Das Spirou-Magazin wurde 1938 als wöchentliches Comic-Magazin im Verlag Dupuis gegründet. Während der deutschen Besetzung Belgiens musste es eine Zeit lang sein Erscheinen einstellen. Viele der jugendlichen Leser*innen gingen als Die Freunde von Spirou in den Widerstand, während des Krieges diente ein Spirou-Puppentheater als Informationsüberbringer und Vernetzungsmöglichkeit. Während davon vieles in Artikeln und Büchern aufgearbeitet worden ist, ist die neue Serie ein Versuch, das Ganze als Comic darzubieten.
Ein Ehrenkodex verpflichtet
Das Magazin Spirou war nicht nur ein Heft mit amerikanischen und immer mehr belgischen Comics, es hatte auch informative Beiträge. Die gesamte Linie (inklusive der Grenzen für die Aktiven in Richtung Sexualität und Gewalt) war geprägt vom belgischen Katholizismus und der Pfadfinderbewegung. Es dauerte daher auch nicht lange, bis der Wunsch der lesenden Kinder dazu führte, dass eine Art Leseclub gegründet wurde: Die Freunde von Spirou! Für die Mitglieder gab es nicht nur kleine Goodies, sondern vor allem eine Art Ehren- und Verhaltenskodex!
Die Geschichte von Jean-DavidMorvan beginnt 1943 während der deutschen Besetzung Belgiens. Die Repressalien waren graduell immer stärker geworden, allerdings auch die Spaltung der Gesellschaft in eine – meist flämische – Gruppe von Nazifreund*innen und die Anderen. Als dann auch noch die Einstellung der Zeitschrift Spirou durchgesetzt wurde, entwickelt eine Gruppe von Kindern daraus den Auftrag, nun aber wirklich etwas unternehmen zu wollen.
Sie machen sich daran, eigene Comics herzustellen und zu verbreiten, die die Besatzer lächerlich machen. Basierend auf tatsächlichen Ereignissen ist das natürlich eine fiktive Geschichte, die aber durchaus als Beispiel für den vielfältigen Widerstand auch der Kleinen gelten kann. Nebenbei bemerkt hat dieser Widerstand übrigens auch getötete Kinder zur Folge gehabt. Als Nebengeschichte gibt es ein Gespräch mit dem Chefredakteur Jean Doisy, das ebenfalls lesenswert ist!
Lustige Bilder für ein ernstes Thema
David Evrad setzt die Geschichte in dem typischen, modernisierten Spirou-Stil um. Große Köpfe, große Nasen, die Lebenslust steht den Kindern ins Gesicht geschrieben. Demgegenüber sind die „Bösen“, also sowohl die Kinder der rexistischen (faschistischen) Jugend als auch der ältere Kollaborateur erkennbar stinkstiefelig! Obwohl die Zeichnungen damit kindgerecht sind, sollte man sich nicht vertun. Der Inhalt braucht – gerade heute wo wieder von „reindeutschen“ gefaselt wird, möglicherweise deutliche Begleitung durch Erwachsene. Allerdings wird hier keine Politik gemacht, die pure Menschlichkeit steht im Vordergrund!
Das Layout ist modern und geht von einem vier-streifigen Grundraster aus, das durch Überlappungen, Overlays und Rundungen immer wieder verändert wird. Es passt damit zu dem sehr dynamischen Strich und der schnellen Geschichte. Die ruhigen Erzählpassagen haben dann auch deutlich mehr Hintergrund.
Notwendig!
Wer lernen möchte, wie es aussehen kann, wenn man nicht nur sagt, dass einer/m etwas nicht passt, sondern auch etwas unternimmt, kann sich hier eine Scheibe abschneiden. Mit jugendlichem Eifer legen die Freund*innen los und brauchen aufgrund ihres gemeinsamen Ehrenkodex auch nicht lange überlegen. Insofern passt die Geschichte gut in eine Reihe mit Die Kinder der Resistance, Ein Sack voll Murmeln oder Spirou oder: Die Hoffnung. Immer geht es darum, der Unmenschlichkeit zu trotzen!
Gerade heute ist das Thema natürlich aktuell wie schon lange nicht mehr. Wir dürfen aber nicht darauf vertrauen, dass der Hype bleibt! Zusätzlich enthält die Story Hinweise zum Verständnis der „Macher“ von Spirou, vor allem natürlich von Jean Doisy. Klare Empfehlung!
Dazu passen The Busters mit “Chase Them“ und ein Ingwer-Shot für den klaren Kopf.
Valerian & Veronique gilt als die bedeutendste Science-Fiction-Serie des europäischen Comics und vereinbarte Raumfahrt, Zeitreise und kritische politische Wertung mit einer Handlung, die sich teilweise über mehrere Alben zog. 1967 wurden die ersten Seiten veröffentlicht, in Deutschland gehörte sie zu den erfolgreichen Serien im Koralle-ZACK und fand danach eine verlegerische Heimat bei Carlsen. Dort sind nicht nur die Original-Bände erschienen, sondern auch begleitendes Material, Kurzgeschichten, die Gesamtausgabe und zuletzt die die Spezial-Reihe.
Die Essenz der Serie auf wenigen Seiten
Das 50-jährige Jubiläum der Serie 2017 wurde in Frankreich groß mit einer Hommage als Sonderausgabe des (schon lange eingestellten) Pilote-Magazins gefeiert. Aktuelle Stars am Comic-Himmel sowie noch lebende Wegbegleiter von Pierre Christin und Jean-Claude Mézières waren gebeten worden, ihre ganz persönliche Sicht auf die Serie in einer Kurzgeschichte oder als One-Pager abzuliefern.
Die deutsche Ausgabe war schon vor längerem angekündigt worden, musste allerdings mehrfach verschoben werden. Das Warten hat sich jedoch gelohnt! So dürfen wir nicht nur die Gedanken von Blutch, Bonhomme oder Munuera genießen, auch deutsche Künstler wie Thilo Krapp, Kim Schmidt oder Ralf Marczinczik sind vertreten.
