Einige Genres werden immer wieder mal totgesagt und schaffen es dann doch umso überraschender, neue Inhalte zu präsentieren. Dazu gehört in gewisser Weise auch die Piratenthematik. Eigentlich schon verschwunden kam mit dem Fluch der Karibik ein Hype, der immer noch ein paar neue Geschichten ausspuckt. Während im ZACK mit Libertalia gerade eine Serie läuft, die die anarchistischen Tendenzen der Freiheit und Gleichheit betont, steht in USS Constitution, ebenfalls von Franck Bonnet, die staatliche Seite im Vordergrund. Anne Bonny dagegen präsentiert eine Frau im Mittelpunkt.
Die Frau: Subjekt oder Objekt?
Ende des 18. Jahrhunderts waren Frauen nicht gerade privilegiert. Entweder gehorchten sie den Befehlen ihres Vaters, was auch immer das sein würde, oder sie wechselten in eine neue Zwangsgemeinschaft, die Ehe. Auch wenn es heute komisch klingen mag: Noch in den 60-er Jahren konnte in Deutschland ein Ehemann seiner Frau das Arbeiten verbieten und der Tatbestand der Vergewaltigung in der Ehe wurde erst 1997 eingeführt! Natürlich gab es schon immer Frauen, die dagegen aufbegehrten: Anne Bonny war eine von ihnen!
Gab es diese Frau wirklich? Und wenn ja, stimmen alle Erzählungen über sie? Das ist im Grunde vollkommen unwichtig, denn mit ihrem Namen sind einerseits Ermutigungen für Frauen verknüpft, denen ein Vorbild bewies, dass Widerstand möglich war. Zwar endete er tödlich, aber in Würde. Und für Männer war klar, dass es Frauen gab, die sich wehren konnten und vor denen man Angst haben musste. Vielleicht hat das damals der einen oder anderen geholfen.
Franck Bonnet beginnt seine Geschichte mit der Ankunft der jungen Frau in Nassau. Sie ist zwar von dem Anwesen ihres Vaters geflohen, bleibt aber scheinbar die Alleinerbin des Vermögens. Grund genug also, sie als gute Partie an einen Piraten zu verkaufen, der auf reiche Beute hofft. Allerdings entwickeln sich die Dinge nicht so, wie gehofft. Und auch Anne muss mit den neuen Zwängen klarkommen, hatte sie doch frei sein wollen. Doch sie entwickelt sich langsam zur Wölfin der Karibik.
Piraterie ist mehr als Wasser und Kampf
Die landläufige Meinung ist immer noch, dass Pirat*innen ihre Zeit zu wesentlichen Teilen auf dem Meer verbracht haben. Das stimmt allerdings nicht unbedingt, denn die Schiffe mussten ausgebessert werden, erbeutete Ware verkauft werden und das gewonnene Geld für körperliche Freuden und Alkohol ausgegeben werden. Diese Teile kommen bei Franck Bonnet keinesfalls zu kurz.
Seine Figuren machen bei allen Tätigkeiten eine gute Figur, die Bekleidung sowohl der „einfachen Leute“ als auch der Oberschicht scheint stimmig und sowohl die karibische Atmosphäre als auch die Enge auf den Schiffen wird sehr gut wiedergegeben. Zudem ist das Layout sehr abwechslungsreich und bietet sehr schöne Doppelseiten, die aufgrund des Splitter-Überformates besonders gut zur Geltung kommen.
Eine starke Frau
Geschichten über Piraten gibt es wie Sand am Meer. Die Darstellungen schwanken zwischen unerschütterlichem Helden, Raufbold und queerem Spaßvogel. Darstellungen der Piratinnen sind dagegen wesentlich seltener. Bonnet lässt Anne Bonny zunächst als Mann verkleidet und an der Seite ihres Ehemannes auftreten. Erst aufgrund ihrer Erniedrigung entscheidet sie sich dazu, allein ihre Frau zu stehen.
Wer spannende Geschichten mit starken Frauen mag, liegt hier richtig! Die Heldin wird keinesfalls überzeichnet, es gelingt ihr auch nicht alles, sie gibt aber niemals auf. Genau diese Haltung vermittelt die ganze Geschichte: Man hat immer eine Wahl!
Dazu passen Amyl and the Sniffers mit „Big Dreams“, und ein Caribbean!
In der ZACK-Edition erscheinen Werke, die nicht unbedingt in das ZACK passen würden. Teilweise sind sie etwas zu experimentell, etwa Dr. Radar, oder haben bereits zu viele Folgen, wie etwa die Chroniken von Amoras. Es sind aber trotzdem Kleinode, die man keinesfalls ignorieren sollte!
Mehrere Zeiten und Dimensionen
Stephen Desberg ist den Leser*innen des ZACK bestens bekannt. Schon häufiger hat er verschiedene Zeitebenen verwendet um eine Geschichte, die auf Rückblicke angewiesen wäre, spannender erzählen zu können. In Die Flüsse der Vergangenheit verknüpft er diesen Kniff mit einem weiteren, denn nicht nur die Zeiten sind andere, es scheint sich gleichzeitig auch um mehrere Dimensionen zu handeln.
Andernfalls wäre es nicht erklärbar, warum die Vergangenheit einer Welt, die aussieht wie die unsere, von schrecklichen Monstern befallen sein sollte. Diese machen gemeinsame Sache mit einigen machtgierigen Menschen und schlachten alles andere ab.
Verknüpfendes Element sind magische Gegenstände, die einen Bezug zum alten Ägypten haben. Dazu kommt die namensgebende Heldin des ersten Teils: Die Diebin hat viele Namen. Und sie hat durchaus ihre eigenen Vorstellungen, welches Risiko sie einzugehen bereit ist. Hier scheint sie aber eine falsche Entscheidung getroffen zu haben und wird in Ereignisse hineingezogen, die sie nicht mehr kontrollieren kann.
Vorwiegend heiter mit gelegentlichem Splatter
Yannick Corboz ist in Deutschland ebenfalls kein Unbekannter, allerdings eher im Fantasy-Bereich tätig. Auch hier vermengt er Elemente, die Suspense zeigen und die Ungewissheit der Diebin zeigen, ob sie wohl mit ihrem Coup durchkommen würde, mit bluttriefenden Bildern. Seine Monster gelingen sehr reißerisch und angsteinflößend; man möchte ihnen keinesfalls begegnen.
