Van Hamme/Berserik, van Dongen  – Blake & Mortimer 25

Der letzte Tigerhai

Story: Jean Van Hamme
Zeichnungen: 
Teun Berserik & Peter van Dongen
Originaltitel: 
Le Dernier Espadon

Carlsen Comics

Softcover | 64 Seiten | Farbe | 12,00 €
ISBN: 
978-3-551-02345-2

Cover Blake & Mortimer 25

Die Abenteuer von Blake und Mortimer sind eine der am längsten noch laufenden Serien aus dem frankobelgischen Raum. Die ersten Seiten aus der Feder und gezeichnet von Edgar P. Jacobs erschienen bereits 1946 im französischsprachigen Magazin Tintin. Über lange Jahre hinweg war die Serie eine der beliebtesten im Wochenheft und darüber hinaus. Nach Jacobs Tod war zunächst Bob de Moor mit der Fortsetzung betraut worden, das jetzt erschienene Album ist von der insgesamt 10. Kombination aus Szenarist und Zeichner*in. Mehr zu den Hintergründen in der Reddition 75.

Der Tigerhai – eine schreckliche Waffe

Die Ursprünge dieser Serie liegen in den gerade überstandenen Schrecken des Zweiten Weltkrieges und dem sich daraus fast unmittelbar entwickelndem Gegensatz von demokratischen und autoritären Staatensystemen. Die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki hatten gezeigt, wozu die Kriegstechnologie mittlerweile fähig war und nahezu jede*r Überlebende wusste, dass das Schicksal einzelner nichts zählte. Aus dieser Gemengelage heraus war damals die Idee zum „Tigerhai“ entstanden, ein Flugobjekt, dass – mit Atomwaffen bestückt – geeignet war, sich sowohl in sehr großer Höhe als auch unter Wasser fortzubewegen. Bis auf fünf letzte Exemplare waren aber im Laufe der Geschichte alle Exemplare zerstört worden.

Blake & Mortimer 25 page 3

Während des Zweiten Weltkrieges hatte die IRA weiterhin versucht, die Unabhängigkeit des ganzen Irlands von der britischen Herrschaft zu erreichen und dabei unter anderem geplant, zusammen mit den Deutschen den Buckingham Palast zu sprengen. Wir alles wissen, dass dieser Plan scheiterte. Was aber wäre, wenn nach Kriegsende versprengte Nazis und irische Freischärler versuchen sollten, einen zweiten Versuch zu starten. Das ist der Ausgangspunkt für diesen Band und es geht um nichts anderes, als den letzten Tigerhai dafür zu verwenden.

Jean Van Hamme ist einer der besten aktuellen Szenaristen für realistische Comics. Sein Repertoire reicht dabei von Thriller über die Geschichte einer Brauereidynastie bis hin zu einer französischen Adligen, die an ein Bordell in Indien als Sklavin verkauft worden ist. Mit dem Thema Blake und Mortimer ist er seit Jahren vertraut. Daher gelingt es ihm mühelos, einerseits an die Geschehnisse früherer Bände nahtlos anzuknüpfen, als auch Helden und Schurken aus dem Repertoire einzubinden. Fans der Serie werden sich hier unendlich wohl fühlen, aber selbst für Einsteiger*innen bleibt der Band lesbar und verständlich!

Blake & Mortimer 25 page 4

Klare Linie in Reinkultur

Vor allem in den Anfangstagen galt, dass alles in Tintin auch den Vorgaben von Hergé entsprechen musste. Der Belgier hatte sehr klare Vorstellungen von der sogenannten Klaren Linie und Jacobs war einer seiner Musterschüler. Auch Teun Berserik und Peter van Dongen folgen rund 75 Jahre später dieser Vorgabe. Sie müssen aber im Gegensatz zu Jacobs weniger Text in Erklärungskästen in die Panels integrieren. Da auch die beiden schon zwei Bände der Serie für einen anderen Szenaristen gezeichnet haben, sind sie mit dem Zeitdekors, den Figuren und ihren Eigenschaften bereits sehr vertraut.