Einige Beiträge stellen dabei auf die Heldin ab, die anfangs sicherlich einigen pubertären Jungen den Kopf verdreht hat. In den späteren Nummern wurde sie allerdings zur wahren Chefin, die dafür gesorgt hat, dass der etwas vertrottelte Valerian auch im nächsten Abenteuer noch dabei sein konnte.
Ein Sammelsurium der Stile
Ein sicherlich beeindruckender Fakt dieser Sammlung ist die Breite de vertretenen Künstler*innen. Wer hier mehr oder weniger fixiert ist auf den französischen/frankobelgischen Mainstream, wird sich verwundert umschauen. Karikaturen, Wimmelbildchen, Graphic-Novel-Style und vieles mehr ist vertreten und erlaubt umso mehr, die Essenz der Serie zu begreifen. Es geht weniger um das „Wie“ in der Darstellung, das „Was“ steht im Vordergrund.
Man muss sich allerdings darauf einlassen wollen, um es genießen zu können. Wie immer treffen nicht alle Beiträge jedermanns Geschmack und dann darf man auch einfach umblättern! Im Ganzen ist der Band aber eine willkommene Ergänzung der Serie und sollte unbedingt dazu gehören!
Eine Ehre!
Ehrungen sind manchmal etwas komisch. Nicht immer versteht man, warum dieser oder jener Aspekt herausgehoben wird. Manchmal ist sogar der Gegenstand der Ehrung höchst fragwürdig. Valerian & Veronique dagegen ist über jeden Zweifel erhaben: Das Sujet wurde erneuert und vor allem um eine politische Komponente erweitert, die über einen Western im Weltraum weit hinausgeht! Die Szenarios und die Zeichnungen haben zurecht Preise eingeheimst und mit der Spezial-Reihe ist auch ein erster Ansatz gemacht, um über die Lebzeiten der Schöpfer hinaus zu existieren.
Der Hardcover-Band passt in der Aufmachung zu den Integralen und den neu aufgelegten Sonderbänden und sollte in einer V&V-Sammlung keinesfalls fehlen. Sehr positiv ist auch der Artikel von Volker Hamann über die Rezeption der Serie in Deutschland zu werten!
Dazu passen David Bowie mit “Moonage Daydream“ und ein The Cosmonaut Cocktail.
Meine Jahresbestenliste und ein paar Worte zum Geleit
Dann wollen wir mal … Schon wieder ist ein Jahr vergangen. Vieles ist gleichgeblieben, München ist zum Beispiel zum elften Mal hintereinander Deutscher Meister geworden. Vieles hat sich aber auch geändert: das politische Klima ist rauer geworden, Emanzipation und Bekämpfung der Klimakrise sind nur noch Worthülsen, während zum Beispiel ein Tempolimit in weite Ferne gerückt ist.
Im Comic-Bereich durften wir dagegen einiges erleben: angefangen mit Magazin-Neustarts etwa bei Zauberstern oder mit dem neuen Independent-Blättchen Graphica über das 50jährige Jubiläum des ZACK bis hin zur erstmaligen Veröffentlichung frankobelgischer Klassiker in Deutschland!
Auch für comix-online gab es einen neuen Rekord: Erstmals waren es mehr als 100.000 direkte Zugriffe auf einzelne Artikel, also ohne die Startseite! Vielen Dank für dieses Vertrauen! Die Charts mit den am häufigsten aufgerufenen Seiten der letzten 30 Tage bzw. der „All-Time-Favourites“ zeigen durchaus Bewegung und lassen eure Präferenzen deutlich werden. Trotzdem freue ich mich über Kommentare oder Feedback, gerade auch bezüglich Informationen, die euch fehlen.
Die besten Comics
Grundsätzlich sind sich die meisten Seiten in diesem Jahr einig: Der neue Asterix, Die weiße Iris, ist seit Jahrzehnten der beste „neue Asterix“. Dem kann ich mich durchaus anschließen. Der neue Szenarist Fabcaro hat es geschafft, ein altbekanntes Thema (Die Römer versuchen das gallische Dorf von innen heraus zu zerstören) völlig neu zu inszenieren und dabei eines der modernen Streitthemen, Wokeness, satirisch zu erfassen. Die Zeichnungen von Conrad stehen für sich!
Platz 2 geht für mich an den ersten Band der neuen Reihe Wikinger im Nebel. Lupano und Ohazar haben mit ihrem sehr witzigen und teils schwarzen Humor das Sujet umgekrempelt und neben den Schlachtengemälden und Hägars Familienstrip eine eigenständige Welt aufgemacht, die filosofische Fragen stellt (Plündern ja, Kirchen abfackeln nein?) und Rollenbilder neu definiert!
Platz 3 geht an einen Altmeister: Francois Bourgeon hat mit Die Zeit der Blutkirschen 2 vermutlich sein letztes Werk vorgelegt. Es schließt den letzten Zyklus der Saga Reisende im Wind ab und endet während der Revolution. Diese Serie gilt nicht zu Unrecht als Startpunkt für die historizierenden Comics.
Knapp danach ein weiterer Titel aus dem Splitter-Verlag: Carbon und Silizium von Mathieu Bablet ist die Geschichte zweier KI, die unterschiedlicher nicht sein könnten und doch beide verloren sind. Gerade im Zuge der Diskussionen um ChatGPT, Bard und Co ein wichtiger Ansatz, der auch grafisch überzeugt.
Auf Platz 5 folgt ein weiterer melancholischer Beitrag über künstliche Wesen: Rostige Herzen von dem Duo, dem fast alles gelingt, BeKa und Munuera, ist der Einstieg in eine neue Reihe, die böse Menschen und gute Roboter als Symbole für vieles, was bei uns nicht mehr stimmt, benutzt.
Die besten Graphic Novels
Was kein Comic ist und auch kein Strip, das muss wohl eine Graphic Novel sein … In diesem Sinne die Top 3!
Platz 1 geht mit einem Tusch an Ein unerwarteter Todesfall von Dominique Monféry. Toxische Männlichkeit im Hohen Norden zeigt brutale männliche Gewalt, die nicht immer nur unter Druck entsteht und eine trotz allem erfolgreiche Überlebensstrategie einer jungen Frau.