Die ruhigeren Bilder – in der Serie das moderne Paris – sind mir aber lieber. Sie entsprechen dem modernen frankobelgischen gehobenen Standard und verbinden ein gewisses nostalgisches Flair mit Coolness. Dazu kommen dann die mittelalterlichen Szenen, die fast schon einem Theater des Absurden würdig wären. Die Vielzahl der Stile macht einen großen Teil des Reizes dieses Comics aus.
Abwechslungsreich!
Wer die Abwechslung liebt und schnelle Wechsel zwischen Stilen mag, ist hier definitiv richtig. Wie bei einer berühmten Süßigkeit gibt es hier nicht nur einen, sondern gleich drei Momente, die das Herz der Leser*innen höherschlagen lassen. Dazu kommt noch ein Anhang mit Personenskizzen, der ebenfalls sehenswert ist.
Wie in der ZACK.Edition üblich, gibt es auch hier eine Vorzugsausgabe mit Variantcover und limitiertem und signiertem Druck. Für 18 € mehr ein überlegenswertes Szenario!
Meine Jahresbestenliste und ein paar Worte zum Geleit
Das Jahr 2024 ist zu Ende, viele der „Errungenschaften“ leider nicht. In der Ukraine ist schon wieder ein Kriegswinter, Wahlen haben in mehreren Ländern rechtspopulistische und rechtsradikale Parteien gestärkt, deren Ziel es ist, die Demokratie zu beseitigen und trotz allen Hypes um KI gibt es natürlich immer noch kein Mittel gegen Krebs. Immerhin wurde die Welt von dem syrischen Diktator befreit, ob das neue Regime besser ist, wird sich erst noch zeigen müssen.
In der Welt der bunten Bilder wurden einige 90. und 100. Geburtstage gefeiert, viele der „großen“ Alten haben uns verlassen. Es gab aber auch einige Neuentdeckungen.
Immer für euch unterwegs
Die Zugriffszahlen für comix-online konnten gehalten werden: Erneut mehr als 100.000 direkte Zugriffe auf einzelne Artikel, also ohne die Startseite! Vielen Dank für dieses Vertrauen! Auch wenn die Seite längst „erwachsen“ geworden ist, besteht doch immer die Möglichkeit etwas zu verbessern. Ich freue mich daher auf Euer Feedback. Persönlich habe ich wieder als Übersetzer für die redaktionellen Seiten im zweiten Band der Zentauren sowie der Sammy & Jack-Integral-Reihe gewirkt, für Nicky Saxx auch den Comicteil übersetzt und diverse Artikel im ZACK sowie erstmals in der Sprechblase veröffentlicht.
Die besten Comics
Der beste Comic kommt für mich in diesem Jahr aus Deutschland: Gevatter von Schwarwel beschreibt schonungslos den Kampf mit der Depression und der Umwelt. Ursprünglich in einzelnen Haften erschienen sind die fünf Phasen jetzt als Comic erschienen. Unbedingt empfehlenswert!
Platz 2 ist nicht unbedingt eine Überraschung für langjährige Leser*innen dieser Seite: Die deutsche Ausgabe der Chroniken von Amoras bringt die Fortsetzung der sechsteiligen Amoras 2047-Sage, die hierzulande im ZACK erscheint, endlich auch auf Deutsch unter die Leute. Legendre und Cambré haben dem etwas angestaubten Suske und Wiske-Stoff neues Leben eingehaucht und eine spannende Endzeit-sage geschrieben. Die Chroniken greifen dabei einzelne Episoden aus Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft auf.
Cover der VZA
Und auch Platz 3 geht an in der ZACK-Edition erschienes Werk: Dr. Radar von Simsolo und Bézian ist eine Noir-Krimi-Erzählung in einem sehr eigenwilligen Strich. Für Fans des klassischen Krimis ein Muss, für Leser*innen anspruchsvolle Comics ebenfalls!
Platz 4 ist ebenfalls ein älteres Werk, das neu aufgelegt wurde: Das Abenteuer ohne Helden im Verbund mit 20 Jahre danach erzählt die Geschichte, die mit einem Flugzeugabsturz beginnt, mit menschlicher Schwäche und Stärke weitergeht und schließlich Korruption thematisiert. Van Hamme und Dany zelebrieren Geschichte und Zeichnungen.
Platz 5 schließlich geht an eine Weiterentwicklung eines Klassikers: Die Veröffentlichung von Gaston 22 ist das Ergebnis eines jahrelangen Rechtstreites. Delaf führt den Chaoten genau dort weiter, wo Franquin aufgehört hatte. Vielleicht etwas altmodisch, aber liebenswert, chaotisch und genauso anarchistisch wie zuvor!
Die besten Graphic Novels
Wie immer ist die Abgrenzung zwischen Comic und Graphic Novel schwierig. Trotzdem: Meine persönliche Auswahl:
Platz 1 geht auch hier an ein Werk von einem deutschen Künstler, der allerdings mittlerweile in den Niederlanden lebt: Columbusstraße erzählt die Geschichte von Tobi Dahmens Vorfahren während der Jahre 1935 – 45. Sehr persönlich, angreifbar aber auch nichts beschönigend macht sich Dahmen dieses Mal nicht an seine eigene Geschichte wie im Fahrradmod, sondern begibt sich auf die Suche nach Schuld, Verschulden und Zeitgeist.
Und auch Platz 2 wird von einem deutschen Künstler eingenommen: Digger von Ralf Marczinczik ist eine Geschichte über einen Straftäter, die Einsamkeit und – vor allem – die Hoffnung! Dieser Band hat 2024 bereits einige Preise abgeräumt, sein Auftauchen ist daher wenig überraschend.
Auf den dritten Platz hat sich ein Werk geschoben, dass erst vor Kurzem erschienen ist: Ava von Emilio Ruiz und Ana Miralles erzählt eine kurze Episode aus dem Leben von Ava Gardner. Die Hollywood-Diva hatte wahrlich kein leichtes Leben und auch ihr Umfeld musste unter ihrer Berühmtheit leiden. Obwohl ihre Zeit in Brasilien nur sehr kurz war, gelingt es den Künstler*innen doch, viele Probleme in diesen Zeitpunkt zu packen und das Ganze mit brillanten Bildern darzustellen.