Und so schauen das britische Understatement aber auch der britische Glaube an sich selbst und das Schicksal nicht nur den beiden Protagonisten beinahe aus jedem Knopfloch und jeder Pfeife. Man mag kaum glauben, dass kein Brite an dieser Produktion beteiligt war. Wer Hochglanz-PiffPuffBäng erwartet, wird hier nicht glücklich werden. Die Geschwindigkeit ist hier (noch) eine andere und obwohl es genügend Tote und Verletzte gibt, ja, sogar gefoltert wird, sind Details der Aktionen nicht zu finden. Insofern ist Blake und Mortimer eine zutiefst konservative Serie.

Blake & Mortimer 25 page 6

Geheimagenten ohne Blockbusterallüren

Auch hier geht es unter anderem um den Einsatz von Doppelnull-Agenten, um die Rettung einer Vielzahl von Menschen (und – of course – um die Rettung der Königsfamilie). Alles ist eingebettet in das Netzwerk einer Serie, in der die einzelnen Bände nicht einer Chronologie folgen, sondern hin- und herspringen. Dementsprechend sind die Aktionen der Helden fast so wichtig wie ihre Motivationen und alles hat Auswirkungen in alle zeitlichen Dimensionen. Wer mehr über die Originalserie erfahren möchte, sei auf die aktuell erscheinende B&M-Bibliothek verwiesen, die jeweils einen ausführlichen redaktionellen Teil enthält.

Für alle, die klassische britische Krimiserien, Verschwörungen und Geheimagent*innen mögen und sich nicht daran stören, dass die politischen Hintergründe wie etwa auch bei „Indiana Jones“ auf der Zeit kurz nach dem Zweiten Weltkrieg basieren. „Die Deutschen“ in Form von übriggebliebenen Nazis taugen noch als Feindbilder und es gibt hier Kategorien wie Gut und Böse. In der modernen Welt mag das aktuell eine gute Form der Fluchtlektüre sein. Aber: obwohl der Comic „Überlänge“ hat, das Blockbuster-Spektakel von 1000 Tonnen Pyrotechnik ist hier nicht von Nöten!

Blake & Mortimer 25 page 7

Dazu passen ein Tee und ein Highland-Whisky sowie Madness mit „Lovestruck“!

© der Abbildungen 2021 Éditions Blake & Mortimer / Studio Jacobs (Dargaud-Lombard S.A.) / Carlsen Verlag GmbH Hamburg 2022

Daniel  – Das Gutachten

Ein Blick auf die deutsche Nachkriegsgesellschaft

Story: Jennifer Daniel

Zeichnungen: Jennifer Daniel

Originalausgabe

Carlsen Comics
Hardcover | 208 Seiten | Farbe | 25,00 €
ISBN: 
978-3-551-78170-3

Cover Jennifer Daniel - Das Gutachten

Ende der Siebziger Jahre in Deutschland. Während ein Teil der sogenannten 68-er sich mehr und mehr auf die Gefangenen-Frage fokussiert und Themen wie Sexismus, Machtstrukturen und den Alltag immer mehr aus den Augen verliert, feiert die konservativ-patriarchalische Gesellschaft fröhlich Rückeroberungserfolge in Vorbereitung der geistig-moralischen Wende. In diese Zeit, die später teilweise die „bleierne“ genannt werden wird, fällt die hier erzählte Geschichte.

Ein Rädchen wacht auf

Herr Martin ist der Protagonist dieser Erzählung. Er ist ein typischer Angestellter, der immer vorbildlich arbeitet, immer zu Sonderaufgaben bereit ist, der „Obrigkeit“ nichts abschlagen kann und ziemlich klare Vorstellungen davon hat, was „nicht“ sein sollte. Dazu zählen etwa die langen Haare seines Sohnes und seine Überlegungen, den Dienst mit der Waffe zu verweigern. Er folgt einem ganz klassischen Muster und funktioniert.

Daniel - Gutachten page 4

Irgendwann aber kommt für jede*n der Punkt, an dem eine Entscheidung gefragt ist. Schon sich selbst die Frage zu stellen, ob der Alltagstrott hier immer noch richtig ist, nur weil er von allen so hingenommen wird, ist der erste Schritt. Für Herrn Martin ist die ausschlaggebende Situation ein Autounfall, bei dem eine junge Frau und ihr dreijähriger Sohn getötet werden. Im Endeffekt wird es das Gutachten geben in dem versucht wird, das Geschehen zu verstehen.

