Jahresrückblick 2021

Immer noch Corona, meine persönlichen Favoriten und gute Wünsche

Wer hätte das gedacht? Die Pandemie hat uns auch das ganze letzte Jahr in Atem gehalten: Lockdown, Beschränkungen für Kulturveranstaltungen, Verlagerung des Einkaufsverhaltens von lokalen Läden hin zu Online- und Versandhändler*innen. Natürlich wird das Auswirkungen auf die Comic-Branche haben. So finden wir zunächst im Independent-Bereich, etwa dem ZEBRA, bereits Auseinandersetzungen mit den Folgen. Da wird sicherlich noch mehr kommen. Ausstellungen sind weniger geworden oder sie waren zu mindestens schlechter besucht. Auch ich war während des Jahres daher leider nur im MoCa in Noordwijk  und im Jan Kruis-Museum in Orvelte.

Die Digitalisierung ist allerdings weiter fortgeschritten. Immer mehr Verlage bieten auch elektronische Ausgaben an. Für mich persönlich ist das allerdings nichts. So gerne ich elektronische Medien und Tools auch nutze, graphische Literatur lese ich immer noch am liebsten auf Papier, freue mich an der Haptik (wenn der Comic entsprechend dargeboten wird) und am Anblick einer Reihe im Regal.

Nachdem meine Winterpause jetzt vorbei ist wünsche ich uns allen für das kommende Jahr, dass mehr Normalität zurückkehrt. Dafür ist es allerdings wichtig, dass alle, denen es möglich ist, sich impfen lassen!

R.I.P.

Wie immer sind wieder viel zu viele Comic-Schaffende gestorben. Ein paar davon sollen hier eine letzte Erwähnung finden: Marcel Uderzo, Jean Graton, Benôit Sokal, Nikita Mandryka, Raoul Cauvin, Dieter Kalenbach und Gérald Forton.

Die besten Comics in 2021

Auch dieses Jahr wieder präsentiere ich hier meine Favoriten: subjektiv, ohne Anspruch auf Vollständigkeit und unabhängig von Verlagsbemusterungen. Dem letzten Jahr folgend gibt es wieder die gleichen Kategorien: Alben, Graphic Novels, Gesamtausgaben, Sekundärwerke und Zeitschriften. Ein Sonderpreis geht an das „Comeback des Jahres“. Natürlich darf auch die Liste der meistgeklickten Beiträge des Jahres nicht fehlen. An dieser Stelle ein großes Dankeschön an alle Leser*innen: Die Zugriffszahlen sind um rund 20% gegenüber 2020 gestiegen!

Album des Jahres

Der beste Comic des Jahres kommt für mich aus Deutschland: Ralf König hat sich einen Jugendhelden vorgenommen und ihm nicht nur Brustwarzen verpasst, sondern auch eine sehr liebevolle Hommage verfasst: Zarter Schmelz übernimmt alle klassischen Elemente von Lucky Luke, twisted aber das gesamte Setting. Seine schwulen, knollennasigen Cowboys, die lila Kühe und Calamity Jane sind so großartig, dass sie zurecht den Mainstream erobert haben.

Cover König Zarter Schmelz
© Lucky Comics 2021 – All Rights reserved by Ralf König/Egmont Ehapa Media

Eine ganz andere Interpretation des „Wilden Westens“ kommt von Jean Dufaux und Rubén Pellejero. Ihr Regenwolf stellt eine Frau als Hauptakteurin in den Mittelpunkt einer Rachegeschichte. Blanche McDell steht im Schnittpunkt von Liebesgeschichten, Mythologie, Rassismus und Männlichkeitswahn. Obwohl die Vermischung dieser Themen in eine langweilige Political Correctness-Definition abgleiten könnte, ist den Autoren hier eine perfekte, spannende Geschichte ohne erhobenen Zeigefinger mit toller visueller Umsetzung gelungen.

Auffällig in diesem Jahr ist die Anzahl der Western unter den Top 5: Nur Mademoiselle J. von Yves Sente und Laurent Verron konnte sich auf Platz 3 dazwischenschieben. Die ursprünglich als Nebenfigur in einem Spirou-OneShot eingeführte wissbegierige junge Dame hat nun ihre eigene Reihe und bringt Zeitgeschichte in dem typischen, leicht modernisierten Marcinelle-Stil an ihre Leser*innen. Sie atmet gleichzeitig den Charme der 30-er Jahre als auch den des Aufbruchs in eine gleichberechtigtere Welt!

Einer meiner Lieblingszeichner ist Patrick Prugne. Obwohl er sich durchaus auch schon anderen Themen zugewandt hat, sind seine Geschichten aus dem westlichen Amerika/Kanada am besten. In Tomahawk erzählt auch er die Geschichte einer „Rache“, allerdings eingebettet in viel Natur und die spannende Vorgeschichte zu einem erbarmungslosen Krieg. Fast jedes Panel könnte gerahmt an einer Wand hängen!

Platz 5 geht an eine überlange Geschichte, die einen Helden einer Serie nach sehr langer Zeit gealtert und vollkommen verändert zurückbringt: Wenn der Tiger erwacht erzählt die Geschichte von Chinaman, seiner Posttraumatischen Belastungsstörung aufgrund der Schrecken des Sezessionskrieges und die Annäherung zwischen ihm und seinem Sohn. Serge Le Tendre und Olivier TaDuc sind nach fast 15 Jahren zu ihrer einstigen Erfolgsserie zurückgekehrt, haben alle Elemente übernommen aber sehr konsequent weitergeführt. So ist eine eigenständige Geschichte daraus geworden, die für sich alleine stehen könnte, aus ihrer „Vergangenheit“ aber noch mehr gewinnt.