Die besten Gesamtausgaben
Gesamtausgaben haben immer ein wenig den Beigeschmack der Geschäftemacherei. Sie können aber auch eine endlich angemessene Veröffentlichungsform darstellen, mit Informationen angereichert sein und Werk und Künstler*innen würdigen. Drei Beispiele, die mich in 2024 überzeugt haben:
Zunächst einmal die wunderschöne Ausgabe der kompletten Modesty Blaise Strips aus dem Bocola-Verlag! Nicht nur sind Papier und Format den Zeitungsstrips absolut angemessen, die Herausgeber haben sich ebenfalls bemüht, auch die Strips, die nur in einer kleinen schottischen Zeitung erschienen sind, einzufügen. Dazu kommen perfekte Einleitungen von O’Donnel selbst. Wer auf 60-er Jahre-Flair und Agent*innen steht, ist hier genau richtig!
Platz 2 geht an die Neuedition der Boule und Bill-Streifen von Jean Roba. Die Einseiter mit den Familiengeschichten sind natürlich schon oft veröffentlicht worden. Trotzdem: Eine Gesamtausgabe bietet die Möglichkeit, Entwicklungen zu betrachten, zu genießen und immer wieder mal ein paar Seiten zu genießen.
Platz 3 geht an Mikaël und die Gesamtausgabe des ersten Teils der New-York-Trilogie: Giant! Im Mittelpunkt dieser Serie steht die Stadt selbst. Natürlich gibt es handelnde Personen, in diesem Fall irische Arbeiter, in der Gesamtschau wird aber klar, dass ihre Geschichten nur pars pro toto stehen. Geniale Bilder und eine ergreifende Story. Die ersten beiden Teile, Giant und Bootblack, sind als Vorabdruck im ZACK erschienen, Teil 3, Harlem, ist bei Splitter erschienen.
Die besten Sekundärwerke
Das allerbeste Sekundärwerk des Jahres ist ein XXL-Wälzer – Donald Duck – The ultimate History bzw. die ultimative Chronik ist ein Kompendium zum 90. Geburtstags des Superstars. Sie beleuchtet den Weg vom ersten Auftritt, den Nebendarsteller-Rollen bis hin zum Alleinunterhalter. Der Band erwähnt dabei alle (!!) Filme, konzentriert sich bei den Comics auf die Werke von Carl Barks, bezieht aber auch Werbung, Themenparks und alles Weitere mit ein. Das Buch ist sowohl auf Deutsch als auch auf Englisch und Französisch bei Taschen erschienen und sollte in keiner Disney-Sammlung fehlen!
Platz 2 ist (zumindest hier bei uns in Deutschland) ebenfalls im Zusammenhang mit einem Jubiläum erschienen: Die Spirou-Deluxe-Reihe stellt Werke von Franquin in einen neuen Zusammenhang, veröffentlicht die schwarz-weißen Zeichnungen neben der bekannten kolorierten Fassung und vermittelt eine große Menge an Informationen über Künstler und Hintergründe. Bisher erschienen sind der Liliput-Trick und die Bravo Brothers.
Platz 3 schließlich geht an das Kompendium über in Deutschland erschienene Horror-Comics: Der absolute Horror von Christian Blees listet auf, vermittelt Inhalte, erklärt Trends und versammelt eine wahnsinnige Menge an Informationen auf kleinem Raum! Für Fans des bebilderten Grusels ein Muss!
Die besten Magazine
Und auch in diesem Jahr geht der Preis für das beste Magazin wieder an das ZACK! Auf mittlerweile 100 Seiten pro Monat wird ein Überblick über aktuelle europäische Comics geboten, der seines Gleichen sucht. Dazu kommt inzwischen ein Ableger: Das ZACK-Sonderheft. Die am häufigsten angeklickte Ausgabe war die Jubiläumsnummer 300.
War im letzten Jahr Platz 3 ein Nachruf, ist es in diesem Jahr einer auf das Magazin, das es auf Platz 2 geschafft hat: Das ZEBRA hat mit der Nummer 19/20 sein Erscheinen eingestellt. Schade, war es doch immer ein Einblick in die Welten des deutschen Independent-Bereiches.
Wieder in die Top 3 haben es die Magazine des Zauberstern Verlages geschafft. Was mit dem Phantom begonnen hatte, wird durch Mikros, Flash Gordon, Van Helsing und Savage Dragon verstärkt! In 2025 kommt noch ein Phantom Spezial dazu. Eine kleine Bemerkung sei erlaubt: Der Wandelnde Geist wandelt auch woanders, etwa bei Kult und in der ZACK-Edition! Dort ist er nicht schlechter!
Und dann ist da noch …
… eine unheimliche Fleißarbeit. Nach mehreren Jahren des Wartens hat Bernd Weckwerth es tatsächlich geschafft, die Chronik der Koralle-ZACK-Ära in den Handel zu bringen! Auf 400 Seiten werden nicht nur alle Hefte, Alben und Taschenbücher vorgestellt, sondern auch die Poster, Sammelalben etc. Dazu gibt es viele anekdotenhafte Bemerkungen zu Serien und Künstler*innen und ein paar erhellende Artikel!
Eure Lieblinge in 2024
Eure Charts, basierend auf den Abrufzahlen:
Platz 1 geht wie im letzten Jahr an Hägar und die Gesammelten Chroniken von 1973, gefolgt vom Jahresrückblick auf 2023 und Spirou und Fantasio Spezial 42. Bei dem letzteren Titel haben die Zugriffe erst nach dem Auslisten des Titels sehr stark zugenommen. Auf Platz 4 folgt mit der Jubiläumsnummer 300 der erste ZACK-Titel, auf Platz 5 erneut Messalina von Mitton.
Die weiteren Plätze: Donald Duck – The Ultimate History, Di Caro – Die Geheimnisse des Maison Fleury 1, Giant von Mikaël, Der 1. Band der Chroniken von Amoras und Gaston 22 von Delaf.