Dazu bringt Jennifer Daniel noch weitere Handlungsstränge unter: Versuche der Antiimperialisten, die RAF zu unterstützen, Alkoholmissbrauch und seine Folgen im Straßenverkehr, den Krieg und die dadurch ausgelösten Traumata, und die Probleme alleinerziehender Mütter. Alle diese Themen werden sehr stimmig integriert und sorgen daher für eine aus heutiger Sicht sehr beklemmende Atmosphäre.

Daniel - Gutachten page 5

Auf das Wesentliche reduzierte Malerei

Die einzelnen Panels haben teilweise einen sehr hohen Weißraum-Anteil. Hintergründe verwendet Jennifer Daniel wirklich nur dann, wenn sie das Geschehnis voranbringen. Ihre Figuren sind nicht bis ins Feinste mit Wasserfarben ausgearbeitet, sondern auf die Kernpunkte konzentriert: markige Linien im Gesicht, Betonfrisuren und steife Klamotten. Besonders auffällig sind die oft aus langen Rechtecken bestehenden, wie aufgeklebt wirkenden Nasen.

Die Künstlerin verschwendet keine Zeit drauf, eine Szene „schön“ zu gestalten. Ihr kommt es darauf an, den Gesamteindruck zu erzeugen, der heutige Leser*innen daran erinnert, wie es früher war. Keine Diskussionen gegenüber Autoritäten als Standard aber auch die einfache Abgrenzung (etwa durch lange Haare oder den fehlenden Schlips) in einer Gesellschaft, die weder hier noch dort auf neue Ideen gesetzt hat.

Daniel - Gutachten page 54

Eine mutmachende Geschichte

Im Endeffekt ist Herr Martin ein Verwandter von so vielen Menschen, die irgendwann ihre Eigenschaft als Rädchen erkennen und mehr oder weniger erfolgreich auszubrechen versuchen. Und jede einzelne davon beweist, dass es geht! Wer etwa 1984 gut fand, sollte hier reinschauen.

Hinzu kommen der sehr spannende, krimiartige Aufbau der Graphic Novel und das durchgezogene stimmige Konzept: ein echtes Highlight des Frühjahrprogramms! Die im Hardcover präsentierte Geschichte beweist die auch in Deutschland zu findende hohe Qualität einzelner und verdient Aufmerksamkeit!

Dazu passen ein kleines Pils mit Korn und Dropkick Murphys mit „We Shall Overcome!“!

© der Abbildungen Carlsen Verlag GmbH Hamburg 2022

Legendre/Cambré  – Spirou und Fantasio Spezial 35

Happy Family

Story: Marc Legendre

Zeichnungen: Charel Cambré

Originaltitel: Robbedoes: Happy Family

Carlsen Comics
Softcover |48 Seiten | Farbe | 12,00 €
ISBN: 
978-3-551-78046-1

Cover Spirou und Fantasio Spezial 35

Das französischsprachige Magazin Spirou erscheint mit sehr geringen Ausnahmen Woche für Woche seit 1938. Früher enthielten die Ausgaben immer auch eine Geschichte mit dem Hauspagen Spirou. Dieser Standard wurde allerdings schon zu den Zeiten des großartigen André Franquin aufgegeben. Mittlerweile erscheinen von dem Pagen nur noch Sub-Reihen. Immerhin ist es dadurch möglich geworden, dass Künstler*innen anderer Länder die Möglichkeit bekamen, ihre Interpretation zu erstellen und (zunächst) nur in ihrem eigenen Land zu testen. So sind wir etwa zu Spirou in Berlin von Flix gekommen. Auch im flämischen Teil von Belgien und den Niederlanden gab es eine dreibändige Eigenkreation, die jetzt den Weg zu uns gefunden hat.

Eine Fahrt mit Hindernissen

Spirou und Fantasio müssen bei einem Besuch in Rummelsdorf erleben, dass zwielichtige Gestalten dabei sind, dem Grafen eine neue Erfindung stehlen zu wollen. Die Erfindung besteht aus einem Ei-großen Supercomputer der selbstverständlich in falschen Händen eine schreckliche Gefahr darstellen würde. Sie soll in Kürze auf einem Kongress vorgestellt werden, doch angesichts der Spione scheint es fraglich, ob der Graf sie sicher transportieren könnte.