Ein deutscher Titel konnte sich an zweiter Stelle platzieren: Der Zeitraum von Lisa Frühbeis schildert die Ängste und Nöte einer zwangsläufig alleinerziehenden Frau. Zwar ist das Thema keinesfalls neu, die grafische Umsetzung ist jedoch vollkommen anders als gewohnt und vereinbart persönliche Betroffenheit und „Nicht-Kunst“ mit genialen Farbakzenten.
Knapp dahinter eine Biografie auf Platz 3: In Fritz Lang schildern Arnaud Delande und Èric Liberge die Lebensgeschichte des deutschen Regisseurs, seiner Auseinandersetzung mit dem aufkeimenden Faschismus und seine teils skandalösen Beziehungen.
Die besten Gesamtausgaben
Einer meiner Lieblinge unter den frankobelgischen Zeichner*innen war schon immer Pierre Seron. Umso mehr freut es mich, dass nun endlich auch seine poetischste Serie, Die Zentauren, erstmals komplett auf Deutsch erscheint! Es darf allerdings nicht verheimlicht werden, dass der Verfasser als Übersetzer des redaktionellen Teils beteiligt war.
Auch in diesem Jahr sind drei neue Bände der Marvel Comics Library bei Taschen erschienen. Die XXL-Bände haben rund 700 Seiten, sind mehrere Kilo schwer, und präsentieren im Coffee-Table-Format die bahnbrechenden ersten Ausgaben der Marvel-Klassiker, die etwas ganz Neues erschaffen hatten. Sorgfältige Reproduktionen erlauben einen 100%igen Genuss, der von sachkundigen Einführungen abgerundet wird! Ein stolzer, aber berechtigter Kaufpreis ist der einzige, kleine Wermutstropfen!
Der dritte Platz steht ein wenig stellvertretend für ein ganzes Albenprogramm: Georg F. W. Tempel, der Herausgeber von ZACK und ZACK-Edition, hat es sich zur Aufgabe gemacht, Perlen neu oder erstmals komplett auf Deutsch herauszugeben. Dazu zählen etwa Reihen wie Jari oder Alain Cardain. Preiswürdig ist aber die Reihe Bob Morane Classic, in der erstmals alle 19 Abenteuer von Dino Attanasio und Gerald Forton erscheinen werden!
Die besten Sekundärwerke
Es gibt kaum jemanden, der so gut lesbar so viele Informationen und Debattenbeiträge zwischen zwei Buchdeckel packen kann wie Dr. Alexander Braun. Dementsprechend führt er auch dieses Jahr wieder die Liste der besten Werke über Comics an: Staying West! ergänzt, was in seinem ersten Werk über Comics und den Wilden Westen außen vor bleiben musste, nimmt Stellung in der Debatte über Politische Korrektheit und grenzt Notwendiges von Übertriebenem ab und erzählt ganz nebenbei noch vieles über Italienische Westerncomics, Karl-May-Adaptionen und den Streit im Studio Vandersteen. Ein Muss!
Platz 2 gehört der Reddition, die Jahr für Jahr erscheint! Im Frühjahr hieß der Schwerpunkt Schweiz, das Winterheft war der neuen Generation der Spirou-Künstler gewidmet (Besprechung folgt!). Anregende Artikel, ausführliche Listen und meistens gute Einordnungen machen das Magazin ebenfalls zu einem Must-Have!
Platz drei geht an Burkhard Ihme und das ICOM Comic!-Jahrbuch. Ebenfalls Jahr um Jahr schafft es der Verein, nicht nur seine Preisträger*innen ausführlich darzustellen und zu Wort kommen zu lassen, sondern präsentiert Informationen, stößt Debatten an und macht Spaß!
Die besten Magazine
Vor mittlerweile über 50 Jahren ist die erste Ausgabe des ZACK erschienen. Die Namensgebende Zeit (Generation ZACK) endete dann aber doch und jahrelang war es düster; frankobelgische Magazine kamen und gingen. Seit 295 Ausgaben läuft aber das „neue ZACK“, das es mittlerweile auf mehr Ausgaben geschafft hat als das alte Koralle-ZACK. Jeden Monat ein bunter Querschnitt durch das frankobelgische Spektrum (und Angrenzendes) und erneuerte Klassiker wie Rick Master oder Michel Vaillant sind den ersten Platz in dieser Sparte wert!
Gleich dahinter kommen die Magazine des Zauberstern Verlages. Was mit dem Phantom begonnen hatte, hat mittlerweile durch Mikros, Flash Gordon, Van Helsing und Savage Dragon Verstärkung bekommen! Hut ab und weiterhin viel Erfolg!
Platz 3 ist dagegen ein Nachruf! Leider musste die Comixene mit der Nummer 146 ihr Erscheinen einstellen. Lesenswerte Informationen, streitbare Meinungen und tolle Illustrationen werden allerdings nicht ganz verschwinden, sondern sollen Alfonz ein wenig aufpeppen!
Und dann ist da noch …
… ein geglückter Relaunch! Das Universum um Spirou drohte unterzugehen. Jetzt allerdings ist die erste Folge eines Mehrteilers aus der Hauptserie erschienen (Der Tod von Spirou), die Spezial-Bände enthalten Variationen von unterschiedlichen Teams, dem Meister Franquin wird vielfältig gehuldigt, unter anderem mit einer Neuausgabe der Gesamtausgabe, und die Freunde von Spirou (Rezension folgt) bringen erneut die politische Dimension während des Zweiten Weltkrieges zurück! So kann man es machen!
Eure Lieblinge in 2023
Eure Charts, basierend auf den Abrufzahlen:
Platz 1 geht an Hägar und die Gesammelten Chroniken von 1973, gefolgt von dem ZACK-Spezial 7 und dem zweiten Bob Morane-Sonderband von Forton. Sehr knapp dahinter Mitton und Messalina 1/2.