Die besten Graphic Novels in 2021

Wie auch bei den Comics war es ein gutes Jahr für Graphic Novels. Die Platzierungen:

Ohne jeden Zweifel geht der erste Rang an Die Bestie von Zidrou und Frank Pé. Ihre Interpretation des Marsupilamis ist so faszinierend anders, dass eigentlich jede*r einen Blick hineinwerfen sollte. Einerseits ist die Story „erwachsen“ geworden: ein verängstigtes, wildes Tier kommt mit einem Schiff als Ware für den Zoo nach Brüssel. Es kann nichts anderes tun, als seiner Natur zu folgen, und sich zu befreien. Dazu passt die langsam wachsende, auf Vertrauen beruhende Beziehung zu einem kleinen Jungen, der seinerseits Ausgestoßener ist. Die Zeichnungen von Pé sind – wie immer – allesamt kleine Kunstwerke!

Zidrou/Frank Pé – Die Bestie 1 Cover

Platz 2 geht an Das Susan-Problem aus der Neil-Gaiman-Bibliothek. P. Craig Russel und Paul Chadwick haben Kurzgeschichten von Gaiman für das Medium Comic aufbereitet und zusammen mit Scott Hampton gezeichnet. Sie beweisen nicht nur, dass Stoffe von Gaiman wie auch die von Ray Bradbury perfekte Startpunkte für Comic-Kleinode sein können, sondern auch, dass sogar literaturtheoretische Abhandlungen so umgesetzt werden können. Der Preis geht aber auch an die Übersetzung und die vielen editorischen Hinweise für Nicht-Engländer*innen!

Beate und Serge Klarsfeld sind die Nazijäger! Was mit einer Ohrfeige begann, endete mit der erst durch die Beiden möglichen gerichtlichen Verurteilung von vielen Nazi-Kriegsverbrechern. Die spannende Geschichte, die Rückschläge aber auch die unermüdliche Aufopferung im Kampf für Gerechtigkeit und dadurch erst mögliche Freiheit schildern Pascal Bresson und Sylvain Dorange!

Platz 4 geht an die in diesem Jahr beendete Gesamtausgabe von Omaha, eine erotische Soap-Opera, die weit weg ist von jedem Schmuddelfaktor! Kate Worley (und nach ihrem Tod Jack Vance für den Abschluss der Serie) hat eine Geschichte im Schnittpunkt von Korruption, Machtmissbrauch, gesellschaftlicher Veränderung und Beziehungsproblemen geschrieben, die auch die Freuden des Sex nicht auslässt. Reed Waller, anfangs noch ihr Ehemann, später von ihr geschieden, hat das Ganze im Furry-Stil graphisch umgesetzt und damit einen der Klassiker des Independent-Comic gezeichnet. Auch heute noch lesenswert!

Der Reigen wäre nicht vollständig ohne die Kinder der Resistance! Auch hier ist die Geschichte an sich nicht neu, die Veröffentlichung in Deutschland ließ aber auf sich warten. Es gab im vergangenen Jahr einige Geschichten über die Resistance, das Schicksal von Kindern unter der deutschen Besatzung und die zaghaften, teils gescheiterten, teils erfolgreichen Versuche der Gegenwehr. Dazu zählen etwa die Bände von Émile Bravo oder Kris/Bailly. Die Kinder der Resistance von Vincent Dugomir und Benoît Ers beschreiben die anfängliche Naivität und Emotionalität und die Entwicklung hin zu wirklichem Widerstand aber auch wirklicher Gefahr für die Handelnden.

Die besten Gesamtausgaben in 2021

Trara! Platz 1 im Bereich der Gesamtausgaben geht an Caroline Baldwin! Schreiber & Leser fährt dabei zweigleisig: Einerseits erscheinen die bereits früher auf Deutsch veröffentlichten Geschichten (1 bis 16) in vier Sammelbänden von denen 3 bereits erschienen sind, andererseits veröffentlichen die Hamburger die bisher nicht erhältlichen Bände 17 bis 19 in Einzelbänden. Für das kommende Jahr sind dann noch Specials geplant! Die Heldin der in einer modernen Klaren Linie gezeichneten Geschichten von André Taymans ist tough, hat ein Alkoholproblem, ein selbstbestimmtes Sexualleben und ist HIV positiv. Das hält sie aber nicht davon ab, auf der ganzen Welt zu ermitteln und immer auf der Seite der Schwachen zu stehen. Zum Serienkompass.

Cover Caroline Baldwin Integrale 1

Platz 2 geht an Jerry Spring. Der „Vater des europäischen Westerncomics“ war vor Jahren fast komplett in einer schwarz-weißen Integralausgabe erschienen. Nun hat der All-Verlag die erste farbige komplette Ausgabe gestartet, die nicht nur alle von Jijé gezeichneten Geschichten beinhalten wird, sondern auch den letzten Band von Festin und Franz, der in 2021 erstmals auf Deutsch im ZACK erschienen ist. Ohne Jerry Spring hätte es vermutlich weder Blueberry noch Comanche gegeben.

421 ist eine Serie über einen Geheimagenten  von Stephen Desberg und Eric Maltaite. Der Held ist aber nicht nur von James Bond beeinflusst, sondern übernimmt auch Elemente von Indiana Jones und schreckt sogar vor Zeitreisethematiken nicht zurück. Erstaunlicherweise hat diese klassische Geschichte aus dem Spirou-Magazin in der Vergangenheit keinen Weg nach Deutschland gefunden. Das Integral präsentiert daher deutsche Erstveröffentlichungen: Platz 3!

