Kleist – Cash

I see a Darkness

Story: Reinhard Kleist

Zeichnungen: Reinhard Kleist

Originalausgabe

Carlsen Comics

Hardcover Book | 224 Seiten | s/w + Sonderfarbe | 26,00 €
ISBN: 
978-3-551-76000-5

Cover Kleist Cash

Es gibt nur wenige Musiker*innen, die so bekannt sind, dass wirklich jede*r (ab einem gewissen Alter) den Namen schon einmal gehört hat. Das bedeutet nicht unbedingt, dass man die Musik auch mag, man hat sie aber auf jeden Fall im Ohr. Immer häufiger erscheinen zu diesen Künstler*innen auch (auto-)biographische Comics, etwa zu Marylin Monroe, David Bowie, Iron Maiden, KISS oder den Sex Pistols. Aus Anlass des zwanzigsten Todestages von Johnny Cash erscheint das Werk von 2006 in Neuausgabe.

Authentizität und Abstürze

Johnny Cash galt zeitlebens als einer, dem man seine Songs „abnahm“. Ihm wurde geglaubt, dass die Seelenpein, der Schmerz, die Einsamkeit und alles andere nicht nur Bausteine zu einem Erfolgshit waren, sondern selbst erlebte, zumindest aber selbst gefühlte Wahrheiten. Die Jugend des Sängers in eher marginalisierten Verhältnissen hat dazu mit Sicherheit vieles beigetragen. Cash war selbst im Knast, kannte Schlägereien nicht nur vom Hörensagen und konnte das Kindergeschrei im Nachbarzimmer nebst frustrierter Ehefrau gut beschreiben.

Kleist Cash pages 3&4

Der endgültige Durchbruch war der Auftritt im Gefängnis von Folsom vor einer Gruppe von Schwerkriminellen. Dieses – aufgenommene und daher immer wieder abspielbare – Konzert mit einer ganz eigenartigen Stimmung prägte den Erfolg des Man in Black. Mindestens genauso prägend waren aber die Exzesse des Musikers, seine konstanten Drogen- und Alkoholprobleme und seine innere Zerrissenheit.

Kleist beschreibt dieses Dilemma des Mannes, der weiß, dass er sich überfordert und doch nicht anders kann, sehr glaubhaft und ohne eine Wertung. Weder die erste Ehe noch die zweite mit June Carter haben ihn zu irgendetwas gezwungen. Und doch lagen musikalischer Erfolg und Glaubwürdigkeit und persönliche Niederlage sehr dicht beieinander.

Kleist Cash pages 12 & 13

Ungeschminkter Realismus

Reinhard Kleist hat im Laufe der Zeit bereits mehrere „Rock-Stars“ portraitiert. Cash war seine erste Arbeit, Nick Cave und David Bowie sollten folgen. Während letzteres fast schon zu poppig ist, ist Cash in realistischem schwarz-weiß gehalten. Lediglich ein senf-gelbes Ocker gesellt sich von Zeit zu Zeit hinzu und unterstützt.

Während die Story sehr realistisch gezeichnet ist, werden die eingestreuten Songtexte so in den Kontext aus Wort und Bild eingearbeitet, dass man beim Lesen nicht nur den Inhalt liest, sondern auch die Musik im Hintergrund „sehen“ kann. Natürlich hilft es dabei ungemein, wenn man die Stücke schon einmal gehört hat. Aber, um zum Eingangsstatement zurückzukommen: Cash kennt eigentlich jede*r.

Kleist Cash pages 16/17

Kleist selbst schreibt zu der Neuausgabe: „Ich habe den „Cash“-Band für die neue Ausgabe noch einmal von vorne bis hinten durchgearbeitet und habe nur an einigen Stellen den Text noch etwas verändert und angepasst. Ich glaube, nach mehrmaligem Durchlesen kann ich sagen, dass ich damals einen guten Job gemacht habe. Dramaturgisch würde ich nichts mehr ändern wollen. Das Buch hält eine gute Balance aus biografischen Fakten, Spannung und emotionaler Tiefe. Nur bei ein paar Panels habe ich dann doch gemerkt, dass ich mich zeichnerisch weiterentwickelt habe.“

Wohlwollend, aber nicht kritiklos

Werke über einen Star sind oft eine gewisse Gratwanderung. Sind sie zu positiv, wird unterstellt, dass es reine Lobhudelei sei. Sind sie zu kritisierend, ist es von Neidern verfasst worden. Kleist schafft meines Erachtens nach den Königsweg, verschweigt er doch weder die persönlichen Entgleisungen des Musikers noch seine Sucht, lässt andererseits aber keinen Zweifel an der Genialität und der Einfühlsamkeit des Mannes.

Passend zum 20-sten Todestag von Johnny Cash am 12. September 2023 bringt Carlsen eine überarbeitete, ergänzte Neuausgabe des Werkes heraus. Die Schmuckfarbe lässt einige der Szenen noch intensiver erscheinen und die zusätzlichen Zeichnungen stellen eine tolle Ergänzung dar. Zudem haben andere Länder schon lange vor uns begriffen, dass das Hardcover eigentlich die richtige Präsentationsform für Comics ist, die nicht nach einmaligem Lesen weitergereicht werden sollen.

Kleist Cash page unknown

Dazu passen natürlich Johnny Cash (Folsom Prison Blues) und ein Sierra Nevada Kellerweis.

© der Abbildungen Reinhart Kleist, Carlsen Verlag GmbH, Hamburg 2023

Comixene 145

Winter 2022 (Jan – Mrz 2023)

Hrsg: Rene Lehner
Comixene erscheint alle drei Monate

Verlag Rätselfactory – comixene.com

A4 Klebebindung | 100 Seiten | Farbe | 10,00 €
ISSN: 
0948-4523

Cover comixene 145

Comixene ist eines der ältesten deutschsprachigen Blätter mit Beiträgen über Comics und wurde von Rene Lehner, Andreas C. Knigge, Hartmut Becker sowie dem mittlerweile verstorbenen Thilo Rex geründet und herausgegeben. Mittlerweile ist Rene Lehner der alleinige Chefredakteur und Herausgeber in Personalunion. Das vollfarbige Magazin erscheint mit schöner Regelmäßigkeit vier Mal im Jahr! Genügend Gründe, um einen vertieften Blick darauf zu werfen:

Ein breites Spektrum an Beiträgen

Schon ein Blick auf das Cover mit einer sehr schönen Illustration von Jean Graton aus der Pre-Michel-Vaillant-Ära verdeutlicht, dass die Comixene ein breites Spektrum abdeckt. Neben Comic-Klassikern aus der frankobelgischen Hochzeit finden sich dort auch Themen aus dem Horror-Spektrum, Superhelden, Musik-Comics und, nicht zuletzt, deutscher Satire. Anders formuliert: Das Spektrum ist nicht eingeschränkt auf eine bestimmte Altersgruppe, Fan-base oder sonstige Schublade!