Für 2025 wünsche ich Euch alles Gute! Kommt gut rein! Mögen uns im kommenden Jahr Katastrophen erspart bleiben, möge die Demokratie sich als standhaft erweisen und mögen sich möglichst viele Rassismus, Sexismus, Homophobie und ähnlichen Auswüchsen entgegenstellen.
In der Literaturwissenschat ist es üblich, eine kommentierte Ausgabe zu veröffentlichen, die neben dem Originaltext (häufig in mehreren Fassungen) kritische Anmerkungen aus der Forschung enthält. Im Bereich des Comics ist das durchaus seltener anzutreffen, vor allem im Comic-Entwicklungsland Deutschland. Bei André Franquin sieht die Sache etwas anders aus, sind doch in Frankreich bereits einige kommentierte Bände erschienen (und auch unsere niederländischen Nachbar*innen sind bereits vor Jahren in den Genuss der Übersetzungen gekommen). Hier mussten wir bis zum 100. Geburtstag des Meisters warten. Nun aber veröffentlicht Carlsen in der Spirou-Deluxe-Reihe wenigstens ein paar davon.
Der Zukunftsvisionär und seine Ideen
Wer Spirou nur als lustige Kinderunterhaltung begreift, lag schon zu Zeiten der deutschen Besetzung Belgiens falsch. Das Magazin Spirou, das reisende Puppentheater und auch die „Freunde Spirous“ waren ein Hort des Widerstandes und der Freiheit. Auch Franquin selbst war Zeit seines Lebens ein Freigeist und nutze die ihm übergebene Serie so gut wie möglich. Zwar lagen ihm der anarchistische Gaston und die Schwarzen Gedanken näher als der dem katholischen Ideal einer Jugend verpflichtete Spirou, doch auch in dieser Serie gelang es dem Künstler, Teile seiner Ideen unterzubringen.
Im Wesentlichen allerdings durch die Nebenfiguren, die nicht im Fokus der Zensur standen, vor allem durch das Marsupilami. Mehr dazu im gut zu lesenden Text der Pissavy-Yvernaults.
Der Liliput-Trick selbst war ursprünglich gar nicht für das Magazin konzipiert, sondern für eine Pariser Tageszeitung, Le Parisien libéré. Zu jedem Wochenende gab es eine Folge mit sechs Streifen in schwarz-weiß. Die Bilder wurden erst nachträglich koloriert und für den Magazinabdruck auf 4 Streifen pro Seite ummontiert. Spirou glaubt, dass Fantasio in eine leblose Miniatur verwandelt wurde und dreht aus Sorge (allerdings auch aus Zorn) fast durch. Tatsächlich hat Franquin hier den 3-D-Druck, der heute fast schon in jedem Haushalt zu finden ist, vorweggenommen.
Das brillante Duo
Da die Zeichnungen für die insgesamt drei Zeitungs-Geschichten zusätzlich zu leisten waren, hatte Franquin neben Jidehem einen weiteren Assistenten verpflichten müssen, Jean Roba. Dieser sollte später mit seinen Geschichten von Boule & Bill selbst ein Star in Spirou werden, stand hier aber noch am Anfang seiner Karriere. Während sonst üblicherweise eine klare Trennung zwischen „Figuren“ und „Hintergrund“ herrschte, arbeiteten die beiden auch an der Liliput-Trick so eng zusammen, dass nicht immer klar auszumachen ist, wer was gemacht hat.
Da sowohl die schwarz-weiße Originalzeichnung als auch die spätere Magazinfassung abgedruckt sind, können wir als Leser*innen beides nebeneinanderhalten und versuchen, die Unterschiede zu erkennen. Leicht ist das allerdings nicht. Einzig das Crossover mit Boule & Bill ist leicht zu erkennen.
Für Fans ein Muss!
Soll man sich einen Comic in mehreren Fassungen kaufen? Ja, wenn es Sinn macht! 🙂 Tatsächlich ist natürlich nicht jede kleine Abweichung bereits ein guter Grund. Hier aber kann man das schwarz-weiße Original mit der später kolorierten Fassung vergleichen. Zudem ist der originale Rhythmus der sechs Streifen komplett anders als der spätere 4-streifige.
Da zudem die Kommentare noch äußerst lesenswert sind, launig geschrieben und inhaltsreich, lohnt sich die Ausgabe erst recht. Der Liliput-Trick ist im Werk Franquins schon etwas Besonders, ist hier doch die Partnerschaft mit Roba in ihrem letzten Werk am ausgereiftesten. Auch inhaltlich hat sich der Page unter seiner Ägide nie weiter vom Magazin-Ideal entfernt. Die Deluxe-Variante im Hardcover ist zwar nicht billig, sie ist den Preis aber wert.
Dazu passen The Busters mit „Ruder Than Rude“ und ein La Trappe Blonde.
Manchmal ist es wichtig, daran erinnert zu werden, wie gut es uns hier in Westeuropa geht. Ja, natürlich gibt es Probleme und die Inflation isst manche der Zugewinne der letzten Jahre auf. Verglichen aber mit dem Leben in einer Favela in Rio ist das alles der reinste Luxus, für jede*n hier Lebenden! Einen kleinen Einblick in das Leben dort (das im Übrigen gar nicht so anders ist als in jedem anderen Slum auf dieser Welt) gibt der Dreiteiler Rio.
Glück gehabt?
Band 1 schilderte uns das Schicksal von einigen Straßenkindern in Rio. Teil davon war die Geschichte wie schnell es gehen kann, dass aus einer zumindest halbwegs intakten Familie etwas ganz anderes werden kann. Band zwei spielt 10 Jahre später. Die beiden Geschwister, die ihre Mutter verloren hatten, sind von dem Ehepaar White adoptiert worden und leben in dem „reichen“ Teil der Stadt, sind zur Schule gegangen und haben ein erfülltes Leben vor sich. Rubeus ist allerdings so voller Wut, dass er sich nirgendwo einfügen kann und immer wieder durch sein trotziges Verhalten Türen zufallen lässt.