Happy Family 1 page 5

Fantasio hat auf dem Rummel gerade eine lebensecht wirkende Puppe gewonnen. Stracks wird dem scheinbaren kleinen Mädchen die KI eingesetzt und ein Plan ausgeheckt: Fantasio soll die Mutter spielen, Spirou den Vater um als Happy Family nicht aufzufallen. Der Graf selber stellt sich als Ablenkung zur Verfügung.

Auf der Fahrt gelangen die Helden von einen Slapsticksituation in die nächste Katastrophe. Ein genretypisch etwas unfähiger Gangster und ein Bus mit arabischen Touristen spielen dabei die weiteren Hauptrollen. Marc Legendre brennt ein wahres Feuerwerk an witzigen Ideen ab und spielt dabei mit allen möglichen Klischees. Dabei tauchen immer wieder Reminiszenzen an die klassische Zeit des frankobelgischen Comics auf!

Ein echter Funny

Charel Cambré setzt das Ganze in eigenem, gleichzeitig aber an die großen Zeiten der Serie erinnernden Stil um. Er hat immer gerade genug moderne Einstellungen (etwa beim sich über die Kleidung aufregenden Fantasio) um als eigenständig wahrgenommen zu werden, lässt aber doch mit jedem Panel die Zugehörigkeit zur Familie der regulären Abenteuer erkennen. Und so könnte dieses Team seine Geschichte – wie auch die beiden noch folgenden Teile – genauso gut als reguläres Team der Serie gestaltet haben.

Happy Family 1 page 6

Anders als bei der für Erwachsene geschriebenen und gezeichneten Version von Suske en Wiske – Amoras (auf Deutsch im ZACK) – gibt es hier keine Einschränkungen bezüglich des Alters. Man merkt den beiden an, wieviel Spaß ihnen diese Möglichkeit gemacht hat. Sie hatten aber ihre Gründe um nach dem dritten Band aufzuhören.

Ein Muss für Fans

Fans der Serie können, ja müssen vielleicht sogar zugreifen! Waren die „richtigen“ Abenteuer für viele Fans teilweise zu ernst geworden und hatten damit den Geist der Reihe angeblich nicht mehr getroffen, findet sich hier ein rasantes, spannendes Abenteuer, das Gesellschaftskritik, Technik und Humor verbindet und sich vor allem nicht so ernst nimmt! Die ganz alten werden sich vielleicht ein wenig an eine Mischung aus Billy Wilder und Jerry Lewis erinnert fühlen.

Spirou und Fantasio Spezial 35 page 7

Schön, dass diese Robbedoes-Erzählung nun den Weg nach Deutschland gefunden hat. Keinesfalls möchte ich die One-Shots herabsetzen! Viele von ihnen bieten einen ganz eigenen und besonderen Blick auf die Figuren und bereichern dadurch das Spirou-Universum. Verzweifelte Versuche, den Zeitgeist zu erwischen und Superhelden-Leser*innen zu gewinnen, haben aber schon bei Uderzo nicht wirklich funktioniert.

Dazu passen ein leicht gekühlter Pinot Grigio und The Cardigans!

© der Abbildungen Dupuis 2017 / Carlsen Verlag GmbH Hamburg 2022

Marini – Noir Burlesque 1

Ein Film Noir in Comicform

Story und Zeichnungen: Enrico Marini

Originaltitel: Noir Burlesque 1

Carlsen Comics
Hardcover |104 Seiten | Farbe | 24,00 €
ISBN: 
978-3-551-76390-7

Cover Marini Noir Burlesque 1

Enrico Marini hat seine klassischen Serien, in denen er unter anderem leicht erotisch angehaucht die glorreichen Zeiten Roms heraufbeschwört, Vampire begleitet oder in das Mantel-und-Degen-Genre entführt. Er war aber auch einer der ersten explizit in europäischer Tradition zeichnenden Künstler, der dazu eingeladen wurde, eine Batman-Story zu erzählen. Nun also entführt er uns in die Zeit der harten Detektive, der verführerischen Schönheiten und der Verluste.

Harte Männer unter sich

Marini Noir Burlesque 1 page 14

Das Leben ist manchmal ganz einfach. Es gibt Sachen, die tut man, und andere eben nicht. Zum Bespiel ist es völlig in Ordnung, wenn Terry nach langer Abwesenheit erstmal einen Juwelier ausraubt und der Angestellten nicht nur einen Kuss abringt sondern ihr auch noch ein besonders schönes Schmuckstück dafür schenkt. Nicht in Ordnung scheint dagegen zu sein, dass Caprice, die Burlesque-Tänzerin, nicht auf ihn gewartet hat.