Die weiteren Plätze: ZACK-Spezial 6 – Jari 1, Asterix – Die weiße Iris, Sammy & Jack Integral 3, Michel Vaillant Collector’s Edition 1, Michel Vaillant Legendes 1 (die NL-Ausggabe! Wenn man die deutsche Ausgabe dazu addiert, wäre das mit weitem Abstand die Höchstmarke!), Asterix – Im Reich der Mitte und Lakota von Serpieri.
Das erste ZACK (284) folgt auf Platz 12, der erste Sekundärtitel (Staying West!) auf Platz 32.
Es wird Weihnachten und ein Teil der Bevölkerung hat aufgrund der hohen Inflation Schwierigkeiten damit, über die Runden zu kommen. Einige Tafeln haben daher schon einen Aufnahmestopp verhängt. Auf der anderen Seite der Schere sieht das Bild anders aus. Geiz ist nicht mehr Geil, es soll etwas Hochwertiges sein. In diese Lücke passt die vorliegende Sonderausgabe des Franquin-Klassikers.
Eines der wenigen von Franquin hoch geschätzten Spirou-Abenteuer
Die Bravo Brothers ist eines der wenigen Spirou-Abenteuer, das Franquin wirklich gefallen hat. Natürlich war er anfangs dankbar, als Jije ihm die Serie überlassen hat. Wer wäre das nicht, wenn ihm die Titelstory eines erfolgreichen Magazins angeboten wird? Das erste Problem war allerdings, dass diese Seite jede Woche zu füllen war. Das zweite liegt darin, dass die Figuren ihm bis zum Schluss „fremd“ geblieben sind. Seine eigenen Kreationen, vor allem aber Gaston, lagen ihm wesentlich näher.
Allerdings ist diese Geschichte auch fast eine verkappte Gaston-Story. Der Bürobote macht Fantasio ein Geburtstagsgeschenk, das den ganzen Verlag (im Original Dupuis, auf Deutsch der Carlsen-Verlag) kräftig aufmischt. Von einem Pleite gegangenen Zirkus hat Gaston drei Affen erworben, die mit ihren Tricks fast alle zum Lachen bringen. Natürlich sind davon diejenigen ausgenommen, die arbeiten wollen, also Buchhaltung, Ordnungshüter, Spirou, vor allem aber Fantasio.
Spirous Aufgabe in diesem Meisterwerk ist die Klärung von Hintergründen, hauptsächlich im Kontakt mit Noah, dem etwas verbiesterten Dompteur. Jener ist übrigens rückblickend einer der wenigen Charaktere, die Franquin für sich selbst reserviert hat und später in der Marsupilami-Reihe mit Batem reaktiviert hat. Eine grandiose, teils bittere, immer aber rasante Komödie!
Ein Meisterwerk
Den Stil von Franquin erklären zu wollen, würde bedeuten, Eulen nach Athen zu tragen. Es gibt eigentlich nur zwei Lichtgestalten zu dieser Zeit: Hergé und André Franquin! Beide haben mit ihrem jeweiligen Stil eine Schule geprägt, die das Bild ihrer jeweiligen Magazine geprägt hat. Was für Tintin die Ligne claire war, war für das Spirou-Magazin die Ecole Marcinelle. Obwohl sich im Frühjahr der Geburtstag Franquins zum 100. Mal jährt, gibt es auf Deutsch relativ wenig Sekundärmaterial über ihn und sein Werk.
Bei unseren westlichen Nachbarn sind im Laufe der Zeit viele Bände zu Franquin erschienen, die Comics und redaktionelle Beiträge enthalten. Auf Deutsch ist fast der gesamte Schatz noch zu heben. Die Bravo Brothers machen den Anfang! Zunächst ist die Geschichte sorgfältig restauriert in Farbe abgedruckt, dem folgt eine kommentierte nicht-kolorierte Ausgabe. Jeweils eine geinkte Seite wird von entsprechenden Kommentaren von José-Louis Bocquet und Serge Honorez begleitet.
Für alle, die Franquin besser verstehen wollen!
Gerade die schwarz-weißen Seiten erlauben den Leser*innen nachzuvollziehen, wie die Seiten komponiert sind. Farbe lenkt oft von den Kleinigkeiten ab, die das Funktionieren erst möglich machen. Die im launischen Erzählton geschriebenen Kommentare erklären teilweise Hintergründe, führen aber oft auch von einer Kleinigkeit in einem Panel an wichtige Umstände des Lebens von Franquin.
Natürlich ist der Preis nicht gering! Für jemand, der/die keine Möglichkeit hatte, die französischen oder niederländischen Ausgaben zu genießen, schließt diese Ausgabe aber endlich eine Lücke. Es ist kein Werk über Comics, das dann doch einige abschreckt, sondern es geht anhand einer Geschichte auf viele Aspekte ein! Ein unbedingter Top-Tipp!
Dazu passen Nick Cave mit “A rainy night in Soho“ und ein Witbier.
Während eine ganze Reihe von klassischen Comicserien mittlerweile in neue künstlerische Obhut gewandert sind, ist eine der wohl bekanntesten Reihen, Tim und Struppi, (im Original Tintin et Milou) davon ausgeschlossen. Es wird keine neuen Geschichten geben. Finanziell ist das natürlich weniger einträglich und so müssen andere Wege gesucht werden. Das können spezielle Ausgaben zu bestimmten Anlässen sein, aber auch erstmals kolorierte Fassungen. In diesem Fall hat man sich dazu entschlossen, die Originalfassung der Geschichte nach rund 60 Jahren aus den Archiven zu holen und den Fans zu präsentieren.
Ein Krimi mit Humor
Hergé publizierte jahrelang die neuen Tim-Geschichten in dem namensgleichen Tintin-Magazin (die niederländischen Ausgabe hieß Kuifje) mit jeweils einer Seite pro Woche, bevor er dann rückblickend das Ganze überarbeitete und als Album publizierte. Diese wiederum waren dann die Grundlage für die Übersetzungen und Lizenzierungen in andere Länder und bilden daher den heute bekannten Kanon. Diese Sonderausgabe aber enthält das Abenteuer in seiner ursprünglichen Form, natürlich sorgfältig restauriert. Wer mag, kann sich daher das Softcover der regulären Reihe neben dieses Hardcover legen und Bild für Bild vergleichen. Für alle anderen ist die Einleitung gedacht, die eine Einführung in die Geschichte, Hergés Arbeitsweise und die Rezeption gibt.