Detail comixene 145 page 6

Die einzelnen Artikel sind sorgfältig recherchiert und bieten in lockerem, leicht verständlichem Ton Informationen zu Künstler*innen, Serien oder aber Themen wie den Auftritten von Vaillante im echten (Renn-)Leben. Die Artikel werden dabei in vielen Fällen mit Interviews angereichert und gewinnen durch den Originalton an Verbindlichkeit. Ist es doch nicht die Meinung einer*s Autor*in, sondern authentisch. Besonders deutlich wird das am Beispiel von „Doom Patrol“: Hier steht weniger der Inhalt des Comics im Vordergrund als die persönliche Freude des queeren Übersetzers Josef Rother nicht nur darüber, ausgewählt worden zu sein, sondern auch vom Coming-Out Grant Morrisons gehört zu haben. Es geht auch darum, welchen Einfluss das auf die Übersetzung des Titels und darüber hinaus für das Werkverständnis hat.

Auch Comics über Musik werden mehrfach thematisiert. Peter Osteried führt in die Abenteuer von Eddie the Head, dem Maskottchen von Iron Maiden, ein und findet durchaus positive Worte. Ganz anders Ralf Hutter und Marcus Kirzynowski die an unterschiedlichen Stellen im Heft den Song-Comic zu Keine Macht für Niemand auseinandernehmen. Abgerundet wird das Thema mit zwei weiteren Besprechungen zu den Comics über The Doors und Karlheinz Stockhausen.

Detail comixene 145 page 34

Details und Überblick für Comic-Fans

Während einige Beiträge sich einzelnen Aspekten widmen, sind andere eher geeignet, einen Überblick zu verschaffen. Dazu zählen etwa die Beiträge über das Ende der Jonathan-Reihe und die Neuausgabe der Suche nach Peter Pan von Cosey (auch hier mit Interview-Passagen), die Rubrik mit Neuem von Mäusen und Enten oder die Science-Fiction Welten von Leo.

Bei dem Bericht über die Ausstellung im Frankfurter Caricatura-Museum zum 60. Geburtstag des deutschen Satiremagazins Pardon hatte ich damit gerechnet, dass es sich um ein ergänzendes Feld (Cartoon und Karikatur) handeln würde. Tatsächlich weist Heiner Lünstedt aber darauf hin, dass das Blatt auch mit Comics und Beiträgen von etwa Brösel oder Volker Reiche aufgewartet hat. Ebenfalls etwas für die eher ältere Generation ist der Beitrag über einen neuen Katalog zu Werken von Klaus Dill.

Detail comixene 145 page 41/42

Empfehlung!

Neben diesen ausgewählten Beispielen finden sich viele weitere Artikel sowie News und Rezensionen in dem Heft. Im Gegensatz etwa zur Reddition stehen die Beiträge aber nebeneinander und bilden kein Dossier zu einem Thema. Aufgrund der breiten Streuung vermeidet die Comixene eine Festlegung auf eine Szene und erfordert weder eine jahrelange Zugehörigkeit mit einem fundierten Vorwissen noch hat sie die gewisse Arroganz von manch anderer Publikation.

Das Heft ist damit der perfekte Begleiter für längere Zugfahrten oder gemütliche Abende zu Hause! Sehr professionelle Gestaltung, viele Illustrationen und O-Töne und ein mehr als angemessenes Preis-Leistungs-Verhältnis machen Spaß auf mehr! Wie gut, dass es bis zur nächsten Ausgabe immer nur 3 Monate sind.

Dazu passen Nik Kershaw mit „Wouldn’t it be good“ – etwa in der Aufnahme vom Live Aid – und je nach Location ein Wasser oder ein Bordeaux.

© der Abbildungen bei den jeweiligen Verlagen und Künstlerinnen | Verlag Rätselfactory Lehner, Zürich 2022

Gaiman/Moon, Bá – Wie man auf Parties Mädels anspricht

Aus der Neil Gaiman Bibliothek

Story: Neil Gaiman
Zeichnungen: 
Fábio Moon, Gabriel Bá
Originaltitel: 
How to talk to Girls at Parties

Dantes Verlag

Hardcover | 68 Seiten | Farbe | 18,00 €
ISBN: 978-3-946952-92-3

Cover Gaiman - Wie man auf Parties Mädels anspricht

Neil Gaiman ist so etwas wie ein Superstar. Seine Kurzgeschichten und Romane heimsen regelmäßig Preise ein, seine Graphic Novels werden von Kritiker*innen wie Fans gleichermaßen geliebt und gelobt und die Streaming-Industrie hat die Adaption bereits mehrerer Werke erfolgreich auf den Markt gebracht. Unter dem Label Neil Gaiman Bibliothek erscheinen auf Deutsch Titel sowohl im Dantes Verlag als auch bei Splitter.

Die Unsicherheit eines 15-jährigen und die Poesie

Erinnert sich noch jemand daran, wie er als 15-jähriger war? Irgendwie war der Körper plötzlich größer und anders. Die Gefühle spielten verrückt und die Mädchen, die immer anders aber doch irgendwie auf gleicher Stufe waren, schienen plötzlich Lichtjahre entfernt und komplett unverständlich. Und immer gab es irgendwelche Jungs, die schon „weiter“ waren, mit Mädchen reden konnten und eventuell sogar mehr. Genau das ist die Ausgangsposition von Wie man auf Partys Mädels anspricht.

Gaiman - Wie man auf Parties Mädels anspricht page 3

Enn ist mit seinem Kumpel Vic unterwegs zu einer Party im Londoner Stadtteil Croydon. Vic ist einer derjenigen, die es immer schaffen, gesehen zu werden, die mit Mädels knutschen und dabei (scheinbar) relaxt bleiben. Enn ist das genaue Gegenteil: schüchtern, unerfahren und orientierungslos. Als die beiden ein Haus mit einer laufenden Party betreten, verschwindet Vic dementsprechend auch schnell mit einem Mädchen im Obergeschoss, während Enn versucht, sich an den Ratschlag seines Freundes zu halten: Du musst mit ihnen reden!

Die erste Begegnung wird noch unterbrochen, die zweite entwickelt sich aber. Triolet erklärt dem Jungspund die Kraft der Poesie, das Verschwinden der Grenze zwischen Existenz und Gefühl, sogar das Verschwinden des Ich! Doch plötzlich kommt es zu einer unerwarteten Situation.