Platz 4 teilen sich gleich drei Integrale von klassischen ZACK-Serien. Die Collector’s Edition von Greg/Hermanns Comanche war ein Meilenstein der jetzt in Sammelbänden angeboten wird. Édouard Aidans und Yves Duval haben mit Sven Janssen einen Abenteurer kreiert, der die ökologischen Aspekte in den Vordergrund stellt und bereits früh kolonialistische Missstände und Hunger in Beziehung gesetzt hat. Ebenfalls besonders ist, dass er alles zusammen mit Frau und kleinem Kind erlebt. Schließlich kommt auch die Collector‘s Edition von Michel Vaillant von Jean und Phillippe Graton erstmalig auf den deutschen Markt. Alle Kurzgeschichten und ungekürzten Geschichten in 20 Hardcovern mit einheitlichem Rückendesign und vielen editoriellen Notizen.

Die besten Sekundärwerke in 2021

Dieses Jahr haben es drei Werke über längst verstorbene Künstler in die Top 3 geschafft.

Das beste Werk ist mit Sicherheit der als Ausstellungskatalog entstandene aber auch perfekt solo zu genießende Band von Dr. Alexander Braun über Will Eisner. Graphic Novel Godfather führt ein in das Werk des amerikanischen Ausnahmekünstlers und beschreibt die Innovationen des Spirit sowie die Gebrauchsorientiertheit seiner Sachcomics die schließlich dazu geführt haben, dass Eisner zum Godfather der modernen Graphic Novel geworden ist. Viele Bildbeispiele  belegen den leicht verständlichen, flüssig geschriebenen und extrem informativen Text. Wenn alle Sekundärliteratur so gut lesbar wäre gäbe es nur noch Expert*innen!

Cover Braun - Will Eisner Graphic Novel Godfather

Platz 2 geht an die Fleißarbeit des Bremers Kai Stellmann und Science Fiction Pop Art Nick. Die im Selbstverlag erschiene Untersuchung ist nie fertig: Mit jeder neuen Auflage kommen Details hinzu. Stellmann belegt für alle Nick-Geschichten aus der Feder von Hansrudi Wäscher welche Quellen und Inspirationen eingeflossen sind und welche Absichten Wäscher damit verbunden haben könnte. Besser kann der Einblick in einen Entstehungsprozess nicht sein.

Platz drei geht erstmals an ein nicht gedrucktes Medium! Nun ja, es gibt eine kleine Begleitbroschüre, der Gewinner ist aber ein Film: Katzenjammer Kauderwelsch von Martina Fluck! Sie dreht die Annäherung eines Comic-Zeichners aus Heide – Tim Eckhorst – an die großen Söhne der Stadt, Rudolph und Gus Dirks, die in den USA Karriere gemacht haben. Katzenjammer Kids lief schlussendlich bis 2006 und ist einer der ganz großen Zeitungsstrips. 85 lohnende Minuten auf DVD!

Die besten Zeitschriften in 2021

Überraschenderweise heißt der Seriensieger bei Zeitschriften wieder ZACK! Das Magazin feiert in 2022 das Erscheinen der ersten Ausgabe von vor 50 Jahren und profitiert nach dem Verlagswechsel zu Blattgold davon, dass Verleger und Chefredakteur Georg F. W. Tempel nun frei schalten kann. Mit Blechschildern und Pins sowie einer neuen Albenreihe nur für Abonnent*innen expandiert der Kosmos. ZACK bringt sowohl erneuerte Klassiker wie Rick Master, Michel Vaillant oder Tanguy & Laverdue wie auch hochklassige europäische Comic-Kunst wie Amoras, Rani oder Millenium Saga! Die bei euch am häufigsten angeklickte Rezension war im Übrigen die Nummer 264.

Cover ZACK 267

Platz zwei geht an ein immer noch innovatives Medium aus den Niederlanden: StripGlossy präsentiert viermal im Jahr eine Mischung aus Sekundärliteratur, Interviews und aktuellen Comics mit und über Comicschaffende aus dem niederländisch/flämischen Raum! Definitiv das Highlight des Jahres war die Doppelnummer 21/22 über Suske en Wiske die sogar in eine zweite Auflage gehen musste!

Die Reddition ist wohl die bekannteste und anerkannteste Sekundärzeitschrift Deutschlands. Zweimal im Jahr erscheint eine Nummer, die sich tiefschürfend mit einem Thema beschäftigt. Durch die gewählte Breite der Artikel kann das gewählte Gebiet oder der Künstler im Fokus vielseitig beleuchtet werden. 2021 ging es um Tillieux und Comics und Musik (Rezension folgt).

Comeback des Jahres

Wie immer an dieser Stelle eine lobende Erwähnung eines – oft unerwarteten – Comebacks einer Serie oder eines Einzeltitels. Dieses Jahr fällt die Wahl schwer und daher sind es dieses Jahr zwei ganz unterschiedliche Gewinner, die es zu feiern gilt: Einerseits hat der Taschen Verlag gerade mit der Marvel Comics Library ein neues Projekt gestartet, das Meilensteine in einem XL-Format wieder zugänglich macht. Band 1 Spider –Man 1962 – 1964 ist gerade erschienen (und mittlerweile auch besprochen). Neben einer informativen Einführung präsentiert der limitiert Prachtband den unvergesslichen Run von Stan Lee und Steve Ditko über den wohl untypischten Superhelden aller Zeiten! Noch nie habe ich Spider-Man in diesem Format genießen können!