Die Story enthält einige wiederkehrende Slapstick-Momente: wie so oft ist das Telefon eine Quelle der Verwechslung, wie auch die Schwerhörigkeit Professor Bienleins. Dazu ist eine Treppenstufe beschädigt, die nicht nur das Thema der Verlässlichkeit der Handwerker aufgreift, sondern auch eine Begründung dafür gibt, dass alles auf das Schloss konzentriert bleibt. Haddock verstaucht sich den Knöchel und ist wegen des entsprechenden Gipses nicht mobil. Er kann daher auch nicht fliehen, als sich die Castafiore bei ihm einquartiert und für reichlich Verwirrung sorgt.
Foto Hergé
Nicht nur, dass Reporter zugegen sind, die Andeutungen zu Sensationen aufbauschen, die Sängerin hat auch noch Personal mitgebracht. Als schließlich die Juwelen der Sängerin verschwinden, ist Jede*r verdächtig. Für Schulze und Schultze stehen die Schuldigen allerdings auch ohne Untersuchung fest, es können nur die „Landfahrer“ sein, die im Schlosshof campieren.
Ligne Claire goes Pop Art
Hergé ist der die Richtung vorgebende Vater der Ligne Claire, die lange für alle Zeichner im Tintin-Magazin Vorgabe war. Natürlich hält er sich selbst ebenso an diese Linie, die für Klarheit steht. Privat jedoch war er ein Verehrer der Pop-Art wie im ausgezeichneten, einführenden Vorwort zu lesen ist. In den Juwelen der Sängerin nutzt Hergé eine – nicht fehlerfrei funktionierende – Erfindung des Professors, um Anklänge an diese Stilrichtung im Comic aufnehmen zu können. Es scheint ihm Spaß gemacht zu haben!
Ansonsten ist die Geschichte ein Meisterwerk. Wie ein Theaterstück spielt es an einem Ort, der entsprechend durchdacht sein muss, um Unstimmigkeiten zu vermeiden. Er hat daher für diesen Band erstmals eine Architekturskizze des Schlosses entworfen, die etwas anders ist als in früheren Bänden. Die Bildkompositionen sind absolut stimmig und die Skizzen im ersten Teil zeigen, wieviel Arbeit in ihnen steckt.
Cover der regulären Ausgabe
Ein Geschenk für Fans!
Wenn immer wieder neue Fassungen von bekanntem Material veröffentlicht werden, stellt sich unweigerlich die Frage, ob das mit Mehrwert versehen ist oder aber reine Geldschneiderei. In diesem Fall ist die Sache für mich klar: Die Ausgabe zeigt in ihrem Vorwort Einblicke in den Schaffensprozess von Hergé, die den meisten Fans nicht bekannt sein dürften. Und sie erlaubt durch den Vergleich mit der regulären Fassung ein Verständnis für das, was der akribische Künstler nachträglich an sich zu bemängeln hatte.
Natürlich eignet sich der Band so kurz vor den Festtagen auch als Geschenk. Tim und Struppi ist immer noch regelmäßig in den Jahresbestenlisten vertreten und so dürfte es an geeigneten Kandidat*innen für ein Präsent nicht fehlen. Die Aufmachung tut ein Übriges, um das Buch wertig zu machen!
Dazu passen Kate Bush mit “ And Dream of Sheep“ und ein Merlot.
Fantasy ist oft verbunden mit dem Genre der Jugendliteratur: Der kleine Hobbit, Harry Potter, Quendel und viele andere Werke haben den Weg in die allgemeine Wahrnahme aus dieser Nische heraus gestartet. Mittlerweile sind die meisten Titel aus diesem Segment young-adult-Geschichten, in der ein großer Anteil an „Romance“ enthalten ist. Wynd beginnt dagegen eher klassisch. Aber die Serie würde nicht bei BOOM! erscheinen, wenn es keine Besonderheiten gäbe.
Fantasy meets Coming of Age
Die Geschichte, von der bereits 3 Bände angekündigt sind, beginnt in Pipetown. Die Stadt wird regiert von einem König und hat alles, was man von einer Stadt, die in einem früh-industriellen Setting existiert, erwartet. Allerdings hat sie sich gegenüber der Außenwelt abgeschottet und alles Magische verboten. Ein Verstoß gegen die strengen Regeln kennt nur eine Strafe: den Tod!
Wynd ist ein Junge, der gerne mal Regeln missachtet, neugierig ist und oft einen neuen Spaß ausbaldowert. Er muss allerdings sehr gut aufpassen, denn er hat spitze Ohren und damit magisches, also seltsames Blut. Normalerweise kann er damit gut umgehen und seine Ohren unter den wilden Haaren verstecken, doch es geht das Gerücht, dass der bandagierte Mann auf dem Weg in die Stadt ist.
Dieser ist ein Jäger allen Magischen und er muss sich nicht nur auf seine Augen verlassen, er kann angeblich Magie riechen. Wynd bleibt daher nichts anderes übrig, er muss fliehen. Zusammen mit seiner Schwester Oakley schmiedet er einen Plan. Und dann ist da auch noch die Liebe, denn Wynd schwärmt für den Sohn des Gärtners, Thorn, an dem aber auch jemand anders Gefallen gefunden hat.
Dynamische Zeichnungen
Michael Dialynas lebt in Griechenland, arbeitet aber trotzdem hauptsächlich für amerikanische Verlage und hat etwa Teenage Mutant Ninja Turtles gezeichnet, aber auch die DC Gotham Academy. Wynd ist seine zweite Serie zusammen mit James Tynion IV. Seine Panel sehen ein wenig so aus, als ob sie Standbilder einer animierten TV-Show währen, haben aber viel mehr Details als diese. Trotzdem wirken die Figuren manchmal wie auf einer Ebene vor dem Hintergrund und nicht wirklich integriert.