Gaiman - Wie man auf Parties Mädels anspricht page 4

Gaiman ist ein Meister der versteckten Anspielungen. Literatur, Geschichte und Musik werden erwähnt und treiben das Verständnis der Story. Dankenswerterweise ist es bei Dantes Usus, dass der Übersetzer Jens R. Nielsen jeden einzelnen dieser versteckten Hinweise in einem Anhang erläutert und alle Leser*innen die mit diesen Themen, den Londoner Eigenarten und der Musik der 70-er nicht vertraut sind, die entsprechenden Hintergründe erklärt. Natürlich ist die Geschichte auch ohne lesbar, die wahre Tiefe erschließt sich aber erst dann. Schon deswegen ist der Band, der 2022 sehr spät erschienen ist, ein Kandidat für die Liste der besten Graphic Novels für 2023!

Poesie in Aquarell

Die beiden Brüder aus Brasilien, Gabriel Bá und Fábio Moon haben die preisgekrönte Erzählung kongenial umgesetzt. Schon lange habe ich keine Zeichnungen mehr gesehen, die so aus sich heraus geleuchtet haben, ohne dabei aufdringlich zu sein. Es ist ein Feuerwerk aus Farben, Figuren und Auflösungen, dass die beiden zu Papier gebracht haben. Mit klaren Strichen strukturiert, fließt doch alles und nimmt die poetische Grundstimmung perfekt auf.

Gaiman - Wie man auf Parties Mädels anspricht page 5

Alles in diesem Werk ist emotional! Dementsprechend sind die Ausdrücke der Gesichter, die Körperhaltungen, die Formen alle Bestandteile der Gesamtkonzeption und ordnen sich der Idee unter. Obwohl viele einzelne Bilder für sich genommen als ExLibris publiziert werden könnten, entfalten sie ihre echte Wirkung doch nur in der Sequenz. Einer der Kommentare auf dem Backcover fragt, wie etwas so Schönes so traurig sein kann, und trifft damit die Umsetzung sehr treffend.

Für alle (heimlichen) Romantiker*innen

Nicht alles von Neil Gaiman ist der gleichen Zielgruppe zu empfehlen. Ein Schwerpunkt seiner Werke sind aber definitiv die diversen Spielarten der Romantik und dieser Band gehört für mich definitiv in jeden Bücherschrank aller derjenigen, die das simultane Vorkommen von absoluter Liebe und seelischem Schmerz brauchen! Ein wenig Kitsch gehört dazu, Musik und Poesie gleichermaßen und ein wenig Außergewöhnliches, vielleicht Überirdisches.

Detail Gaiman - Wie man auf Parties Mädels anspricht page 7

Wer bis hierhin durchgehalten hat, wird diesen Band lieben und sollte einen Blick riskieren: überdurchschnittliche Bilder zu einem Text von einem zu Recht preisgekrönten Autor! Und erneut: Perfekt übersetzt und kommentiert!

Dazu passen die vom Punk zu Dark Wave und irgendwohin mutierten The Stranglers, etwa mit „Golden Brown“, und ein Golden Carolus Classic.

© der Abbildungen 2016, 2022 Neil Gaiman, Fábio Moon, Gabriel Bá, Dark Horse Comics Inc. | 2022 Dantes Verlag, Mannheim

Reddition 74/75 – Comics und Musik

Dezember 2021 – „Rock, Metal & Pop“ sowie „Jazz, Soul & Hip-Hop“

Herausgeber: Volker Hamann
Verlag Volker Hamann, Edition Alfons
Heft Din A 4 | 100 Seiten | Farbe | 15,00 €
ISSN: n/a

Volker Hamann schreibt in seinen einleitenden Worten zur neuen Doppelnummer der Reddition sinngemäß, dass das Thema Comics und Musik schon lange im Gärungsprozess war, die Frage der Realisierung und des Ansatzes aber offenblieb. Nun also hat sich die Redaktion an das Thema herangetraut und sich sogar für einen doppelten Zugang entschieden um eine größere Bandbreite abdecken zu können. Damit gibt es endlich mal wieder eine zweiseitig startbare Ausgabe.

Die Schwierigkeiten

Das Dossier beginnt mit zwei verschriftlichten Gesprächen. Zunächst versuchen Jens Balzer und Michael Hein Parallelen zwischen Pop-Musik und Comics zu erarbeiten, im Guten wie im Schlechten. Und tatsächlich spielen sie ja beide mit Emotionen. Eine zweite Unterhaltung zwischen Peter Lau und Björn Bischoff dreht sich um die Frage, ob man „Musik“ zeichnen kann oder ob nicht eher ähnliche Reaktionen bei den Rezipient*innen das maximal Erreichbare wären? Mit diesem Einstieg ist schon ein Problem des Themas deutlich geworden: ein Fan wird die Frage komplett anders beantworten als ein*e (Comic-/Musik-/Literatur-)Kritiker*in! Oder anders formuliert: Was ist der Maßstab, der ein „Gelungen“ definiert?

Frontcover Reddition 74/75

Im weiteren Verlauf geht es exemplarisch um einige Künstler „im Comic“, die Beatles, David Bowie und KISS. Gegenübergestellt werden diesem thematischem Ansatz Künstler-orientierte Artikel über Reinhard Kleist, Serge Clerc, Frank Margerin, Timo Wuerz, Jamie Delano, Hervé Bourhis und schließlich Ingo Römling. Natürlich kommen dazu eine Unmenge an Illustrationen und Fotos. Die Reddition versucht damit, das Thema Rock, Metal und Pop einigermaßen abzudecken. Die Artikel selbst sind dabei sehr informativ.

Natürlich wird niemand mit dieser Auswahl zufrieden sein. In der Kombination aus zwei Emotionen schaffenden Kunstformen hat jede*r Favorit*innen, die hier nicht auftauchen. Mir fehlen allerdings zwei Themen: Einerseits scheint es hier fast nur männlich getriebene Musik und Comics zu geben. Meiner Meinung nach kann man nicht einerseits Crumb herausstellen und gleichzeitig keine Frau in den Fokus stellen.

Der zweite fehlende Themenblock ist meiner Meinung nach der gesamte Independent-Bereich (außer Crumb). Hier geht es nur um etablierte Künstler (!) auf beiden Seiten, der Bereich des DIY ist in allen Non-Mainstream-Stilrichtungen tragend, findet hier aber nicht mal eine Erwähnung. Es gibt unzählige Comics und comicartige Abbildungen in Millionen von Fanzines und Flyern im Bereich Mod, Punk, Ska, Psychobilly, Rap, Hip-Hop…

Der zweite Schwerpunkt

Von hinten angefangen geht es um die weniger lauten Töne. Die Coverabbildung von Serge Clerc wird begleitet von dem aktuellen Abonnent*innen-Goodie, einem limitierten, signierten ExLibris von Clerc: Sehr schön!!