Cover Spider-Man Vol. 1

Andererseits hat Georg F. W. Tempel damit begonnen, bisher unentdeckte Perlen der ZACK-Geschichte aufzubereiten. Johnny Focus von Attilio Micheluzzi ist so eine! Vier schwarz-weiße Stories über den Reporter sind in Der Weg nach Mombasa bereits erschienen, eine weiter kommt in der diesjährigen Aprilausgabe des ZACK. Durch die fehlende Kolorierung sind die Fähigkeiten des Zeichners unverfälscht sichtbar. Erstaunlich, dass es noch so vieles von dieser Serie auf Deutsch zu entdecken gäbe.

Cover Johnny Focus - ZACK Spezial 2

Eure Lieblinge in 2021

Die Spitzengruppe der meistgeklickten Beiträge ist sehr dicht beieinander: Der Gewinner ist der Serienkompass zu Rani, dicht gefolgt von Caroline Baldwin Band 1 und dem dazugehörigen Serienkompass!

Dahinter kommt eine ebenfalls dicht gedrängte Gruppe, angeführt von Johnny Focus: Serienkompass Bruno  Brazil, Lucky Luke 99 und das Programm des All-Verlages.

Will Eisner von Alexander Braun, die Berichte über Asterix 39 und über den Abschluss der Michel Vaillant Reihe im MOSAIK-Verlag komplettieren die Top 10.

comix-online Reporter
Immer für euch unterwegs

Was bleibt?

Auch dieses Mal verbleibe ich mit den besten Wünschen für ein tolles, erfolgreiches und von Gesundheit geprägtes Jahr! Stay safe and healthy! Ich freue mich über eure Kommentare.

© aller Abbildungen bei den jeweiligen Verlagen und Künstler*innen wie in den Linkzielen genannt.

Kris/Bailly – Ein Sack voll Murmeln

Nach den Erinnerungen von Joseph Joffo

Story: Kris
Zeichnungen: 
Vincent Bailly
Originaltitel: 
Un sack de billes

Bahoe books
Hardcover | 128 Seiten | Farbe | 24,00 €
ISBN: 
978-3-903290-62-4

Cover Ein Sack voll Murmeln

Immer wieder stellt sich die Frage, wie Geschichte Kindern und Jugendlichen vermittelt werden kann. Während meiner Schulzeit erfolgte der Wechsel von auswendig zu lernenden Jahreszahlen und Herrschern zu Quellentexten und einer Fokussierung auf den Alltag der von Geschichte Betroffenen. Damit wurde das ganze Thema schon greifbarer, blieb aber immer noch trocken. Seit einiger Zeit nun gibt es immer mehr Versuche, Geschichte bildlich im Comic darzustellen. Dabei haben sich im Wesentlichen zwei Richtungen etabliert: Stadtgeschichte in Zusammenarbeit mit Museen und Biographien.

Eine Jugend auf der Flucht

Joseph Joffo (1931 – 2018), seine Geschwister und Eltern lebten in Paris. Sie hatten ein Auskommen durch das Friseurgeschäft des Vaters, die Kinder gingen zur Schule und spielten Murmeln. Diese Idylle wurde durch den Überfall der Deutschen auf Frankreich und die Besetzung jäh beendet. Auch in Frankreich wurden Juden und Jüdinnen entrechtet. Sie durften keine Berufe mehr ausüben, nicht zur Schule gehen, mussten den Judenstern tragen und wurden schließlich zusammengetrieben und deportiert.

Ein Sack voll Murmeln page 3

Ein Sack voll Murmeln beschreibt aus der Sicht des Jungen die ersten Erfahrungen mit den neuen Regeln, die Veränderung von einigen Mitschülern und die generelle Stimmung. Die Familie beschließt in mehreren Zweier-Gruppen in die „freie“ Vichy-Zone zu fliehen. Joseph und sein Bruder bekommen etwas Geld und müssen sich durchschlagen. Kris setzt Joffos Erinnerungen sehr behutsam in Bildaufteilungen um. Es geht ihm nie um Anklage, die Beschreibung steht im Vordergrund. Und so passieren neben schrecklichen, angsteinflößenden Dingen auch lustige, mutmachende Sachen.

Die Familie trifft sich schließlich nach individuellen Erlebnissen in Marseille, muss aber noch mehrmals den Ort wechseln und auf der Hut bleiben, da auch das Vichy-Frankreich Menschen jüdischen Glaubens an Deutschland ausliefert. Die in Frankreich als Schullektüre genutzten Erinnerungen geben einen natürlich subjektiven, aber sehr eindringlichen Einblick in die Gefühlswelt eines kleinen Jungen und an die Anforderungen, die plötzlich gestellt worden waren. Die Schrecken des Krieges und der Shoah sind für jede*n unterschiedlich, aber diese hier tragen zur kollektiven Erinnerung bei!

Kris/Bailly page 6

Zeichnungen, die Eindruck hinterlassen

Vincent Bailly zeichnet nicht nur, er koloriert auch mit Aquarellfarben. Dadurch entstehen Bilder, die nicht so fröhlich wirken wie Comics aus Spirou oder Tintin. Die Gesichter sind schroffer, wirken zugleich aber teilweise realistischer. Zudem sind viele Szenen aus einer Froschperspektive angelegt, die die Wirkung auf Kinder verdeutlicht.

Die Seiten sind einerseits klassisch mit viereckigen Panels angelegt. Die variierende Zahl und Breite der Streifen und auch die vielen Überspannungen machen das Layout aber trotzdem sehr abwechslungsreich. Auch das Tempo wechselt von zeitüberbrückenden Sequenzen zu einer schnellen Abfolge, wenn nötig. Trotz aller Perspektivwechsel bleiben die Körper aber stimmig und wechseln nicht ins Karikatureske.

Kris/Bailly page 7

Ein Comic mit Anspruch!