Abgesehen davon sind die Zeichnungen aber sehr dynamisch und treiben die Geschichte voran. Schnelle Schnitte, die zudem unterschiedliche Perspektiven enthalten, verleiten dazu, der Story mit hohem Tempo zu folgen. Manchmal kann es daher hilfreich sein, innezuhalten und ein wenig zurückzugehen, um die Details ebenfalls aufzunehmen.
Gute Alternative!
Die Geschichte gefällt mir gut. Es geht weniger um den Reiz des „Bad Boy/Girl“-Ansatzes. Ein Junge, der anders ist, da er seltsames Blut in sich hat, muss mit seiner feindlichen Umwelt klarkommen, ja sich sogar vor ihr verstecken. Dieses klassische Thema wird hier sehr modern angegangen und mit viel alltäglichem Humor präsentiert. Gerade diese Kleinigkeiten halten die Leser*innen bei der Stange und machen den Unterschied zu vielen anderen Reihen.
Das Thema Liebe/Romance wird sicherlich in den späteren Bänden noch eine größere Rolle einnehmen. Bisher ist es dankenswerter Weise eher Schwärmerei und macht die Figuren glaubwürdig, dominiert aber nicht. Da eher Jungen die Zielgruppe sind, wäre zu viel davon auch eher abschreckend. Wer diese zum Lesen anhalten möchte, könnte zu Nikolaus oder Weihnachten durchaus einen Versuch mit diesem Serieneinstieg wagen.
Dazu passen The Fortunes mit “ You’ve Got Your Troubles, I’ve Got Mine“ und ein KiBa.
Zwar ist es draußen noch zu warm, die meisten Blätter sind noch an den Bäumen, und doch naht sie mit großen Schritten: die Weihnachtszeit! Das bedeutet, dass es Lebkuchen zu kaufen gibt, Adventskalender gesucht oder gefüllt werden müssen und natürlich auch, dass es Weihnachtsbücher gibt! Die Weihnachtsgeschichte von Charles Dickens ist ein gern gesehener Klassiker, der immer wieder auch zu Interpretationen einlädt. Die erfolgreichste ist wohl Onkel Dagobert, die neueste ist Elizabeth Scrooge!
Die Geister der Weihnachten …
Die Heldin, Elizabeth Scrooge, ist wie ihr Namensvetter eine reiche, selbstsüchtige Person, die nur sich selbst und ihren Reichtum sieht. Weihnachten hält sie für ausgemachten Blödsinn, Spenden für arme, hungernde Kinder sogar für gefährlich. Schließlich würde man ihnen ja nicht helfen, sondern nur neue Kriminelle heranzüchten.
Tatsächlich gibt sie ihrem Angestellten den 25. Dezember frei, allerdings nur weil sie befürchtet, dass der zu erwartende Shitstorm noch geschäftsschädigender wäre. Natürlich kommt es aber, wie es kommen muss: Der Geist ihres verstorbenen Geschäftspartners kündigt ihr an, dass drei Geister der Weihnacht sie aufsuchen werden.
Ohne der Geschichte vorgreifen zu wollen, lässt sich doch sagen, dass Munuera nicht einfach nur Altbekanntes wiederholt. Seine Ms. Scrooge ist wortgewaltig und lässt sich nicht einfach so emotional erpressen. Sie klagt an und fragt, wo denn in ihrer Vergangenheit die Liebe gewesen wäre. Großartig!
Romantische Stimmung
Munuera ist nicht nur ein vielbeachteter Szenarist, sondern genauso oft selbst als Zeichner tätig (Spirou, Blaue Boys, Rostige Herzen). Teilweise muss er dabei den Vorgaben der Serie folgen. Wo er aber freie Hand hat, kommt immer wieder seine romantische Ader zum Vorschein. Er liebt das Märchenhafte, Angedeutete, aber auch Gruselige. Immer wieder treffen bei ihm harte Realität und schöne Bilder aufeinander und schaffen so den Eindruck, dass er das Leben selbst abbildet.
Da die Geschichte zu wesentlichen Teilen während der Nacht spielt, ist die Grundfarbe Anthrazit. Sie wird sowohl durch den fallenden Schnee als auch durch die verschiedenen Lichtquellen aufgehellt, erlaubt es aber gleichzeitig den Geistern durchzuschweben ohne etwas zu verändern. Sehr gut gelöst! Die Geschichte ist auf jeden Fall geeignet, mehrfach gelesen zu werden, um sich jeweils auf andere Aspekte zu konzentrieren!
Nicht nur als Geschenk für die Vorweihnachtszeit ein Top-Tipp!
Den Bogen schlagend zur angebrochenen Vorweihnachtszeit und dem Suchen nach guten Geschenkvorschlägen ist Eine Weihnachtsgeschichte unbedingt eine Empfehlung! Sowohl für das Fest als Solches, da Geschichte und Artwork von herausragender Qualität sind, aber auch zur Vorbereitung, zum Vor- oder Selberlesen und damit eben auch zum In-Stimmung-Kommen.
Der Band ist ein überlanges Hardcover und damit preislich vielleicht am oberen Ende, aber noch angemessen. Die Zeichnungen füllen teilweise eine ganze Seite und wären auch als Druck eine Möglichkeit gewesen.
Dazu passen Slade mit “Merry Xmas Everybody“ und ein Glühwein.
Gute Autobiographien erlauben einen Einblick in das Seelenleben des Künstlers, lassen die Leser*innen nachvollziehen, warum wann welche Entscheidungen getroffen wurden, und sparen auch die Fehlentscheidungen des Lebens nicht aus. Möglicherweise ermutigen sie sogar andere, einen ähnlichen Weg einzuschlagen. Schlechte dagegen dienen nur der Selbstbeweihräucherung. Das Tagebuch der Unruhe gehört meiner Meinung nach in die erste Kategorie!