Backcover Reddition 74/75

Inhaltlich wird das Feld Jazz, Soul & Hip-Hop allerdings noch unsystematischer angegangen. Vince Guaraldi, Loustal, Jacques Ferrandez und Crumb werden in Artikeln gewürdigt und vorgestellt, das Thema Hip-Hop und Comic bekommt 5 Überblicks-Seiten und die Science-Fiction im Schnittfeld Comic/Musik wird reduziert auf Emanon von Wayne Shorter. Natürlich ist das subjektive Interesse eine wesentliche Triebfeder für das Verfassen von Artikeln! Und ebenso natürlich kennen sich Autoren in „ihrem“ Feld auch am besten aus. Hier hätte es sich aber vielleicht angeboten, zunächst Themengebiete zu definieren und dann Autor*innen zu suchen anstelle die Stammautoren Themen definieren zu lassen.

Damit jetzt keine falschen Gedanken aufkommen: Die Artikel sind größtenteils gut geschrieben und layoutet. Als Reminiszenz an Fan-Postillen kann man sogar die sehr schwer lesbare Schrift der Fragen an Timo Wuerz goutieren. Es ist einfach ein Thema, das selbst für eine Doppelnummer der Reddition zu groß ist. Vielleicht sollten daher nicht nur Teile zu klassischer Musik und Oper folgen, sondern auch zu subkultureller Musik. Ebenfalls spannend wäre es sicherlich, mehr zu crossmedialen Projekten zu lesen, etwa War of the Worlds oder Too old to Rock’n’Roll, sowie zu Kindermusicals mit Bildbeilagen.

Empfehlung

Die Reddition ist und bleibt die führende Sekundärzeitschrift in Deutschland! Auch mit Comics und Musik beweist das Redaktionsteam hohen Sachverstand und die Fähigkeit, die gewählten Themen mit einer Vielzahl von Abbildungen zu begleiten. Während aber sonst trotz aller notwendigen Distanz Herzblut zu spüren ist, kommt dieses in der 74/75 nicht so rüber. Möglicherweise wäre hier die eine oder andere Gastautorin gut gewesen.

Reddition 74/75 - Beilage
(c) 2021 Serge Clerc – Beilage zu Reddition 74/75 Foto: Sven Krantz-Knutzen

Auf jeden Fall ist allein schon der Mut zu bewundern, eines der drei Themen zu wählen, die man bei Gesprächen immer vermeiden sollte: Fußball, Religion und Musikgeschmack! Bei allen dreien wird man es nie allen (und im Zweifel noch nicht einmal der Mehrheit) recht machen können. Mit dieser Einschränkung: Well done!

Dazu passen Jethro Tull mit ihrer LP + Comic „Too old to Rock’n’Roll” und ein Festivalbier.

© der Abbildungen 2021 Serge Clerc, 2021 Timo Wuerz / Verlag Volker Hamann 2021

Kleist – Starman

David Bowie’s Ziggy Stardust Years

Story und Zeichnungen: Reinhard Kleist

Originalausgabe

Carlsen Comics

Hardcover |176 Seiten | Farbe | 25,00 €
ISBN: 
978-3-551-79362-1

Cover Kleist Starman

Comics über Musik bzw. Musiker*innen sind seit einigen Jahren in. Lange gab es so etwas nur in kleinen Fanzines für Bands aus verschiedensten Subkulturen. Doch wie immer hat der Mainstream bisher noch jede Innovation vereinnahmt und zu Geld gemacht. Nicht, dass das immer schlimm oder verwerflich wäre! Hier haben wir es mit einem Künstler zu tun, der eine ganze Stilrichtung beeinflusst hat und einem Zeichner, der seine Einfühlungsvermögen in Musiker schon mehrfach bewiesen hat. Allerbeste Voraussetzungen also!

Der langsame Weg in den Wahnsinn

Welcher jugendliche Musiker kennt nicht den Wunsch, erfolgreich, berühmt und reich zu werden? Selbst wenn das Talent ausreichend ist, braucht es viel Glück zur richtigen Zeit. Und: Das Showbusiness verlangt vollen Einsatz. Was aber, wenn das Konzept sich irgendwann verselbstständigt?

Auschnitt aus Kleist Starman 1

Reinhard Kleist beschränkt seine Comic-Biografie über David Bowie auf die Ziggy Stardust-Jahre. Es beginnt Anfang 1972: The Spiders werden am Ende eines Konzertes noch mit Flaschen beworfen. Die Themen stehen aber schon zur Verfügung: Die Welt wird sich selbst vernichten, Gewalt, Chaos, Umweltzerstörung, Atomwaffen und alles, was sich der menschliche Geist sonst noch überlegt hat, werden dafür sorgen. Doch es gibt Hoffnung: Außerirdische werden uns retten! Und David Bowie aka Ziggy Stardust ist genau dieser jene, der die Hoffnung verkörpert.

Im Weiteren geht es immer mehr darum, wie Ziggy fast schon zum Messias aufgebaut wird und seine Fans ihn und die Spiders from Mars vergöttern. Die Geschichte des langsam steigenden Ruhms wird erzählt, die Verbindungen zu Iggy Pop, Andy Warhol und allen Groupies, die um die Helden herumschwirren. Es geht aber auch um den langsam anwachsenden Wahnsinn, den Verlust der eigenen Persönlichkeit im künstlichen Konzept Ziggy und den Versuch, trotz allem Ruhm ein eigenes, ehrliches Leben mit Kind und Frau, Mutter und krankem Bruder zu führen.

Auschnitt aus Kleist Starman 2

Dieser Widerspruch zwischen dem Idol und dem Leben, der schockierenden Androgynität im Drogenrausch und dem kleinstädtischen Leben der Mutter ist das, was Kleists Werk auszeichnet. Es ist nicht die tausendste Lobhudelei, es ist der Versuch, den Menschen zu entdecken, freizulegen und verständlich zu machen.

Die Explosion der Farben und Formen

Nicht nur der Text ist von großem Respekt gekennzeichnet, auch die Bilder zeigen immer wieder einen verletzlichen Bowie. Einerseits kann nichts schrill genug sein, wenn es um Kostüme oder Frisuren geht und auch die Zeichnungen übernehmen das mit grellbunten Farben und Formen. Andererseits ist der Mensch vor dem Spiegel ängstlich und leise.

