Eine fast normale Kindheit in der DDR
Story: Thomas
Henseler, Susanne Buddenberg nach dem Roman von Claudia Rusch
Zeichnungen: Thomas Henseler, Susanne Buddenberg
Originalausgabe
Hardcover | 144 Seiten | S/W und Farbe | 18,00 € |
ISBN: 978-3-96289-083-4
Die Kindheit
Um seine Jugend in der DDR verbracht zu haben muss man ein Geburtsjahr haben, das spätestens aus den 70-er Jahren kommt. Für viele heute Graphic Novels lesende Menschen also weit vor dem eigenen Geburtsdatum. Die Geschichte erfordert also das Eintauchen in eine fremde, zumindest aber vergangene Zeit mit komischen Klamotten, Redewendungen und Modethemen, richtig? Naja, hier geht es nicht um eine Netflix-taugliche, hippe Verfilmung, sondern um Erinnerungen eines jungen Mädchens an die eigene Kindheit, erzählt auf einer sehr sympathischen und freundlichen Basis obwohl einem beim Lesen manchmal das Lachen etwas stecken bleibt…
Die Geschichte von Claudia Rusch beginnt an der Ostsee. Diese ist weder von menschenfressenden Ungeheuern bevölkert noch besonders stürmisch und doch sind viele Flüchtlinge aus dem damals „ummauerten“ Teil Deutschlands in ihr ertrunken und so empfindet auch die kleine Heldin sowohl eine grenzenlose Angst vor dem Wasser als auch den unbedingten Wunsch, einmal die Ostsee mit dem Malmö-Express zu überqueren. Thomas Henseler und Susanne Buddenberg, die sich schon mehrfach dem Thema DDR gewidmet haben, gelingt es in dem ganzen Buch, Claudia sympathisch darzustellen, ihre (Kinder-)Sorgen darzustellen und die damalige Situation darzustellen ohne dabei in Klischees abzurutschen. So benutzen sie in dieser Szene etwa angedeutete Tierfallen im Wasser der Ostsee.
Der Staat
Das kleine Mädchen hat auch Eltern. Während der biologische Vater nach der Scheidung keine allzu große Rolle mehr spielt (mal abgesehen von dem einen wichtigen Auftritt in Uniform), gehört ihre Mutter zum Kreis um die Dissidenten Havemann und ist daher ein Objekt für die Überwachung durch die StaSi. Ganz nebenbei wird hier ein Problem dargestellt, dass viele Beziehungen nachträglich unter ein unerträgliches Licht gestellt hat, denn die Bespitzelung machte weder um die Liebe noch die Familie einen Bogen …
Die Überwachung wurde aber auch öffentlich vollzogen und die „grauen Herren“ warteten auch in Wagen vor der Haustür oder folgten den Überwachten mehr oder weniger unauffällig und so ist eine meiner Lieblingsszenen der Marsch der kleinen Claudia durch den dunklen Wald um die Oma vom Bus abzuholen. Aus Furcht singt sie lauthals Parteilieder, was einerseits die ihr im Verborgenen folgenden Mutter verärgert, andererseits die der Mutter folgende StaSi verwirrt, kann es sich doch nur um Provokation oder Täuschung handeln – an Absurdität nicht mehr zu überbietender Slapstick vom Feinsten!
Die Graphic Novel
Eine andere grandiose Stelle beschreibt die Fähigkeit, mit den Gefühlen der Leser*innen zu spielen. In einem überfüllten Bus nimmt das kleine Mädchen auf dem Schoß eines älteren Herren Platz und die Dramatik der Bildfolge, ihrer sich verlangsamenden Geschwindigkeit und der wechselnden Frontalen der Gesichter des Herren, der Mutter und des Kindes lassen kein Missverständnis aufkommen: Hier wird etwas geschehen! Tut es auch, allerdings anders als heutzutage erwartet!
Das autobiographische Buch von Claudia Rusch war ein kleiner Bestseller, allerdings kein Mainstream, denn die Heldin wollte natürlich ein Ende der DDR aber keinen Anschluss, sondern die Möglichkeit auf eine eigenständige Entwicklung. Henseler und Buddenberg gelingt es kongenial, die Stimmungen der Heldin und ihrer Umgebung einzufangen und wiederzugeben, die Emotionen des Kindes (Kakerlaken!), der jugendlichen und auch der jungen Erwachsenen glaubhaft darzustellen und vor allem aber die DDR-Situation als bedrückend, feindlich und unerwünscht zu beschreiben ohne in eine „Verteufelung“ zu verfallen, die gerade Westler*innen so gerne präsentiert haben.
Insgesamt also eine brillante, unbedingt zu empfehlende Graphic Novel aus der jüngeren Deutschen Geschichte die ein differenziertes Bild auf die DDR wirft und dabei nichts verschweigt, die eine Jugend aus der unschuldigen Perspektive des Kindes zeigt, die erwachsene Wertung des Ganzen aber nicht unterschlägt und nebenbei auch noch wirklich gut gezeichnet ist! Gerade auch für „Wessies“ könnte die Lektüre die eine oder andere Erinnerung hervorholen und in einem neuen Licht erscheinen lassen: Während die „Schwerter zu Pflugscharen-Kampagne“ hier aus Ost-Sicht für westliche Infiltration gehalten wird, war sie im Westen ein Sinnbild für ostdeutsche Propaganda…
Für mich auf der Auswahlliste für die Graphic Novel des Jahres!
Dazu passen ein Radeberger und (passend zu ihrem 65. Geburtstag) Nina Hagen und ihre Entwicklung vom „Farbfilm“ zum „TV“.
© der Abbildungen Christoph Links Verlag, 2020