Dann jedoch wird seine Schwester Nina entführt und die Spuren führen in eine der Favelas. Alle Favelas „gehören“ einer bestimmten Gang bzw. ihrem (jeweiligen) Anführer. Da die Whites ein sehr hohes Ansehen haben, wird die Sache schnell politisch und die schwer bewaffnete staatliche Polizei soll eingreifen. Wie immer in solchen Fällen sind jedoch nicht alle Spuren echt. Kann Rubeus sich endlich mal beweisen und seine Schwester retten? Auf jeden Fall trifft er bei seiner Suche auf alte Bekannte.
Die Polizei ist im Übrigen nicht mit unseren Organisationen vergleichbar. Weder ist es eine einheitliche Masse, noch sind die Unterschiede zu den verschiedenen Clans immer deutlich zu erkennen. Brutalität und Korruption bestimmen ihr Leben und ein Menschenleben, zumal das eines Slumbewohners, zählt weniger als nichts.
Realismus pur
Corentin Rouge zeichnet sehr realistisch. Dementsprechend drücken die Gesichter der handelnden Personen Emotionen wie Überraschung, vor allem aber Wut und Schmerzen sehr deutlich aus. Zwar wird die Geschichte aus dem Blickwinkel eines Beobachters erzählt, die Zeichnungen aber ziehen Leser*innen mitten rein.
Es sind die vielen, kleinen Details, die die Geschichte glaubhaft machen. Es geht hier nicht um eine geglättete Version (obwohl sie das in Teilen natürlich ist), sondern darum die Realität bestmöglich für den europäischen Markt präsentieren zu können. Das gelingt!
Mehr davon!
Es gibt so viele Comics (und Bücher, Filme, Serien), die sich perfekt für die kleine Flucht eignen. Das ist auch absolut legitim und teilweise sogar notwendig. Wir brauchen aber auch diejenigen, die sich trauen, die Realität zu zeigen. Wenn es dann auch noch – wie hier bei Rio – ohne den erhobenen Zeigefinger passiert, ist das super! Jede*r kann danach entscheiden, sich Dokus anzuschauen, sich zu engagieren oder aber eben nicht. Niemand aber kann mehr sagen, er/sie hätte nichts gewusst.
Natürlich gibt es auch von den Augen der Favela direkt beim Verlag eine Vorzugsausgabe mit Variantcover und limitiertem Druck. Man muss sich entscheiden, welche Serien man in dieser Art sammeln möchte. Hier wäre zumindest ein inhaltlicher Grund gegeben und die Zeichnungen sind ebenfalls deutlich über dem Schnitt!
Dazu passen The Interrupters mit „Love never dies“ und ein sauberes, trinkbares Wasser.
Es gibt viele Krimis, viele anspruchsvolle Graphic Novels, die das Leben und den Einsatz von NGOs und ihren Mitstreiter*innen zeigen , und ebenfalls viele Polit-Thriller, die den Sumpf der Korruption und Ausbeutung thematisieren. Es kommt aber zumindest sehr selten vor, dass diese Themen mit der natürlichen Gewalt eines Raubtiers kombiniert werden. In diesem Fall ist es einer der letzten 500 Exemplare des Sibirischen Tigers …
Raue Landschaft, menschliche Gewalt und tierische Instinkte
Der Sammelband, der die beiden im Original separat erschienenen Teile von Tiger zusammenfasst, spielt in der russischen Taiga. Hier werden gigantische Mengen an Bäumen abgeholzt und nach China transportiert, von wo sie dann den Weltmarkt erreichen. Die freiwerdende Fläche ist dabei deutlich größer als etwa die im südamerikanischen Regenwald. Bei Geschäften dieser Art ist Korruption fast schon normal. Eine investigative Filmemacherin, Sabine Köditz, hatte vor Jahren einiges davon aufgedeckt. Nun ist sie erneut in der Gegend, um einen Film über die Sibirischen Tiger zu drehen.
Natürlich bleibt ihre Ankunft nicht unbemerkt und einige der Leute, denen sie damals das Geschäft versaut hat, sehen ihre Gelegenheit für Rache gekommen. Es wird also ein Killer auf die Frau angesetzt. In einer Parallelhandlung geht es um den Sohn eines der dort eingesetzten Polizisten, der als Waldarbeiter tätig ist. Die schwere Arbeit in der menschenfeindlichen Umgebung wäre noch ok, wenn der Vorarbeiter sie nicht zu illegalen Handlungen anstiften würde. Als der Böse nicht nur einen der letzten Tiger anschießt, sondern auch noch den Sohn und seinen Kollegen in der Wildnis aussetzt, eskaliert auch diese Situation.
Und schließlich geht es noch um den Polizisten, der logischerweise ebenfalls Dreck am Stecken hat und somit erpressbar geworden ist. Alle oben beschriebenen Personen spielen ihre Rollen, wirklich sympathisch ist niemand von ihnen. Alle sind ich-bezogen und folgen keinen hehren Idealen. Aber vielleicht ist gerade das das Realistische an der Story. Und dann gibt es noch den eigentlichen Helden des Stücks, den angeschossenen Tiger. Dieser erkennt seine Feinde und versucht, stärker als sie zu sein.
Weißer Schnee und rotes Blut
Die Herausforderung, einer Schneelandschaft über mehr als 100 Seiten gerecht zu werden, ist nicht gerade klein. Alex Macho gelingt es vorzüglich, die Eintönigkeit und die Gefahr, die von Kälte und Unwegsamkeit ausgeht, so darzustellen, dass sie trotzdem nicht langweilig wird. Er addiert Kleinigkeiten aus der Landschaft zu dem Weiß und macht somit die Großartigkeit der Landschaft klar. Trotzdem sind auch die Menschen und ihre zerstörerische Technik gleichberechtigtes Element der Zeichnungen.
Immer wieder aber greift er in den großen roten Farbtopf: Menschen werden erschossen, vom Tiger gerissen oder von Explosionen zerfetzt. Für Zartbesaitete ist dieser Comic wahrlich nichts. Trotzdem gehen die Bilder aber nicht in Richtung Splatter. Es geht um keine Ästhetik des Tötens, es geht um die Darstellung von Realität. Sehenswert!
Etwas Besonderes!