Auschnitt aus Kleist Starman 3

Sepiatöne für das Private, grelle, schreinernde Farben für das Öffentliche. Stärker können die Gegensätze nicht sein. Dazu kommen teilweise Übernahmen aus dem Pulp mit grob gerasterten Zeichnungen und immer wieder Umsetzungen der Bühnenauftritte, die fast schon an eine filmische Dokumentation erinnern. Reinhard Kleist beweist erneut seine Wandlungsfähigkeit und sein Einfühlungsvermögen!

Nicht nur für Bowiefans eine Empfehlung

Vermutlich wird der Band bei vielen Bowie-Fans unter dem Weihnachtsbaum liegen. Wer sich für die Musik der 70-er Jahre interessiert, wird daran definitiv seine Freude haben, die Zielgruppe ist also weiter als „nur“ die Ziggy-Fans. Wer erst mit den 90-ern angefangen hat, wird sich allerdings fragen, was denn dieser Mainstream-Künstler früher so alles gemacht hat.

Illustration Kleist Bowie

Die Graphic Novel ist aber auch psychologisch Interessierten zu empfehlen: Dr. Jekyll & Mr. Hyde, Dorian Gray und Artverwandtes findet hier eine Entsprechung in der Erschaffung eines Idols für die Massen. Kann ein Mensch den Musikzirkus eigentlich überstehen? (Und natürlich: es geht! Viele haben es aber erst nach Entziehungskuren oder Psychiatrieaufenthalten geschafft.) Zum Glück ist ein weiterer Teil bereits angekündigt.

Das Werk ist im Übrigen auch als Luxusausgabe mit limitiertem handsigniertem Druck erhältlich. Auch die reguläre Ausgabe enthält aber bereits im Anhang ganzseitige Illustrationen.

Cover Kleist Starman Vorzugsausgabe
Cover der limitierten Vorzugsausgabe

Dazu passen logischerweise nur Ziggy Stardust and the Spiders from Mars und ein Korn mit Kirsch.

© der Abbildungen Reinhard Kleist/Carlsen Verlag GmbH · Hamburg 2021.

McCarthy/Parkhouse – Sex Pistols

Die Graphic Novel

Story: Jim McCarthy
Zeichnungen: Steve Parkhouse

Originaltitel: Sex Pistols – The Graphic Novel

Panini Comics
Hardcover | 100 Seiten | Farbe | 19,00 €
ISBN: 978-03-7416-2172-7

Cover Sex Pistols - Graphic Novel

Im Rahmen der Comic-Biographien gibt es auch immer mehr Graphic Novels über Musik. Die Bandbreite reicht dabei von Klassikern über Ikonen der Pop-Welt bis hin zu härteren Stilen wie Metal und Punk. Wie bei ihren bildlosen Geschwistern ist jeweils nur ein schmaler Grad zwischen Fanboy-Lobhudelei und theoretischem Elaborat wirklich für die breite Masse geeignet.

No Future!

Die Sex Pistols waren nicht die ersten auf der Bühne, nicht die ersten mit einem Punk-Album auf dem Markt, nicht einmal welche, die über Jahre hinweg zusammenspielten und doch sind sie so etwas wie Ikonen und fast jede*r Normalbürger*in kennt sie. Insofern ist es fast schon logisch, dass ihre Geschichte die Grundlage eines Comics bildet. 3 Londoner Jungs suchten einen neuen Sänger und finden in John Lydon, der sich Johnny Rotten nennen wird, einen neuartigen Frontmann. Die Jungs sind rotzfrech, pubertär arrogant, strahlen aber etwas Neues aus in dieser so dunklen Zeit in England. Zudem werden sie gemanagt: Auftreten, Musik und Kleidungstil passen perfekt zusammen um dem Image des zerrissenen, aufsässigen und flegelhaften Punks zu entsprechen.

Detail Sex Pistols - Graphic Novel

Der erste Plattenvertrag wird bereits nach der ersten Single gekündigt, der zweite endet mit dem Einstampfen der bereits produzierten 2. Single und es bleibt ein Vertrag mit einem etablierten Label. Währenddessen hatte der Bassist die Pistols bereits wieder verlassen und Sid Vicious war eingestiegen. Die Band hatte fast überall in England Auftrittsverbot und schaffte es doch, zur Nr. 1 der Singlecharts zu werden; Allerdings wurden Bandname und Songtitel verschwiegen und durch ein Nichts ersetzt.

Die anschließende USA-Tournee führte dann bereits zur Auflösung. Die Hälfte der Band nahm in Brasilien mit dem Postrüber Biggs ein paar Titel auf, Sid schaffte es zwischen diversen Entzügen den Klassiker „My Way“ zu interpretieren und danach starb seine Freundin Nancy im gemeinsamen Drogenrausch an einer Stichverletzung. Schließlich endete dann auch Sids Leben und Rotten wurde wieder zu Lydon und wechselte zu PIL.

Jim McCarthy schafft es, diesen Parforceritt in eine lesbare Story zu übersetzen, die Wut und den Frust der Kids dabei genauso ernstnehmend wie die Überforderung durch zu viel Hype und Geld schildernd. Das Scheitern war vorprogrammiert. Ein wenig zu kurz kommt meines Erachtens die Rolle von Vivianne Westwood die sicherlich mehr zu dem Chaos beigetragen hat als hier beschrieben wird.

Sex Pistols

Die Zeichnungen

Steve Parkhouse hatte einen schweren Job denn jede*r kennt die Gesichter der Pistols und die Outfits. Diese so zu zeichnen, dass sie wiedererkannt werden können, gleichzeitig die zweidimensionalen Figuren aber Emotionen ausdrücken können, die im bewegten Bild oder vertont ganz anders rüberkommen würden, ist eine Herausforderung die super gemeistert worden ist.

Die Figuren leben, wirken authentisch und von den Drogen gezeichnet und sind daher stimmig. Das Gefühl der damaligen Zeit, der Kontrast zwischen der etablierten, erstarrten Musikwelt und Gesellschaft und dem vorlauten Chaos kommt gut rüber und zeigt die Energie, die Punk hat(te). Für alle, die damals nicht dabei waren, sicherlich eine gute Darstellung!

Punx not Dead

Aber: So einseitig ist Punk nie gewesen, dass eine Band als Beschreibung funktionieren würde. Schon in den wenigen Aufbruchswochen in London gab es mit The Damned und The Clash ganz andere Entwürfe und seitdem sind unzählige Spielarten dazu gekommen. Während die Pistols die damalige englische Gesellschaft gehasst haben, gingen andere Bands hin und haben Gegenentwürfe präsentiert, Sexismus, Rassismus und Faschismus thematisiert, Religionen und Ernährungsglaubenssätze propagiert und vieles mehr.