Da es im Wesentlichen um harte Kerle geht, stecken diese ihre Enttäuschungen natürlich genauso mannhaft weg wie den einen oder anderen Kinnhaken. Es ist aber auch schon die Zeit der automatischen Waffen und so gibt es durchaus Gangster, die nicht wieder aufstehen werden.

Marini Noir Burlesque 1 page 10

Alles läuft auf die Konfrontation des alten Liebhabers mit dem Neuen hinaus! Diese gestaltet sich allerdings anders als erwartet und bildet den Spannungsbogen zu Teil 2. Gut gemachte hard-boiled Gangsterklamotte mit Gentlemen und Fäusten. Sowohl das Frauen- als auch das Männerbild sind allerdings zurecht völlig aus der Mode und nur unter historischen Aspekten zu ertragen.

Schwarz und Weiß und Rot

Graphisch nutzt Enrico Marini nur drei Farben: Während eigentlich alles aus Schwarz und Weiß gemischt ist, hat Caprice rote Haare, Lippen und Brustaureolen. Sie ist nicht der einzige Farbfleck, vereinzelte Accessoires tragen die Farbe ebenfalls und werden damit allesamt überbetont. Sie sind die „Sachen“, die das Leben „begehrenswert“ machen.

Das Layout ist grundsätzlich in Streifen angelegt, hat aber das eine oder andere seitenfüllende Splash-Panel. Die Illustrationen sind gepinselt und wirken daher ebenfalls etwas nostalgisch und sehr stimmig. Wie immer sind die Personen allesamt „hübsch“ aber nicht makellos.

Marini Noir Burlesque 1 page 13

Für Noir-Fans

Marini beweist erneut, wie wandlungsfähig er ist. Auf Facebook postet er regelmäßig Zeichnungen aus allen möglichen Genres und auch seine Stories sind dem jeweiligen Sujet immer gerecht geworden. So auch hier! Wer Parker mag, kann hier unbedenklich zugreifen. Wer dagegen eher auf Stumptown steht, wird vermutlich über die Rollenbilder stolpern. Zeichnerisch und bezüglich der Aufmachung im dicken Hardcover gibt es aber nichts zu meckern!

Dazu passen ein leicht torfiger Islay-Whisky und Dean Martin!

Detail Marini Noir Burlesque 1

© der Abbildungen 2021 Marini – Dargaud Benelux / Carlsen Verlag GmbH Hamburg 2022

Jahresrückblick 2021

Immer noch Corona, meine persönlichen Favoriten und gute Wünsche

Wer hätte das gedacht? Die Pandemie hat uns auch das ganze letzte Jahr in Atem gehalten: Lockdown, Beschränkungen für Kulturveranstaltungen, Verlagerung des Einkaufsverhaltens von lokalen Läden hin zu Online- und Versandhändler*innen. Natürlich wird das Auswirkungen auf die Comic-Branche haben. So finden wir zunächst im Independent-Bereich, etwa dem ZEBRA, bereits Auseinandersetzungen mit den Folgen. Da wird sicherlich noch mehr kommen. Ausstellungen sind weniger geworden oder sie waren zu mindestens schlechter besucht. Auch ich war während des Jahres daher leider nur im MoCa in Noordwijk  und im Jan Kruis-Museum in Orvelte.

Die Digitalisierung ist allerdings weiter fortgeschritten. Immer mehr Verlage bieten auch elektronische Ausgaben an. Für mich persönlich ist das allerdings nichts. So gerne ich elektronische Medien und Tools auch nutze, graphische Literatur lese ich immer noch am liebsten auf Papier, freue mich an der Haptik (wenn der Comic entsprechend dargeboten wird) und am Anblick einer Reihe im Regal.

Nachdem meine Winterpause jetzt vorbei ist wünsche ich uns allen für das kommende Jahr, dass mehr Normalität zurückkehrt. Dafür ist es allerdings wichtig, dass alle, denen es möglich ist, sich impfen lassen!

R.I.P.

Wie immer sind wieder viel zu viele Comic-Schaffende gestorben. Ein paar davon sollen hier eine letzte Erwähnung finden: Marcel Uderzo, Jean Graton, Benôit Sokal, Nikita Mandryka, Raoul Cauvin, Dieter Kalenbach und Gérald Forton.