Bahoe books aus Wien ist kein typischer Verlag. Sie machen und verlegen Bücher und Comics, weil sie etwas verändern wollen in Richtung einer nicht rassistischen, nicht sexistischen und gerechten Welt! Sie haben aber gelernt, dass die beste Theorie nichts nützt, wenn keiner sie versteht oder kennt, und versuchen daher wo immer es geht auch früher verpönte Themen wie Fußball anzugehen. Ein Schwerpunkt sind dabei auch Erinnerungen von Überlebenden oder Geschichten aus der Resistance.

Joseph Jotto

Allen diesen Geschichten gemein ist, dass es hier nicht um einen erhobenen Zeigefinger geht! Den Leser*innen wird es überlassen, eigene Schlüsse zu ziehen. Da das Ganze zudem mit einer hohen Qualität der Geschichten und Zeichnungen einhergeht gibt es sogar zwei Gründe, die Comics zu lesen! Es empfiehlt sich aber, sie nicht nur den Kindern und Enkeln zu schenken, sondern auch gemeinsam darüber zu sprechen.

Dazu passen Jona Lewie mit „Stop the Cavalry“ und ein Cidre.

© der Abbildungen Futuropolis 2017, bahoe books 2021

Dugomir/Ers – Die Kinder der Resistance 2

Erste Repression

Story: Vincent Dugomir
Zeichnungen: Benoît Ers

Originaltitel: Les Enfants de la Résistance – Premiéres répressiones

bahoe books
Hardcover | 60 Seiten | Farbe | 16,00 € |
ISBN: 978-3-903290-45-7

Dugomir/Ers - Kinder der Resistance 2 Cover

Es gibt viele Werke über den Zweiten Weltkrieg, über Schlachten, Verfolgung Andersdenkender, die Shoah, aber auch über die Auswirkungen auf sogenannte Zivilisten. In dieser Serie, die im besetzten Frankreich spielt, geht es um Kinder, die die deutsche Besetzung nicht hinnehmen wollen und anfangen, Aktionen zu unternehmen, eben die Kinder der Resistance!

Nichts bleibt ohne Folgen

In Band 1 hatten Francois, Eusèbe und die aus Deutschland geflohene Lisa angefangen, ihrem Frust über die Deutschen Ausdruck zu verleihen. Nicht nur, dass sie auf alten Tapetenresten mit einer Kinderdruckerei antideutsche Flugblätter hergestellt hatten, sie hatten auch einen folgenschweren Sabotageakt auf einen Schifffahrtskanal verübt. Die Deutschen waren nicht nur in diesem kleinen Städtchen mit ersten Aktionen konfrontiert, sondern hatten dieses Verhalten mehr oder weniger überall im besetzten Frankreich feststellen müssen.

Kinder der Resistance 2 page 5

Es gab aber auch eine sehr große Gruppe der Franzosen und Französinnen, die mit Marshall Petain und der Kollaboration sympathisierten und den von General de Gaulle ausgerufenen Widerstandskampf zutiefst ablehnten. Jede an Aktionen beteiligte Person musste also doppelt vorsichtig sein.

Aus dem nahegelegenen Lager für Kriegsgefangene gelingt immer mal wieder Einzelnen die Flucht und ein erstes Netzwerk bildet sich auch hier, um die Soldaten außer Landes zu schaffen. Als es darum geht, einem sogenannten Senegalfranzosen zu helfen, wird die Aktion entdeckt und die Deutschen können erstmals zeigen, dass sie kein Pardon geben werden. Es ist die erste Repression.

Dugomir/Ers - Kinder der Resistance 2 page 4

Zeichnungen für Jung und Alt

Die Zeichnungen von Benoît Ers müssen weiterhin zweierlei Ansprüche befriedigen. Einerseits sind bei diesem Thema natürlich viele Erwachsene als Leser*innen zu erwarten, andererseits ist die Hauptzielgruppe wesentlich jünger und darf nicht verschreckt werden. Es geht also darum, Repression und Gewalt so darzustellen, dass sie mit unterschiedlichem Alter und Vorwissen unterschiedlich aufgefasst werden kann. Es geht nicht um Horror oder das Schüren von Angst als solcher, es muss aber klar werden, dass die Folge des Entdecktwerdens der Tod ist.

Dabei hält er sich im Wesentlichen an ein klassisches Streifen-Layout, unterbricht es aber von Zeit zu Zeit, um Umgebung besser platzieren zu können. Oft ist der zeitliche Abstand zwischen den einzelnen Panels relativ groß, unterstrichen durch Perspektivwechsel. Er kann aber auch die schnelle Abfolge durch mehrere sehr schnell folgende Ausschnitte darstellen. Ers bewegt sich damit eindeutig im oberen Feld der aktuellen Zeichner*innen.

Kinder der Resistance 2 page 6

Die Empfehlung

Vincent Dugomir präsentiert im Anhang wieder einiges an Material, dass er bei dem Schreiben des Szenarios verwendet hat, unter anderem über die „Senegalfranzosen“. Mit diesem Begriff waren afrikanische Soldaten bezeichnet worden, die in den Reihen der französischen Armee gekämpft hatten. Sie galten den Deutschen als minderwertig und waren daher noch weniger geschützt als andere Gefangene. Unter Hilfe des Roten Kreuzes war versucht worden, die Betroffenen außer Landes zu schaffen. Details würden dem Comic die Spannung nehmen, sie sind aber im Anhang erläutert.

Erneut also ein Comic, der nicht nur eine spannende, fast vergessene Geschichte erzählt, sondern gleichzeitig viele Fakten einbaut, im Anhang erläutert und somit auch Wissen vermittelt. Vielleicht erreicht man mit dieser Form wesentlich mehr junge Laute als mit einem doch oft trockenen Geschichtsunterricht. Wegen der gut erzählten Geschichte, den sich entwickelnden Figuren und ihren Beziehungen untereinander aber auch „einfach so“ gut lesbar als coming-of-age! Insofern nicht weiter verwunderlich, dass die Serie auf der Besten-Liste des Buchhandels aufgetaucht ist.

