere Variante) ergeben auch ein angemessenes Preis-Leistungsverhältnis. Wer die Sachen also nicht ohnehin zuhause im Regal hat und auf die große Generation der frankobelgischen Zeichner steht, sollte hier unbedingt einen Blick riskieren!

Dazu passen “Pass the Durchie“ und eine Zitronenbuttermilch.

© der Abbildungen Roba/Dupuis, 2021 | 2024 Carlsen Verlag GmbH, Hamburg

Delaf – Gaston 22

Die Rückkehr eines Chaoten

Story: Delaf nach André Franquin

Zeichnungen: Delaf nach André Franquin

Originaltitel: Gaston 22 – Le Retour de Lagaffe

Carlsen Comics
Hardcover | 48 Seiten | Farbe | 15,00 €
ISBN: 
978-3-551-64001-7

Cover Gaston 22

Wir feiern (immer noch) den 100. Geburtstag eines der besten Comic-Künstler überhaupt, der den europäischen Comic wie nur wenige andere beeinflusst hat: André Franquin. Viele seiner Werke sind gerade in Sondereditionen neu erschienen, die Zeitschrift Spirou hat gar eine sehr schöne Sondernummer (4473 – 4474) veröffentlicht. Natürlich sind mit diesem Namen Serien wie Spirou und Fantasio oder Mausi und Paul verknüpft, das gelb-schwarze Wundertier hüpft über die Seiten. Daneben gibt es aber auch die anarchistische Seite, die sich in einigen Schwarzen Gedanken äußert, in der Kritik an der Institution Kirche, vor allem aber in den Abenteuern des Büroboten Gaston.

Zurück in die Zukunft …

21 Bände mit den aberwitzigen Geschichten von Gaston sind erschienen und eine sehr lange Zeit sah es so aus, als ob es dabei bleiben würde. Zwar kamen immer neue Gesamtausgaben auf den Markt und wurden teilweise vergessene Bruchstücke hinzugefügt, Neues schien aber verboten zu sein. Natürlich mal abgesehen von den unzähligen Hommagen und Cameoauftritten. Schließlich schon es so weit zu sein, der Kanadier Delaf (mit bürgerlichem Namen Marc Delafontaine) fabrizierte einige Seiten, aber ein Rechtstreit verhinderte zunächst die Veröffentlichung. Bis jetzt …

Die Jahrzehnte, die zwischen Band 21 und Band 22 liegen, haben in gewisser Weise gar nicht stattgefunden. Fräulein Trudel ist noch genauso die alte wie Herr Bruchmüller, Demel oder Polizist Knüsel. Während das bei Letzteren nicht weiter schadet, ist das Rollenbild der verliebten Kollegin leider „leicht“ veraltet. Die Gags funktionieren trotzdem und bringen das gesamte Ensemble auf die Bühne: sogar Spirou, Demels Vorgänger Fantasio und das Marsupilami dürfen mittun!

Gaston 22 page 3

Die Gags modernisieren die Umgebung nur leicht und sind daher für Kids möglicherweise nicht ohne Erklärung verständlich. Das mobile Telefon ist für die Älteren unter uns aber ein genauso großer Spaß wie der Campingurlaub und die nur auf Papier vorhandenen Verträge. Es gibt aber auch bereits erste E-Bikes und Reminiszenzen an Spider-Man. Ein gelungener Versuch, den alten Stallgeruch aufzunehmen und (sehr zaghaft) zu modernisieren.

Zeichnungen, die das Flair einfangen

Natürlich ist Delaf kein Franquin. Wer das erwartet, glaubt aber auch an den Weihnachtsmann. Delaf kopiert jedoch den Stil sehr originalgetreu und schafft damit das Vertrauen, das es braucht, eine Meisterserie fortsetzen zu können. Einige Bilder mögen etwas zu voll sein, natürlich fehlt die lustige, immer wieder andere Signatur und das Tempo stimmt (noch) nicht immer.

Gaston 22 page 4

Das ist aber ein Meckern auf hohem Niveau! Für mich springt der Funke über, der Irrwitz aus Respektlosigkeit, grenzenloser Naivität und unbekümmertem Urvertrauen wird durch die Zeichnungen perfekt unterstützt. Weiter so! (Und: Ja, ich weiß, dass es Purist*innen gibt, die das Ganze nur als Affront verstehen während anderen die Modernisierung nicht weit genug geht…).

Ein gelungenes Comeback

Viele alte Serien aus der Blütezeit des frankobelgischen Comics sind „runderneuert“ wieder auf dem Markt, andere sehen sich eher den Traditionen verbunden. Der „neue“ Gaston gehört definitiv in die zweite Kategorie. Kids sind eindeutig nicht die Zielgruppe! Fairerweise muss man allerdings zugestehen, dass die beruflichen Erlebnisse einer Redaktion schon immer aus der Welt der Erwachsenen entnommen waren.

Wir haben heutzutage viel zu wenig Spaß in unserer auf Verwertung und Optimierung getrimmten Welt. Gaston ist definitiv ein Ereignis, eine Naturgewalt, von der man hofft, dass sie andere Firmen heimsuchen und die eigene verschonen möchte. Trotzdem gibt sie genau das, was fehlt: Anarchie im Alltag! Für mich ein Top-Tipp!

Dazu passen Bite Me Bambi mit “Bad Boyfriend“ und ein Grauburgunder.

© der Abbildungen Delaf d`après Franquin Dupuis 2023 | 2024 Carlsen Verlag GmbH, Hamburg

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