Rotten from Sex Pistols

Trotzdem ist der Band eine schöne Erinnerung an einen Teil dieser Geschichte, an Helden, die keine sein wollten und an eine Zeit, nach der nichts mehr werden konnte wie es vorher gewesen war! Also: unbedingt empfehlenswert!

Dazu passen natürlich nichts anderes als billiges Dosenbier, ungekühlt, und „Never mind the bollocks … Here’s the Sex Pistols“!

© der Abbildungen 2008/2012 Omnibus Press by McCarthy, Parkhouse / 2021 Panini Comics

StripGlossy 16 – März 2020

Stripglossy 16 – Songfestival

Herausgeber: Mirjam van der Kaaden & Seb van der Kaaden

Verlag StripGlossy Personalia vof
Heft Din A 4 | 132 Seiten | Farbe | 8,95 €
ISBN: 978-9-49284-070-7

European Song Contest – eine Tradition in vielen europäischen Ländern, die für Party, ausgelassene Stimmung, mehr oder weniger gute Musik und das Warten auf 12 Punkte steht. Deutschland hatte in den letzten Jahren durchwachsenen Erfolg, darf als eines von vier (Zahl-)Ländern aber immerhin jedes Mal in der Hauptrund mitmachen. Die Niederlande haben es da schwerer und müssen sich jeweils qualifizieren. Umso größer war die Freude über den Gewinn im letzten Jahr nach 44 Jahren des Wartens.

Margreet de Heer

Jede Ausgabe des StripGlossy wird von einem/einer Künstler*in betreut und hat daher einen besonderen und persönlichen Schwerpunkt. Margreet de Heer hat für „ihre“ Ausgabe den ESC – bzw. auf Niederländisch das „Songfestival“  – gewählt, das im Mai in Rotterdam hätte stattfinden sollen. Wegen Corona musste es allerdings leider abgesagt werden und so bleibt für dieses Jahr nur die Konserve übrig. Das ist besonders Schade, denn man sieht dieser Ausgabe an, mit wie viel Liebe und Sorgfalt sie gestaltet worden ist.

Das Titelbild ist ein Klappcover, das den Sänger des niederländischen Beitrags Jeangu Macrooy und seine Fans zeigt. Er hat auch noch weitere Auftritte im Heft; der schönste ist ein gemeinsamer mit Lucky Luke in einer Art Rätselcomic! Margreet de Heer hat daneben aber auch noch weitere ESC-Iconen verewigt, etwa Lenny Kuhr, die Gewinnerin von 1969 oder Getty Kaspers, die 1975 mit Teach In gewonnen hatte. Neben weiteren kleinen Strips zu diesem Thema gibt es dann noch eine bildgewaltige Umsetzung des letztjährigen Gewinnersongs „Arcade“ von Duncan Laurence und Floor de Goede.

Margreet de Heer ist aber nicht nur ein Songfestival-Fan, sie ist auch die erste „Stripmaker des Vaderlands“ und somit offizielle niederländische Botschafterin für Comics. Als solche bildet sie wie andere Literat*innen oder bildende Künstler*innen bedeutende Ereignisse der Niederlande ab, nur eben in ihrem Medium. Für Deutschland wäre das wohl noch undenkbar! Das lange und ausführliche Interview mit ihr gibt auch darin weitere Einblicke.

Comics

StripGlossy ist aber auch ein Magazin für Comics: Die hier vorpublizierten Meimoorden erscheinen gerade im ZACK in deutscher Übersetzung und auch Spaghetti hatte hier sein Comeback. Aktuell laufen der lesenswerte Historiencomic über die Kreuzzüge Jelmer mit seinem zweiten Teil, der auf Deutsch bereits bei Splitter erschienene Endzeitthriller von Peter Nuyten Metro 2033, der Krimi Scarlet Edge von Anco Dijkman, die neuen Abenteuer von Tom Poes und Co, die in ein Computerspiel versetzt worden sind sowie eine weiter Geschichte des Klassiker De Generaal von Peter de Smet.

StripGlossy hat viel Text und erfordert daher schon ein wenig Kenntnisse der Sprache um es komplett zu genießen. Dadurch, dass Serien aber teilweise bereits auf Deutsch vorliegen oder aber nachträglich in Übersetzung erscheinen, eignet es sich auch als „Lernhilfe“ der besonderen Art.  Für alle in Deutschland, die ein wenig Niederländisch können, der Toptipp! Für die Niederlande und Flandern inzwischen unverzichtbar und gut etabliert! Und diese Ausgabe ist natürlich ein Muss für alle Songfestival/ESC-Fans in jedem Land!

Dazu passen ein Duvel Tripel Hop und natürlich Jeangu Macrooy mit „Grow“, dem diesjährigen Song der Niederlande.

Abbildungen © 2020 StripGlossy / Personalia vof

March/Spiegelman – Klassiker des Monats August 2019

Das wilde Fest

Text: Joseph Moncure March

Zeichnungen: Art Spiegelman


Rowohlt Verlag
Hardcover | 1995 |112 Seiten | Schwarz/Weiß/Grün | 34,00 DM (vergriffen)
ISBN: 3-498-06290-3

In der Reihe „Klassiker des Monats“ werden Titel oder Serien vorgestellt, die es nicht verdient haben, dem Vergessen anheim zu fallen.

In diesem Monat stelle ich einen Text vor, der schon zu seinem Erscheinen 1994 ein „Klassiker“ war, handelte es sich doch um ein Gedicht aus dem Jahre 1928. Das Gedicht über Queenie, die Blonde inspirierte nach eigener Aussage William Burroughs, den Beat-Poeten, überhaupt erst dazu, selbst zu schreiben. Es handelt von einer Varietedame, ihrem Liebhaber, dem gewalttätigen Clown Burrs, und einer wilden Party.

Art Spiegelman, Schöpfer der Holocaust Graphic Novel Maus und Herausgeber des Underground/Independent Comic-Magazins RAW schuf dazu Illustrationen und gab das Werk 1994 bei Pantheon Books, New York neu heraus. Im engeren Sinne handelt es sich also nicht um einen Comic, sondern um illustrierte Lyrik. Tatsächlich ist aber das Zusammenspiel des Textes und der Zeichnungen so eng, dass es graphische Literatur geworden ist.

Mitte der 90-er Jahre hatten Gebrauchsliteratur-Verlage in Deutschland plötzlich den Comic für sich entdeckt, der damals noch nicht als Graphic Novel gehypt wurde. Insbesondere die amerikanische Independent-Szene hatte es auch dem Feuilleton angetan und so erschien das sehr freizügige Gedicht als wunderschönes kleines Bändchen mit Samtvorsatz und Schutzumschlag.