Startvignette Kinder der Resistance 2

Dazu passen Johannisbeerschorle und “Spirit of Freedom” von Christy Moore.

© der Abbildungen Éditions du Lombard (Dargaud-Lombard S.A.) 2016 by Ers, Dugomir, lelombard.com / bahoe books 2021

Galic/Kris/Rey – Ein Match für Algerien

Die Geschichte der ersten Fußballnationalmannschaft Algeriens

Story: Bertrand Galic, Kris
Zeichnungen: Javi Rey

Originaltitel: Un maillot pour l`Algerie

bahoe books

Hardcover | 136Seiten | Farbe | 24,00 € |

ISBN: 978-3-903290-46-4

Cover Ein Match für Algerien

Es ist wieder Fußball, sogar mit Zuschauer*innen im Stadion! Allerdings ist sowohl die erlaubte Zahl weit entfernt von der eigentlichen Stadionkapazität, andererseits hat sich in den meisten teilnehmenden Ländern noch keine wirkliche euphorische Atmosphäre entwickelt. Was aber zu beobachten ist, ist dass das Spiel politischer geworden ist: Greenpeace-Gleitschirme und niederkniende Spieler sorgen für diesen move sowohl von außen als auch von innen. Genau in diesen Kontext passt die Graphic Novel über die Anfänge der algerischen Fußballnationalmannschaft!

Sportpolitik oder Sport und Politik

Algerien war 1958 französisches Territorium, seine Einwohner*innen französische Staatsbürger*innen, wenn auch mit unterschiedlichen Rechten. Nach Ende des Zweiten Weltkrieges hatte es aber immer mehr Spannungen gegeben und mehrere Befreiungsbewegungen waren aktiv, um für die Unabhängigkeit des nordafrikanischen Landes zu kämpfen. Am stärksten war die FLN, die neben kämpfenden Einheiten auch eine komplette politische Führung besaß. Ein Match für Algerien erzählt von dem Coup der FLN, den Sport für ihre Zwecke einzusetzen und die Stimmung in der Weltöffentlichkeit so zu beeinflussen, dass eine politische Lösung gefunden werden konnte.

Ein Match für Algerien page 3

Es gab Ende der 50-er Jahre viele große Fußballspieler aus Algerien in den französischen Klubs, sogar in der französischen Nationalmannschaft. Die FLN hatte einige davon kontaktiert und überzeugt, in einer geheimen Aktion im April 1958 ihre Vereine zu verlassen, um eine algerische Nationalmannschaft aufzubauen. Wohlgemerkt, eine Mannschaft für einen Staat, der gar nicht existierte! Dementsprechend waren Länder, die ein offizielles Spiel mit dieser Mannschaft zuließen von Sanktionen des Weltfußballverbandes bedroht.

Aber auch die in Frankreich gefeierten Spieler mussten sich umstellen. Waren die Gegner früher hochklassig gewesen, spielten sie nun gegen drittklassige Mannschaften und die Anfahrten in einem kleinen Bus dauerten Tage. Auch die Familien hatten darunter zu leiden. Die Graphic novel erzählt aus Sicht eines der Spieler, Rachid Mekloufi, die Flucht aus Frankreich, natürlich die Spiele, aber auch von den Konflikten untereinander und von der politischen Verantwortung und dem Druck seitens der FLN, die täglich Tote in den Gefechten beklagen musste, bis hin zur tatsächlichen Erlangung der Unabhängigkeit.

Emotionen im Bild

Javi Rey erzählt die Geschichte der Fußballrebellen in sehr emotionalen Bildern: Gesichter in Großaufnahme, Massenszenen und Situationen, die den Angstschweiß förmlich riechen lassen. Die Emotionen von Sportlern sind erwartbar: Freude oder Enttäuschung gepaart mit Erschöpfung. Aber durch die Aufgabe, für Verständnis und Unterstützung zu sorgen kommt ein weiterer Aspekt hinzu, denn auch ein Sieg kann eine Enttäuschung auslösen. Dieses Wechselspiel zwischen den Blickwinkeln macht einen großen Teil des Reizes aus.

Ein Match für Algerien pages 8, 9

Was auf den ersten Blick wie ein sehr starres Raster aussieht, entpuppt sich im Verlauf der Geschichte als sehr flexibles Gerüst. Panel-Umrandungen verschwinden, Panels bekommen vielartige Formen und Größen und auch die Reihen verschwinden teilweise. So wird keine der vielen Seiten langweilig. Dazu kommen dann auch noch die Stimmungen der verschiedenen Orte. Das westeuropäische Frankreich, der Norden Afrikas, der Irak oder schließlich der Ostblock unterliegen (damals) ganz unterschiedlichen Ideologien, haben natürlich andere Architekturen und gesellschaftlichen Routinen. Obwohl nicht im Vordergrund, sind diese Details doch ein wesentlicher Bestandteil der Stimmigkeit eines Werkes.

Fazit

Das Match für Algerien schafft es, die damalige politische Lage in einem groben Überblick darzustellen und die Bedeutung der Mannschaft für den Erfolg in den Unabhängigkeitsbestrebungen zu beleuchten, gleichzeitig aber auch spannende Sportreportagen zu integrieren und menschliche Konflikte zu beleuchten. Dementsprechend ist der Comic nicht für Politniks, die ihre eigene Einschätzung oder ablehnende Haltung bestätigt sehen wollen. Er ist für Leser*innen, die sich für Entwicklungen interessieren, die mit Menschen passieren, also für typische Graphic Novel Leser*innen aber auch für Sportinteressierte!