Aber ich möchte Comiczeichner werden …
Der Autor, Ersin Karabulut, zählt heute zu den bekanntesten und erfolgreichsten türkischen Comickünstlern. In dieser mehrteiligen Graphic Novel erzählt er nicht nur, warum er Comiczeichner werden wollte, er beschreibt auch die Schwierigkeiten auf dem Weg dahin. Geboren und aufgewachsen ist er in Istanbul. Diese Stadt war damals einerseits die modernste und offenste des ganzen Landes, gleichzeitig aber auch ein Beispiel für die traditionelle Türkei.
Die Jugend Karabuluts war geprägt von durchaus gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen linken Säkularisten, die aufbauend auf Atatürk eine moderne, dem Westen zugeneigte Türkei wollten, und den islamistisch orientierten rechten Kräften, die einen Gottesstaat wollten. Wer immer am öffentlichen Leben teilnehmen wollte, konnte davon ausgehen, dass mindestens eine der Seiten ihn gewinnen und benutzen wollte. Das führte oft zwangsläufig zu mindestens angedrohten Gegenmaßnahmen der anderen Seite.
Ersin Karabuluts Eltern hatten große Pläne mit und für ihren Sprössling. Er sollte es einmal besser haben und so wurde der Plan ausgearbeitet, einen Ingenieur aus ihm zu machen. Schon als kleiner Junge las dieser allerdings immer wieder Comics und träumte davon, später einmal Comiczeichner zu werden. Ein großer Teil der Story handelt davon, wie er seine Eltern schließlich überzeugen konnte und seinen Weg vom Bewunderer und Kopisten zum eigenständigen Zeichner gegangen ist. Dabei spart er auch nicht mit Kritik an seinem eigenen Verhalten, denn der frühe Starruhm hatte aus ihm nicht unbedingt einen besseren Menschen gemacht.
Politische Cartoons
Am Anfang vieler Zeichner*innenkarieren stehen selten Bilderzählungen. Meistens beginnt es damit, die eine oder andere Zeichnung in zumeist kleinen Publikationen unterzubringen und sich langsam, aber stetig zu verbessern. Ersin Karabulut ist einen ähnlichen Weg gegangen. Die meisten Magazine in der damaligen Türkei, die für solche Zwecke in Frage kamen, waren aber der politischen Satire verpflichtet. Zwangsläufig nahmen die dort Publizierenden damit Stellung im Konflikt zwischen Rechts und Links.
Durch den Aufstieg der religiösen Parteien wurde allerdings der Spielraum für solche Provokationen immer kleiner und der erste Teil endet damit, dass Karabulut eine Wahl treffen muss: Will er mit seinen Zeichnungen, die nicht schön sind, den Kern der Materie aber sehr genau treffen, Kritik an den herrschenden Verhältnissen üben, oder will er sich in das Private, Unverfängliche und damit Zustimmende zurückziehen.
Eine politisch brisante Frage
Natürlich ist diese Autobiographie zunächst einmal nur der Beginn einer Darstellung des Werdegangs eines bekannten Künstlers. Die Stationen werden deutlich, der Kampf gegen die traditionelle Kultur, die Comics nicht als etwas Wertvolles akzeptiert, und somit auch das Erwachsenwerden. Dazu gehört es Entscheidungen zu treffen, auch wenn sie falsch sind.
Daneben gibt es aber die politische Dimension. Der Band nimmt klar Stellung und erzählt aus persönlicher Sicht wie sich das Land von einer säkularen Idee zu einer islamistischen hin verändert hat. Waren die Demokratie und persönliche Freiheiten vorher das Ziel, stehen nun Gottgefälligkeit und Konformität im Vordergrund. Ein Beitrag der mit Sicherheit sehr kontrovers aufgenommen werden wird.
In der Mitte der kleinen „Reiseecke“ ein weiterer Klassiker: Der Mord im Orient-Express ist eines der bekanntesten Bücher von Agatha Christie und schon mehrfach verfilmt worden. Die Handlung spielt größtenteils in einem Zug; die Reisenden sind im Winter des Jahres 1937 unterwegs als ihr Gefährt in einer Schneewehe steckenbleibt. Vorausgegangen war der Beginn einer Reise um die Welt mit Marc Dacier, folgen wird die Reise durch das Weltall auf einer künstlichen Welt.
Ein Mord in einem Zug
Die meisten kennen die Story wahrscheinlich bereits: Ein Passagier eines Luxuszuges, eben des Orient-Express, wird während der Nacht ermordet. Der Zug kann aufgrund der Witterungsbedingungen nicht weiterfahren und der Privatdetektiv Hercule Poirot übernimmt die Aufgabe, den oder die Täter*in zu ermitteln. Da die Reisenden die Wagons nicht wechseln können ist die Anzahl der in Frage kommenden Personen sehr übersichtlich.
Es stellt sich schnell heraus, dass der getötete Amerikaner unter falschem Namen reiste. In Wirklichkeit war er der Gangster, der für die Entführung und Tötung eines kleinen Mädchens verantwortlich war. Nachdem Daisy Armstrong, so ihr Name, tot aufgefunden worden war, erlitt die Mutter eine Fehlgeburt und verstarb, der Vater konnte mit dem Verlust nicht umgehen und beging Selbstmord.
Benjamin von Eckartsberg hat den Roman von Agatha Christie so aufbereitet, dass den Leser*innen einerseits alle nötigen Details mitgeteilt werden, andererseits die grafischen Elemente eines Comics zu ihrem Recht kommen. Die unwirtliche Natur, die Enge des Raumes und die Spannung darf nicht erklärt werden, sondern muss sich aus der Situation ergeben. Zudem dürfen diejenigen, die den Inhalt schon kennen nicht gelangweilt werden. Das gelingt hier sehr gut!
Nostalgisch, aber nicht altmodisch
Chaiko hat die unangenehme Aufgabe, Leser*innen zu befriedigen, die eine genaue Vorstellung vom Aussehen der Handelnden haben. Er muss also weit genug am Bekannten bleiben, um niemanden zu enttäuschen, muss aber weit genug entfernt davon sein, um die Geschichte seines Szenaristen erzählen zu können und nicht eine bebilderte Nacherzählung eines Films abzuliefern. Diese Gradwanderung gelingt.