Die Story

Joseph Moncure March war nicht nur Dichter, sondern auch Journalist, Filmemacher und Drehbuchautor. Seine Liebe für den Jazz, die wilde, treibende neue Musik, die die Säfte zum Kochen brachte und anstelle von reinen Gefühlen die animalischen Triebe in den Vordergrund stellte, bestimmte das Tempo und den Rhythmus seiner Geschichte um das wilde Fest! Von den ersten beiden Zeilen an „Queenie war blond, ohne Alter so eine | Schmiß zweimal pro Tag beim Vaudeville die Beine.“ ist dem Leser klar, dass hier keine Liebesgeschichte erzählt werden wird (obwohl eine enthalten ist).

Die Tänzerin lebt mit ihrem Liebhaber Burrs in einem heruntergekommenen Apartment und verbringt ihre Zeit mit Auftritten, Sex und Alkohol. Nach einem Konflikt mit Burrs, der wider Erwarten gewaltlos endet, beschließen die Beiden, eine Party zu veranstalten. Zu diesem Fest kommen die unterschiedlichsten Paradiesvögel, schnell entwickeln sich wilde, engumschlungene Tänze, musikalische Darbietungen und wildes Geknutsche während der Alkohol in Strömen fließt. Eine der Besucherinnen bringt einen jungen Gentleman mit und Queenie beschließt, diesen um ihren Finger zu wickeln um sowohl ihrer Freundin als auch ihrem Liebhaber eins auszuwischen.

Der Weg vom zarten, aber sehr geplant eigesetzten Augenaufschlag bis zum Spiel der Körper in ihrem Schlafzimmer wird in immer schnelleren Versen beschrieben und natürlich kommt es zur finalen Auseinandersetzung zwischen den beiden Männern.

Das Buch brauchte zwei Jahre, bis es schließlich publiziert werden konnte und landete in einigen Städten der USA sofort auf dem Index. Trotzdem sollte es 1975 mit Raquel Welch verfilmt werden. Schon die erste Veröffentlichung wartete mit einer Illustration als Frontispiz auf, die graphische Begleitung des Textes wurde aber erst durch einen der Stars der Independent-Szene New Yorks, eben Art Spiegelman durchgeführt.

Die Zeichnungen

Die Bilder Spiegelmans erinnern immer ein wenig an Holzschnitte: Harte Kontraste, viel flächige (Nicht-)Farbe und Schraffuren passen perfekt zu der Schwüle der Musik, dem Tempo und dem Nichtbeachten gesellschaftlicher Konventionen. Homosexualität war in den 20-er Jahren kein akzeptiertes Verhalten; im Text von March sind aber sexuelle Ausrichtungen gleichwertig! Einzig eine Vergewaltigung einer Minderjährigen wird als nicht-akzeptabel bezeichnet und somit auch mit Gewalt unterbunden.

Die Bilder bieten jeweils einen kleinen Ausschnitt. Spiegelman versucht nicht, die Szenerie darzustellen, sondern wirft nur Schlaglichter auf Aktionen oder Stimmungen. Vieles bleibt daher weiter der eigenen Fantasie überlassen und doch ist soviel an grafischer Information vorhanden, dass der Taumel und das Zusteuern auf das Crescendo jede*m vor Augen stehen sollte. Als wiederkehrendes Motiv dienen dabei zwei langsam herunterbrennende Kerzen, die fast als Zwischenvorhang dienen.

Das Büchlein müsste antiquarisch einigermaßen gut aufzutreiben sein. Es wurde später auch noch mal als Taschenbuch veröffentlicht, gerade der Samt und der Einband machen aber meiner Meinung nach die Sache erst rund. Zwischen 25 und 30 € werdet ihr auf jeden Fall bezahlen müssen, in perfekter Qualität sogar viel mehr.

Dazu passen heißer Jazz (einfach mal nach Jazz Age oder Roaring Twenties googeln) und Hochprozentiges: Whiskey oder Rum.

Abbildungen und Zitat © 1995 Rowohlt Verlag, Reinbek, © 1994 by Art Spiegelman

Fahrradmod – Klassiker des Monats Juli 2019

Dahmen – Fahrradmod

Story: Tobi Dahmen
Zeichnungen: 
Tobi Dahmen

Originaltitel: Originalausgabe

Carlsen Comics
Hardcover | 480 Seiten | Schwarz-Weiß | 29,99 €
ISBN: 
3-551-76308-2

Warum sollen Klassiker immer verstaubt und alt sein? Sie können auch als relativ neue Werke einen Themenkomplex so gut darstellen, dass anderes daneben verblasst. So ist es mit der autobiographischen Geschichte von Tobi Dahmen aus der Anfangszeit der deutschen Mods. Natürlich gibt es über dieses Genre auch andere Comics, etwa Blue Monday von Chynna Clugston-Majors oder die nur auf Englisch erhältlichen Kindergarten Kids, aber keiner davon ist so treffend. Überhaupt gibt es wenige Bücher über Subkulturen, die eine persönliche Note glaubhaft rüberbringen und nicht von Stars handeln. Dazu gehören etwa die Dorfpunks oder Ostkurve/Kein Weinfest in Tenever.

Aber von Anfang an: Die Modernists oder Mods waren eine aus England auf den Kontinent exportierte Jugendbewegung aus der Arbeiterklasse. Während sie einerseits Prügeleien nicht abgeneigt waren, legten sie andererseits viel Wert auf stilvolle Kleidung für ihre Beat- und Soul-Nighter und motzten gerne ihre Roller mit allem auf, was der Spiegelladen hergab. Später kam als Musikrichtung der Ska hinzu und während ein Teil der Mods immer mehr zu Konsumenten synthetischer Drogen wurde, entwickelten sich auf der anderen Seite über den Zwischenschritt der Hardmods die Skinheads. Gemeinsam ist ihnen, dass sie keine rassistischen Vorurteile hatten (wie auch, wenn fast alle verehrten Musikern nicht Weiß sind?) und dass sie Rock’n’Roll, Rocker und Teddieboys (sowie natürlich Popper) verabscheuten. Das soll zur Einführung genügen.

Die Geschichte

Tobi, bzw. der Held in seiner Graphic Novel, beginnt bereits als Schüler mit seiner Modkarriere. Es ist nicht einfach, alle Styleregeln zu befolgen und fast noch schwieriger, auch treffsicher den richtigen Musikgeschmack zu haben. Trotzdem bietet die kleine Gruppe Rückhalt, Zusammengehörigkeit und die Aussicht auf viele Partys, Alkohol und nicht zuletzt auch Mädchen.Da das Geld für einen Roller nicht langt, muss allerdings ein Fahrrad als Ersatz genügen.