Ein Match für Algerien page 12

Für alle, die etwas tiefer einsteigen wollen, befinden sich im Anhang genügend Informationen, die die Themen algerische Unabhängigkeit aber auch französischer/algerischer Fußball tiefer beleuchten. Vielen Dank dafür. Der Comic kommt im festen Hardcover daher auf leicht mattem, festem Papier und bietet daher auch rein haptisch einen Genuss.

Dazu passen ein ungekühltes Stadion-Lager eurer Wahl und „You’ll never walk alone“, das in diesem Zusammenhang eine ganz andere Bedeutung bekommt.

© der Abbildungen Dupuis, 2016 by Rey (Javi), Galic (Bertrand), Kris / bahoe books 2021

Dugomir/Ers – Die Kinder der Resistance 1

Erste Aktionen

Story: Vincent Dugomir
Zeichnungen: Benoît Ers

Originaltitel: Les Enfants de la Résistance – Premiérs actions

bahoe books

Hardcover | 60 Seiten | Farbe | 16,00 € |

ISBN: 978-3-903290-32-7

Cover Dugomir/Ers Kinder der Resistance 1

Lange standen die Gräuel der Deutschen im besetzten Osten und der Holocaust im Comic-Fokus der Auseinandersetzung von Überlebenden, etwa Maus von Art Spiegelman oder auch Wannsee. In den letzten Jahren haben sich Geschichten aus dem besetzten Frankreich, Belgien und der Niederlande dazugesellt, die natürlich auch den Holocaust zum Thema haben (müssen), den Alltag unter der Besetzung und den Widerstand aber stärker in den Mittelpunkt stellen. Dazu gehören etwa Es war einmal in Frankreich (auf Deutsch im ZACK),  Der Krieg der Knirpse bei Panini, Überleben in Dachau bei bahoe books, die Spirou-Bände von Emile Bravo oder die Kriegsgeschichten von Eric Heuvel bei Kult. In diese Reihe gehören auch die Kinder der Resistance.

Die Besetzung Frankreichs aus Kinderaugen

Die Story beginnt mit zwei spielenden Jungen in einer kleinen französischen Stadt, die den Vorbeimarsch deutscher Soldaten zu ignorieren versuchen. Obwohl sie natürlich neugierig sind, wollen sie doch nicht zeigen, dass sie Angst haben. Dieser kleine Funke von Aufmüpfigkeit scheint sich bei den Erwachsenen allerdings nicht zu zeigen. Sie sind froh, am Leben zu sein und glauben, dass Marshall Petain, der Held Frankreichs aus dem Ersten Weltkrieg, seine Sache schon gut machen wird.

Kinder der Resistance Band 1 page 3

Auch die deutschen Besatzer scheinen anfangs bemüht, die Stimmung nicht kippen zu lassen. Mit der Zeit wird aber immer deutlicher, dass die Deutschen die Franzosen verachten und Brutalität nur aus taktischen Gründen vermeiden. Auch das nicht besetzte Frankreich ist weniger ehrenvoll als erhofft und die Ansprachen des Generals de Gaulle aus dem Exil verbreiten sich ebenfalls. Trotz allem liegt immer noch eine bleierne Schwere über dem Städtchen.

Die beiden Jungen vom Anfang und ein geflüchtetes Mädchen mit einer ganz eigenen Geschichte wollen die Situation aber nicht tatenlos hinnehmen und fangen an, den Deutschen immer größere Streiche zu spielen. Da das allerdings überall in Frankreich passiert, ruft es Reaktionen bei den Deutschen hervor. Vincent Dugomir hat eine mögliche Keimzelle der Resistance beschrieben. Viele Kinder und Jugendliche hatten keine Chance zu lernen, dass Widerstand tödlich sein kann, hatten keine Ahnung von klandestiner Organisation oder Rückzugsmöglichkeiten. Sie hatten es einfach nicht mehr ausgehalten, nichts zu tun. Genau diese Stimmungslage wird hier beschrieben!

Artwork für alle Generationen

Kinder der Resistance 1 page 4

Die zeichnerische Umsetzung eines Themas, dass natürlich auch Erwachsene zeigt und handeln lässt, aber aus der Sicht von 12-jährigen geschrieben ist, ist schon per se eine Herausforderung. Wenn dazu aber noch die Notwendigkeit kommt, Gewalt, Brutalität und Hoffnungslosigkeit einzubeziehen, wird die Aufgabe noch viel schwieriger. Benoît Ers bewältigt das aber meisterhaft. Seine Zeichnungen sind nicht zu kindlich und freundlich, durch seinen Stil werden die Personen aber auch nicht hyperrealistisch dargestellt. Bildkompositionen fließen ineinander und deuten damit an, dass mehrere Sachen gleichzeitig oder in Bezug aufeinander stattfinden.

Die Darstellungen der Deutschen deuten bei einigen Szenen an, dass hier Menschen tätig werden, die sich und ihre Emotionen nicht im Griff haben und aus purer Aggression und Mordlust bestehen. Ers zeichnet aber bewusst nicht alle Besatzer so, macht Unterschiede, allerdings auch zum grausamen hin, denn die Schlimmsten sind die Gefühlskalten.

Die Darstellung von den unterschiedlichen Städten, relativ unberührt oder fast komplett zerstört, sowie von den verschiedenen Stationen der Petain-Verehrung schaffen ein stimmiges Ambiente und das Gefühl der Ohnmacht in Paris unter der Besatzung, aber auch der unterschiedliche Glaube der Erwachsenen von „es wird schon gut gehen, wenn wir ruhig sind“ bis hin zu „ich muss etwas tun“ kommt deutlich rüber.