Die Personen sind natürlich in gewisser Weise Stereotypen – wie auch im Original. Der Franzose würde in jedem Quiz als solcher erkannt werden, die englische Lebensart und auch die deutsche sind grafisch deutlich zu erkennen. Das Layout ist relativ streng, erlaubt es doch nur rechteckige Panel. Ihre Anordnung ist allerdings durchaus flexibel.
Ein Tipp für Weihnachten
Wir nähern uns der Zeit des Jahres, die der besinnlichen vorausgeht, dem Einkaufen von Weihnachtsgeschenken. Dieser Band ist als Geschenk für Krimiliebhaber*innen durchaus geeignet. Er ist eine grafisch gelungene, spannende Adaption eines Bestsellers, der in einer ansprechenden Form als Hardcover dargeboten wird.
Man darf gespannt sein, welche Werke der Autorin noch folgen werden, ist Mord im Orient-Express doch als erster Band der Reihe Agatha Christie Classics angekündigt.
Dazu passen Nina Simone (etwa I love to love)) und ein Dalmore.
Es gibt nur wenige Musiker*innen, die so bekannt sind, dass wirklich jede*r (ab einem gewissen Alter) den Namen schon einmal gehört hat. Das bedeutet nicht unbedingt, dass man die Musik auch mag, man hat sie aber auf jeden Fall im Ohr. Immer häufiger erscheinen zu diesen Künstler*innen auch (auto-)biographische Comics, etwa zu Marylin Monroe, David Bowie, Iron Maiden, KISS oder den Sex Pistols. Aus Anlass des zwanzigsten Todestages von Johnny Cash erscheint das Werk von 2006 in Neuausgabe.
Authentizität und Abstürze
Johnny Cash galt zeitlebens als einer, dem man seine Songs „abnahm“. Ihm wurde geglaubt, dass die Seelenpein, der Schmerz, die Einsamkeit und alles andere nicht nur Bausteine zu einem Erfolgshit waren, sondern selbst erlebte, zumindest aber selbst gefühlte Wahrheiten. Die Jugend des Sängers in eher marginalisierten Verhältnissen hat dazu mit Sicherheit vieles beigetragen. Cash war selbst im Knast, kannte Schlägereien nicht nur vom Hörensagen und konnte das Kindergeschrei im Nachbarzimmer nebst frustrierter Ehefrau gut beschreiben.
Der endgültige Durchbruch war der Auftritt im Gefängnis von Folsom vor einer Gruppe von Schwerkriminellen. Dieses – aufgenommene und daher immer wieder abspielbare – Konzert mit einer ganz eigenartigen Stimmung prägte den Erfolg des Man in Black. Mindestens genauso prägend waren aber die Exzesse des Musikers, seine konstanten Drogen- und Alkoholprobleme und seine innere Zerrissenheit.
Kleist beschreibt dieses Dilemma des Mannes, der weiß, dass er sich überfordert und doch nicht anders kann, sehr glaubhaft und ohne eine Wertung. Weder die erste Ehe noch die zweite mit June Carter haben ihn zu irgendetwas gezwungen. Und doch lagen musikalischer Erfolg und Glaubwürdigkeit und persönliche Niederlage sehr dicht beieinander.
Ungeschminkter Realismus
Reinhard Kleist hat im Laufe der Zeit bereits mehrere „Rock-Stars“ portraitiert. Cash war seine erste Arbeit, Nick Cave und David Bowie sollten folgen. Während letzteres fast schon zu poppig ist, ist Cash in realistischem schwarz-weiß gehalten. Lediglich ein senf-gelbes Ocker gesellt sich von Zeit zu Zeit hinzu und unterstützt.
Während die Story sehr realistisch gezeichnet ist, werden die eingestreuten Songtexte so in den Kontext aus Wort und Bild eingearbeitet, dass man beim Lesen nicht nur den Inhalt liest, sondern auch die Musik im Hintergrund „sehen“ kann. Natürlich hilft es dabei ungemein, wenn man die Stücke schon einmal gehört hat. Aber, um zum Eingangsstatement zurückzukommen: Cash kennt eigentlich jede*r.
Kleist selbst schreibt zu der Neuausgabe: „Ich habe den „Cash“-Band für die neue Ausgabe noch einmal von vorne bis hinten durchgearbeitet und habe nur an einigen Stellen den Text noch etwas verändert und angepasst. Ich glaube, nach mehrmaligem Durchlesen kann ich sagen, dass ich damals einen guten Job gemacht habe. Dramaturgisch würde ich nichts mehr ändern wollen. Das Buch hält eine gute Balance aus biografischen Fakten, Spannung und emotionaler Tiefe. Nur bei ein paar Panels habe ich dann doch gemerkt, dass ich mich zeichnerisch weiterentwickelt habe.“
Wohlwollend, aber nicht kritiklos
Werke über einen Star sind oft eine gewisse Gratwanderung. Sind sie zu positiv, wird unterstellt, dass es reine Lobhudelei sei. Sind sie zu kritisierend, ist es von Neidern verfasst worden. Kleist schafft meines Erachtens nach den Königsweg, verschweigt er doch weder die persönlichen Entgleisungen des Musikers noch seine Sucht, lässt andererseits aber keinen Zweifel an der Genialität und der Einfühlsamkeit des Mannes.
Passend zum 20-sten Todestag von Johnny Cash am 12. September 2023 bringt Carlsen eine überarbeitete, ergänzte Neuausgabe des Werkes heraus. Die Schmuckfarbe lässt einige der Szenen noch intensiver erscheinen und die zusätzlichen Zeichnungen stellen eine tolle Ergänzung dar. Zudem haben andere Länder schon lange vor uns begriffen, dass das Hardcover eigentlich die richtige Präsentationsform für Comics ist, die nicht nach einmaligem Lesen weitergereicht werden sollen.
Dazu passen natürlich Johnny Cash (Folsom Prison Blues) und ein Sierra Nevada Kellerweis.