Es zeigt sich, dass die Gruppe nicht immer da ist, und dass es trotz Gruppe durchaus mal einen Stärkeren geben kann. Es gibt auch immer mehr Boneheads und dementsprechend weniger Fun.  Außerdem wird der Held langsam aber sicher älter und stellt sich die Frage, ob es das wirklich noch so ist. Nicht die Attitude, nicht die Musik und nicht die Freunde aber die Ausschließlichkeit des Ganzen.

Jahre später kommt es zu einem Revival und fast alle sind wieder da. Es ist schön, aber trotzdem vergangen und lässt sich nicht zurückholen. Die Jugend hat ihre Zeit, aber sie vergeht.

Der Künstler

Trotzdem ist es wichtig und richtig, seine Wurzeln nicht zu vergessen oder zu verleugnen und so zeichnet Tobi Dahmen nicht nur den Fahrradmod sondern auch z.B. für das alljährliche Skafestival in Roslau und für einschlägige Plattenlabel. Wie es die Redskins sagen würden: Keep on keepin on! Das größte Kompliment habe ich übrigens von einem gehört, der damals wirklich dabei war: Ja, so war’s!

Der Comic ist im Din-A5-Format ein echter Schinken und in mehrere Teile aufgeteilt. Die Zeichnungen sind persönlich. Es gibt nur die wichtigen Details, es ist also sehr reduziert und auch auf Farbe hat der Künstler verzichtet (was besonders ungewöhnlich ist, handelte es sich doch ursprünglich um einen Webcomic). Die Seiten sind entweder klar strukturiert oder bilden überlappende Bilder, die ein Ganzes ergeben.

Für alle, die mit der Thematik nicht so vertraut sind gibt es ein ausführliches Glossar mit Erklärungen zu allen Feinheiten und einen Soundtrack mit passender Musik.

Dieser Band sollt in keinem Comicschrank fehlen, wenn es um Comics aus Deutschland geht, um Musik oder Subkultur oder einfach auch nur um den Spaß in der Jugend.

Ich empfehle dazu ein Guinness und die letzte Scheibe des zu früh verstorbenen Rankin‘ Roger mit The Beat: Public Confidential.

© 2015 Carlsen Verlag GmbH

The Beatles – Yellow Submarine

The Beatles – Yellow Submarine – Die Graphic Novel

Story-Adaption des Films: Bill Morrison

Zeichnungen: Bill Morrison nach Heinz Edelmann

Panini Comics
Hardcover | 116 Seiten | Farbe | 25 €
ISBN: 978-03-7416-0989-3

cover The Beatles Yellow Submarine

Die Sechziger sind zurück! Zum 50. Jubiläum des psychedelische Pop-Art Films hat Bill Morrison eine Comic-Adaption geschrieben und gezeichnet.

1968 war die Hochzeit der Beatles, der Hippie/FlowerPower-Bewegung und der Drogenexperimente. Der Spießigkeit der Altvorderen wurde ein Modell entgegengesetzt, das auf Liebe, Musik und Selbstverwirklichung basierte und die Gesellschaft dauerhaft verändern sollte. Gleichzeitig veränderte sich das kulturelle Bewusstsein: Farben und Formen verloren ihre Zweckgebundenheit, „Kultur“ wurde vergesellschaftet und erstmals Spaß in den Vordergrund gerückt. Aus dieser Gemengelage entstand der Film Yellow Submarine – auch im Gegensatz zu den „niedlichen“ Disney Animationsfilmen – mit den Beatles und ihren Songs, aber ohne Beteiligung der Fab Four selbst.

The Baetles Yellow Submarine page

Die Rahmenhandlung ist leicht erzählt: Pepperland wird von den Blaumiesen angegriffen. Diese schalten zunächst die Musikgruppe Sgt. Peppers Lonely Hearts Club Band aus und bekämpfen dann alle Freude und Kreativität in Pepperland. Dargestellt wird das durch die zunehmende Farblosigkeit, die die Tristesse brillant kennzeichnet. Fred wird vom Bürgermeister in einem gelben U-Boot auf Rettungstour geschickt und bringt die Beatles nach Pepperland und damit die Musik und Lebensfreude zurück. Viel wichtiger als diese Geschichte sind aber die abstrusen Abenteuer in bester englischer Comedy-Manier: anarchistisch, abgedreht und subversiv!

Der Comic (oder neudeutsch die Graphic Novel) schafft es, den Stil des Films zu transportieren und durch die Wahl des Seitenlayouts, die collagenhafte Übernahme von Soundwords und Fotos und die Farbwahl den überbordenen Klamauk auf die Seiten zu bringen. Dabei schadet es sicher nicht, dass Bill Morrison auch schon bei den Simpsons, Roswell und Futurama gerne mit Farben und Formen gespielt hat. Und auch für den Antitypus Disney hat Morrison im Übrigen lange Jahre gearbeitet. Als Herausgeber des amerikanischen MAD beweist er ebenfalls sein Faible für subversiven Humor. Es ließe sich also kaum ein geeigneterer Künstler für dieses Projekt finden. Die einzelnen Sequenzen, beispielsweise die Szene mit den Löchern, bekommen genügend Raum um zu wirken, sind aber nicht in die Länge gezogen. Die Figuren agieren dabei nicht nur in, sondern auch mit dem Comic!

The Beatles Yellow Submarine page

Wie im englischen Original von TITAN Comics bringt auch Panini das Ganze als Hardcover im englischen/amerikanischen Prestige-Format zu einem nachvollziehbaren Preis heraus und rundet das Ganze mit ein paar Konzeptskizzen und Alternativentwürfen ab.

Der Inhalt mit dem Gegensatz von Uniformierung und Spontanität hat sicherlich in den letzten fünfzig Jahren an Aktualität nichts verloren und passt in die heutige Zeit der Glorifizierung der guten, einfachen alten Zeiten. Ob der Stil die heutige Jugend noch erreicht sei allerdings in Frage gestellt. Immerhin passt er aber in die Zeiten der endlosen letzten Tourneen und Reunions von Musikikonen. Wer sich also grämt, dass er die Beatles nicht mehr live sehen kann, hat in diesem Band eine Ersatzmöglichkeit gefunden!

Detail aus Anhang The Beatles Yellow Submarine

Dazu passt natürlich nichts anderes als die Filmmusik mit Stücken der Beatles und instrumentalen Orchesterversionen und ein möglichst buntes Getränk auf Tri Top-Basis. Wer es ganz schummerig haben möchte kann dazu noch seine alte Lavalampe vom Dachboden holen.

© der Abbildungen 2018 Subafilms Ltd, A Yellow SubmarineTM Product

© 1968, Authorized BEATLESTM Merchandise

© 2018 Panini Verlag

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