Die Empfehlung

Basierend auf diesem ersten Teil wird schon deutlich ersichtlich, warum die Reihe in ihrem Ursprungsland so einen Erfolg gehabt hat. Die sechsstelligen Verkaufszahlen sind auch dort nicht mehr üblich! Umso erstaunlicher ist es, dass sich in Deutschland bisher kein Verlag gefunden hatte. Deutsche Täter passen auch 75 Jahre nach Kriegsende immer noch nicht so wirklich in die Programme. Es ist daher erneut das Verdienst von bahoe books, einem Kollektiv aus Österreich, diese Reihe zu veröffentlichen.

Kinder der Resistance 1 page 7

Es wäre zu wünschen, dass die Kinder der Resistance auch hierzulande ein großes Publikum finden werden. Ich kann mir vorstellen, dass die weitere Geschichte noch schwieriger werden wird wenn Idealismus und Realität, Naivität und Organisation aufeinanderprallen werden. Die Reihe wird sechs Bände umfassen. Für alle, die sich dem Thema etwas vertiefter nähern wollen gibt es auch einen Anhang über die „echten“ Kinder der Resistance deren Schicksale hier literarisch zusammengefasst und beispielhaft dargestellt werden.

Die Geschichte des Zweiten Weltkrieges ist mittlerweile kaum noch „hörbar“ da fast alle Zeitzeug*innen verstorben sind. Trockene wissenschaftliche Abhandlungen erreichen heute niemanden mehr und so sind Comics ein probates Mittel: Weniger flüchtig als ein Film aber deutlich anschaulicher als reiner Text.

Dazu passen Johnny Cash und Joe Strummer mit ihrer Interpretation des „Redemption Song“ und eine selbstgemachte Zitronenlimonade.

© der Abbildungen Éditions du Lombard (Dargaud-Lombard S.A.) 2015 by Ers, Dugomir, lelombard.com / bahoe books 2020

Gautier/Oger – Überleben in Dachau

Überleben in Dachau

Story: G. P. Gautier
Zeichnungen: 
Tiburce Oger

Originalausgabe: Mijn Oorlog – van La Rochelle tot Dachau

Bahoe books
Hardcover | 86 Seiten | Farbe | 19,00 €
ISBN: 
978-3-903290-20-4

Nun hat es der Titel wie von mir gehofft tatsächlich anlässlich des 75. Jahrestages der Befreiung geschafft, auf Deutsch zu erscheinen. Ein deutscher Verlag ist es allerdings nicht geworden. Die in Wien beheimateten Bahoe books haben sich spezialisiert auf revolutionäre Themen und setzen dabei verstärkt auch auf Comics. Ein Schwerpunkt ist dabei die Auseinandersetzung mit dem Faschismus und dem Widerstand.

Insofern passen die Erinnerungen von Guy-Pierre Gautier aus mehreren Gründen perfekt in das Programm: Gautier war Mitglied des sozialistisch-kommunistischen Flügels der französischen Resistance und nach seiner Verhaftung politischer Insasse im Konzentrationslager Dachau. Die Geschichte beginnt mit der Auszeichnung zum Ritter der Ehrenlegion 2015. Der lange Weg dorthin wurde aufgezeichnet und grafisch umgesetzt durch den bekannten Comiczeichner Tiburce Oger, Enkel des Protagonisten.

Die Geschichte

Der junge Guy-Pierre wächst in La Rochelle auf und beteiligt sich schon kurz nach dem Einmarsch der Deutschen 1940 am Widerstand. Aus Botendiensten und Flugblattaktionen werden schon bald Sabotageaktionen doch viele der Beteiligten wurden damals schlichtweg verheizt und so erfolgt 1943 die Festnahme des gesamten Trupps. Zunächst sind die jungen Männer noch in Frankreich inhaftiert doch dann erfolgt die Verlegung nach Dachau und das Gräuel beginnt.

Eindrucksvoll werden die Schikanen geschildert, die mit den (Todes-)Zügen beginnen, den Foltern und Misshandlungen weitergehen und der Vernichtung durch Arbeit nicht aufhören. Gautier und Oger gelingt es, den Schrecken und den Terror exemplarisch darzustellen und dadurch sichtbar zu machen.

Auch die Befreiung selber, die Unwissenheit, ob die geflüchteten Deutschen zurückkommen würden, die erneute gesundheitspolitische begründete Kasernierung durch die Amerikaner und das Umgehen mit den KaPos werden geschildert.

Die deutschsprachige Ausgabe

Im niederländischen heißt der Titel „Mein Krieg – von La Rochelle nach Dachau“, hier wurde er auf das Überleben in Dachau reduziert. Mir gefällt der ursprüngliche besser, den auch die Zeit in der Résistance gehört zum Leben des Guy-Pierre Gautier das hier geschildert wird. Auch während dieser Zeit gab es Entscheidungen und Kritikpunkte. Der Titel lässt das nicht unbedingt erwarten.

Trotzdem ist die Graphic Novel zu empfehlen. Einerseits stehen die „Politischen“ auch heute noch gerne unter dem Vorwurf „Ihr habt es ja selbst zu verantworten“ und andererseits kann es gerade in der heutigen Situation in Deutschland nicht schaden, immer wieder zu zeigen, was passiert, wenn Nazis die Macht übernehmen.

Dazu passen No Respect mit “No nazis friend” und kalter Caro-Kaffee.

© der Abbildungen 2020 bahoe books /Rue de Sèveres, Paris, 2017, Tiburce Oger

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