Korruption, ausweglose Gewalt und selbst die Folgen eines tierischen Blutrausches alleine sind natürlich schon unzählige Male dargestellt worden. Diese Kombination aber ist es nicht. Am ehesten würde ich noch Wind River damit vergleichen wollen, der Film ist aber natürlich erstens eine andere Kunstform und hat zweitens auch eine andere Ausprägung von Macht zum Thema.
Tiger vereint grandiose Bilder in einer extrem spannenden Story, die zumindest mich beim Lesen nicht mehr losgelassen hat. Ich war daher sehr froh, dass beide Teile zusammengefasst erschienen sind. Die Wartezeit von über einem Jahr wie im Original hätte mich genervt. So ist Tiger aber eine uneingeschränkte Empfehlung!
Dazu passen CRASS mit „Do they owe us a Living“ und ein Hansa aus der Dose.
Heft Din A 4 | 100 Seiten | Farbe | 9,70 € ISSN: 1438-2792
Aus dem ZACK-Versuchslabor kommt ein neues Exemplar: das ZACK-Sonderheft. Sollte auch dieser Versuch erfolgreich enden, wird es wohl zwei Sonderhefte im Jahr geben. Für die Purist*innen unter den Sammler*innen ist das fast schon eine echte Herausforderung, gab es doch vor etlichen Jahren (2000 bis 2004) schon einmal ZACK-Sonderhefte. Die neue Reihe hat damit (außer dem Namen) nichts gemein und ist daher ein echter Neustart.
Der 77. Geburtstag, Teil 2
Das Tintin-Magazin hatte zum 77. Geburtstag eine Hommage „geschenkt bekommen“ in der die heutige Generation von Comic-Künstler*innen ihre Version der klassischen Serien aus dem Magazin abliefert. In ZACK 300 waren daraus bereits ein paar Kurzgeschichten erschienen, nun folgt eine weitere Ladung.
Wieder sind einige „alte ZACK-Serien“ dabei, etwa Rick Master, Andy Morgan, Jugurtha oder Häuptling Feuerauge. Letzterer wird übrigens in Kürze einen eigenen Band, wahrscheinlich als ZACK-Lachbox bekommen! Aber auch andere klassische Serien des Tintin-Magazins wie Lester Cockney, Blake & Mortimer oder Mausi & Paul werden aufgegriffen.
Ein Schwerpunkt des Heftes liegt auf den Interpretationen von Francois Boucq. Dieser vielseitige Zeichner (und Autor) ist bei uns in Deutschland einer breiten Masse durch seinen Western Bouncer und durch die haarsträubenden Abenteuer seines irren Vertreters Nachbar Katzmeier bekannt. In diesem Sonderheft kann er beweisen, wie vielseitig er ist. Zwar bringt er immer seine eigene Handschrift ein, er schafft es aber auch, die Erkennungsmerkmale des Originals hervorzuheben.
Eine bunte Mischung
Natürlich bilden die Kurzgeschichten einen breiten Überblick über aktuelle Strömungen. Teilweise wechseln sie sogar innerhalb einer Geschichte. So versucht Guerilla für einen Helden ausgehend vom klassischen Hermann-Stil für Andy Morgan das Schicksal eines Tintin-Lesers nachzuerzählen, der den Cliffhanger nicht verkraften kann. Viele seiner Lieblingshelden dürfen ihren Rettungsversuch in ihrem Stil unternehmen und sind durch eine moderne Geschichte verbunden. Definitiv eines der Highlights!
Mein persönlicher Liebling ist aber die sehr melancholische Mausi & Paul-Story von Alix Garin. Sie spielt damit, dass auch gezeichnete Figuren ein Leben haben und den Verlust ihrer Beliebtheit verkraften müssen. Die Story ist gleichzeitig eine Hommage an den großen André Franquin, der diese Serie parallel zu seinen Arbeiten für Spirou gezeichnet hat.
Eine sinnvolle Ergänzung der Sammlung
Für mich ist das ZACK-Sonderheft eine sinnvolle Ergänzung der ZACK-Sammlung. Sie bietet Raum für Geschichten, die den normalen Heftrahmen sprengen würden, als Album oder in der ZACK-Spezial-Reihe aber auch nicht wirklich passen würden. Eine Verdoppelung der Magazin-Frequenz würde für eine zu kurze Präsenz im Zeitschriftenhandel sorgen, ein zusätzliches Sonderheft beschränkt aber den regulären Verkauf nicht. Das ist im Übrigen auch der Grund dafür, dass es nicht im Rahmen des Abos ausgeliefert werden darf und separat bestellt werden muss.
Aufmachung, Qualität, Umfang und auch der Preis sind aber im gewohnten Rahmen. Gut in das Konzept passt der Artikel von Volker Hamann über Francois Boucq, die Rezensionen sind dagegen ein kleiner Fremdkörper. Wenn ich einen Wunsch frei hätte, wären es bibliographische Angaben zur Originalveröffentlichung. Aber das wäre nur die Sahnehaube …
Dazu passen die krachigen The Dead Krazukies und ein Kakao mit oder ohne Amaretto.
Rock’n’Roll ist im Sprachgebrauch fest verbunden mit Drogen, Aussetzern und psychologischen Auffälligkeiten. Zwar sterben nur die wenigsten mit 27 Jahren, bei vielen scheint das aber eher zufällig zu sein. Auch David Bowie war kurz davor, sich in seinen Kunstfiguren wie Ziggy Stardust zu verlieren. Die Abgrenzung zu sich selbst schilderte der erste Band dieser Biografie. Mittlerweile lebt der Star mehr schlecht als recht in Los Angeles und beschließt, sein Leben erneut zu verändern …
Das innovative Zentrum in der Provinz … Westberlin
1976 ist Berlin noch weit davon entfernt, wiedervereint zu werden. In West-Berlin endet jeder Weg irgendwann an der Mauer und trotzdem entwickelt sich die Stadt zu einem Ort, der künstlerische Innovationen fördert. Schon immer war Berlin Avantgarde mit Brecht, Weil oder der Berliner Brücke, in den wilden Zwanzigern war es auch das Zentrum einer alternativen, freizügigen Partylandschaft. Und doch ist es gleichzeitig so provinziell, dass Stars wie etwa David Bowie unerkannt durch die Straßen spazieren können.
Diese Mischung ist es, die Bowie nach Westberlin zieht. Natürlich hat er Iggy Pop im Schlepptau. Bowie versucht, sich zum wiederholten Male neu zu erfinden und mietet sich in einem Plattenstudio ein, dass vorher eher Die Flippers produziert hat. Für Fans folgen nun viele Konversationen und Begegnungen mit Brian Eno, Kraftwerk, Tangerine Dream und natürlich immer wieder Iggy über „wahre“ Kunst, das Unverständnis des Mainstreams und der Plattenfirmen und die technischen Herausforderungen.
Gleichzeitig muss der Star seine Drogensucht und seine Psychosen mit sich herumschleppen. Auch hier stellt Iggy eine Art Gegenentwurf dar und beschwert sich sogar darüber, dass Bowie ihn kopieren wolle. Aber auch Romy Haag, schon damals ein(e) erfolgreiche(r) Travestie-Künstler(in), stellt die richtigen Fragen. Kleist gräbt sich in die Materie ein und präsentiert das Ganze – wie etwa auch in Cash – mit einer Leichtigkeit, die die Schwierigkeit immer genau die richtigen Worte zu finden komplett überdeckt.
Chaos und Selbstdarstellung
Reinhard Kleist ist natürlich wieder für die Zeichnungen in seinem Werk verantwortlich. Mir gefällt der Gegensatz des sich selbst inszenierenden Stars, der nach androgynem Weltraumwesen, verlorenem Raumfahrer, arrogantem Dandy nun als gereifte Avantgarde auftritt und des chaotischen, in den Tag hineinlebenden Suchenden. Dieser Gegensatz findet sich auch im Seitenlayout wieder, das zwischen durchgestylt und chaotisch changiert.
Selbst der aufkommende Punk hat Einfluss, nimmt er doch einiges an Druck von den Musikakteur*innen die plötzlich mehr „sie selbst“ sein dürfen (wenn sie denn wollen). Auch diese Freiheit findet ihren Weg in die Zeichnungen. Zudem ist Low nicht nur eine Biografie des Künstlers und seiner Szene, sie ist auch eine Liebeserklärung an die Stadt in der der gebürtige Hürther seit fast dreißig Jahren lebt!
Eine Empfehlung ohne Einschränkung!
Biografien sind relativ dankbare Objekte. Zwar ist es sehr schwierig, den zu porträtierenden Menschen so tief zu erfassen, dass es wirklich eine „gute“ Produktion wird. Auf der anderen Seite ist der Kreis der potenziellen Käufer*innen aber immer relativ hoch da Fans oft automatisch zugreifen. Hier allerdings lohnt sich der Kauf unbedingt und für alle, die einfach nur ein Interesse an Musik oder der Stadt Berlin haben, ebenfalls!
Beim Lesen werden viele bekannte Melodien im Kopf ein zweites Leben beginnen und vielleicht war ja auch der eine oder die andere in den Siebzigern in Berlin. Ob junge Menschen sich damit erreichen lassen werden? Wahrscheinlich nicht, aber das macht auch nichts. Es gibt genügend Ältere, die diese Graphic Novel unter dem Weihnachtsbaum vorfinden dürften. Und sie dürfen sich schon mal darauf freuen. Es gibt im Übrigen auch eine Luxusausgabe …
Dazu passen natürlich nur „Heroes“ von David Bowie und ein Berliner Kindl.
Zeitungsstrips sind ein ganz besonderes Medium, müssen sie doch die Leser*innen überzeugen, am nächsten Tag wieder zu kommen (also eine neue Ausgabe der Zeitung, die sie gerade lesen, zu kaufen) und teilweise gleichzeitig eine Geschichte erzählen, die trotz der Redundanzen auch im Ganzen lesbar bleibt. Während Folgen bei Strips wie Magnus der Magier oder Häuptling Feuerauge selten aufeinander aufbauen, erzählen etwa Modesty Blaise oder Phantom Epen. Auch Nicky Saxx ist ein Beispiel dafür, die einzelnen Episoden bestehen aus 20 bis 22 Seiten a vier Tagesfolgen, sind also nicht zu komplex. Die Storylines stehen zueinander aber schon in einem losen Zusammenhang und erlauben Kontext und Entwicklung.
Abenteuer im Schnee und auf hoher See
Die Heldin, Nicky Saxx, leitet eine Agentur, Room 666, die sich um schwierige Fälle kümmert. Dabei sehen sie und ihre Helfer*innen, insbesondere aber ihre Freundin Elja Steiner, oft genug dem Tod ins Auge. Während Nicky eher die toughe Person ist, die auch austeilen kann, ist Elja als paranormal begabte Psychologin eher für die nicht sichtbaren Seiten des Falles zuständig.
Psi – Paranormal spielt während des Urlaubs von Elja. Ihre kleine Nichte verschwindet plötzlich, ihre Spuren werden von dem stetig fallenden Schnee überdeckt und die Paranormal begabte Heldin spürt die Gefahr und einen Zusammenhang mit einem ganz ähnlichen Verschwinden von vor 15 Jahren an genau der gleichen Stelle.
In Unkraut ist es Nicky, die sich im Urlaub befindet. Sie ist mit einem Segelboot irgendwo vor der lateinamerikanischen Küste unterwegs. Während sie ein Bad nimmt, wird dieses Schiff plötzlich aus einem Hubschrauber beschossen und versenkt. Doch damit fangen ihre Schwierigkeiten erst an, denn sie muss nicht nur versuchen, an Land zu kommen, die Hubschrauberbesatzung ist keineswegs gewillt, sie in Frieden zu lassen.
Kolorierte Schwarz-weiß Zeichnungen
Die Zeichnungen von Minck Oosterveer waren ursprünglich in schwarz-weiß angelegt, schließlich waren sie für eine Tageszeitung gedacht, in der farbige Details eher schwierig gewesen wären. Anfang dieses Jahrtausend lief die Serie für rund sechs Jahre in De Telegraaf, nun wurde sie für diese Gesamtausgabe erstmals koloriert. Dabei sind sehr stimmungsvolle Panels entstanden, vereinen sie doch einerseits das Spiel mit Licht und Schatten und andererseits das gewohnte Bild der Farbigkeit.
Die Zeichnungen sind alle etwas rauer, ohne das letzte bisschen an realistischem Detail, sind daher aber vielleicht sogar ehrlicher. Die Action stimmt, die Emotionen sind etwas überzogen, wirken dadurch natürlich aber umso stärker. Man mag sich allerdings manchmal fragen, ob es den beiden Frauen nicht etwas kalt wird…
Spannung in Serie!
Willem Ritstier schafft es fast an jedem Streifenende einen kleinen Cliffhanger zu platzieren. Dieser muss am nächsten Tag so aufgenommen werden, so dass er diejenigen, die die gestrige Folge verpasst haben, mitnimmt, die anderen aber nicht langweilt. Insofern ist das erste Panel fast zwangsläufig eine gewisse Art von Wiederholung, allerdings mit anderen Worten, aus einer anderen Perspektive oder um Sekunden zeitverschoben. Die Geschichte und ihr Gesamtspannungsbogen sind aber trotzdem der Fokus der Erzählung.
Diese Gattung ist sicherlich nicht etwas für jede*n, man muss sich darauf einlassen wollen. Wenn man das möchte, bietet Nicky Saxx eine gute Möglichkeit zur kleinen Flucht aus dem Alltag, ist herrlich aus der Zeit gefallen und doch nicht peinlich. Der kleine Anhang bietet eine Möglichkeit, die Künstler hinter der Serie kennenzulernen und für Fans gibt es eine Vorzugsausgabe mit limitiertem und signiertem Druck! Sollte jemand an der Übersetzung etwas auszusetzen habe, so sei darauf hingewiesen, dass sie vom Verfasser dieser Zeilen stammt. Bemerkungen also gerne im Kommentar.
Dazu passen The Interrupters mit „Alien“ und ein Bulleit Bourbon.
Auch bei Spirou haben sich die Zeiten geändert, die tatsächliche und die erdachte Welt nähern sich immer mehr an und tatsächliche Figuren aus Politik und Zeitgeschichte dürfen oder vielmehr müssen unter ihrem wahren Namen Rollen übernehmen. Ob das jede*r gut finden wird? Wahrscheinlich nicht! Aber Kritik ist die Serie ja gerade gewöhnt, die in Deutschland als Band 42 erschienene Geschichte von Yann und Dany wurde in Frankreich sogar zurückgezogen.
Abenteuer in Kuba …
Tatsächlich wagen sich die Macher der Serie an zwei Ikonen der lateinamerikanischen Befreiungsbewegungen: Fidel Castro und Che Guevara! Während ersterer nicht nur die kubanische Mafia aus Kuba vertrieben, sondern dadurch gleichzeitig auch den amerikanischen Einfluss dramatisch reduziert hatte, war letzterer sowohl vorher als auch nachher in anderen lateinamerikanischen Revolutionen aktiv. Das Portrait von Che auf rotem Hintergrund hat sich zu einem die Jahrzehnte überdauernden popkulturellen Postermotiv entwickelt dessen Entstehungsgeschichte hier karikiert wird.
Überhaupt sie die realen Akteure, gleich ob kubanischen oder amerikanischen Ursprungs nicht wirklich nett und vertrauenswürdig. Während die CIA-Agenten eher als dusselig geschildert werden, ist bei den kubanischen der Machismo überdeutlich prominent. Auf jeden Fall wird in die Schweinebucht deutlich, dass beide Seiten für das Erlangen ihrer Ziele über Leichen gehen würden und keine Rücksicht auf irgendjemand anders nehmen werden!
Spirou wird verhaftet, Fantasio möchte ihn befreien, versucht aber gleichzeitig Steffani in Bezug auf eine Reportage über Kuba austzustechen. Das Marsupilami stiftet Chaos und zerstört dabei die eine oder andere Dekoration oder Auslage und Agent Longplaying darf nach langer Zeit (Franquins Tal der Budhhas) wieder einmal auftreten. Und auch der GAG spielt eine tragende (oder besser schwebende) Rolle. Die Geschichte von Christophe Lemoine schwankt zwischen Real-Satire, Anklage und Splapstick-Spannung und versucht so, den klassischen Esprit der Serie wieder einzufangen.
… in klassischer Manier!
Die Zeichnungen von Elric Dufau und Baril versuchen, den klassischen Vorbildern zu folgen. Natürlich sind die Hintergründe, die Klamotten und auch die technischen Geräte wie Autos im Jahre 1961 nicht viel anders als diejenigen, die Andre Franquin inspiriert haben. Es gelingt daher auch relativ einfach, den Charme dieser Zeit einzufangen. Trotzdem bewegen sich die Figuren darin anders, moderner und von dem aktuellen Erwartungshorizont beeinflusst. Das betrifft nicht nur die Witze (niemand würde heute noch Gottschalk als Textgeber für aktuelle Produktionen haben wollen), sondern auch die Slapstickeinlagen.
Den beiden Zeichnern gelingt diese schwierige Spagatlage ziemlich gut. Zudem schaffen sie es, den kritisierten Persönlichkeiten ein wenig Würde zu lassen. Sie machen somit den Widerspruch zwischen einigen Revolutionserrungenschaften und der Missachtung der Interessen der Einzelnen deutlich und nachvollziehbar. Und auch das Thema der Emanzipation taucht unterschwellig immer wieder auf.
Eine Annäherung!
Grundsätzlich ist der Band eine gelungene Hommage an die wohl erfolgreichste Periode der Serie. Der kleine präpubertäre Giftzwerg ist nicht ganz mein Geschmack und erinnert zu sehr an die andere große belgische Serie. Ansonsten wird der Band den Fans sicherlich gefallen. Ob man damit neue Fans gewinnen kann, wage ich allerdings zu bezweifeln. Dafür ist das Thema heutzutage zu unbekannt und von aktuellen Krisen (und Popkultur-Heroen) bereits lange verdrängt.
Das Backcover gefällt mir dagegen sehr gut, stellt es doch einen Zusammenhang des aktuellen Bandes mit Vorläufern und mit anderen Bänden der beteiligten Künstler her. Zudem wird endlich klar, wie groß der Kosmos um die miteinander verbundenen Serien bereits geworden ist!
Dazu passen „Viva la revolución“ in der Version von den Toten Hosen und ein kubanischer Rum.