Die besten Comics in 2021

Auch dieses Jahr wieder präsentiere ich hier meine Favoriten: subjektiv, ohne Anspruch auf Vollständigkeit und unabhängig von Verlagsbemusterungen. Dem letzten Jahr folgend gibt es wieder die gleichen Kategorien: Alben, Graphic Novels, Gesamtausgaben, Sekundärwerke und Zeitschriften. Ein Sonderpreis geht an das „Comeback des Jahres“. Natürlich darf auch die Liste der meistgeklickten Beiträge des Jahres nicht fehlen. An dieser Stelle ein großes Dankeschön an alle Leser*innen: Die Zugriffszahlen sind um rund 20% gegenüber 2020 gestiegen!

Album des Jahres

Der beste Comic des Jahres kommt für mich aus Deutschland: Ralf König hat sich einen Jugendhelden vorgenommen und ihm nicht nur Brustwarzen verpasst, sondern auch eine sehr liebevolle Hommage verfasst: Zarter Schmelz übernimmt alle klassischen Elemente von Lucky Luke, twisted aber das gesamte Setting. Seine schwulen, knollennasigen Cowboys, die lila Kühe und Calamity Jane sind so großartig, dass sie zurecht den Mainstream erobert haben.

Cover König Zarter Schmelz
© Lucky Comics 2021 – All Rights reserved by Ralf König/Egmont Ehapa Media

Eine ganz andere Interpretation des „Wilden Westens“ kommt von Jean Dufaux und Rubén Pellejero. Ihr Regenwolf stellt eine Frau als Hauptakteurin in den Mittelpunkt einer Rachegeschichte. Blanche McDell steht im Schnittpunkt von Liebesgeschichten, Mythologie, Rassismus und Männlichkeitswahn. Obwohl die Vermischung dieser Themen in eine langweilige Political Correctness-Definition abgleiten könnte, ist den Autoren hier eine perfekte, spannende Geschichte ohne erhobenen Zeigefinger mit toller visueller Umsetzung gelungen.

Auffällig in diesem Jahr ist die Anzahl der Western unter den Top 5: Nur Mademoiselle J. von Yves Sente und Laurent Verron konnte sich auf Platz 3 dazwischenschieben. Die ursprünglich als Nebenfigur in einem Spirou-OneShot eingeführte wissbegierige junge Dame hat nun ihre eigene Reihe und bringt Zeitgeschichte in dem typischen, leicht modernisierten Marcinelle-Stil an ihre Leser*innen. Sie atmet gleichzeitig den Charme der 30-er Jahre als auch den des Aufbruchs in eine gleichberechtigtere Welt!

Einer meiner Lieblingszeichner ist Patrick Prugne. Obwohl er sich durchaus auch schon anderen Themen zugewandt hat, sind seine Geschichten aus dem westlichen Amerika/Kanada am besten. In Tomahawk erzählt auch er die Geschichte einer „Rache“, allerdings eingebettet in viel Natur und die spannende Vorgeschichte zu einem erbarmungslosen Krieg. Fast jedes Panel könnte gerahmt an einer Wand hängen!

Platz 5 geht an eine überlange Geschichte, die einen Helden einer Serie nach sehr langer Zeit gealtert und vollkommen verändert zurückbringt: Wenn der Tiger erwacht erzählt die Geschichte von Chinaman, seiner Posttraumatischen Belastungsstörung aufgrund der Schrecken des Sezessionskrieges und die Annäherung zwischen ihm und seinem Sohn. Serge Le Tendre und Olivier TaDuc sind nach fast 15 Jahren zu ihrer einstigen Erfolgsserie zurückgekehrt, haben alle Elemente übernommen aber sehr konsequent weitergeführt. So ist eine eigenständige Geschichte daraus geworden, die für sich alleine stehen könnte, aus ihrer „Vergangenheit“ aber noch mehr gewinnt.

Die besten Graphic Novels in 2021

Wie auch bei den Comics war es ein gutes Jahr für Graphic Novels. Die Platzierungen:

Ohne jeden Zweifel geht der erste Rang an Die Bestie von Zidrou und Frank Pé. Ihre Interpretation des Marsupilamis ist so faszinierend anders, dass eigentlich jede*r einen Blick hineinwerfen sollte. Einerseits ist die Story „erwachsen“ geworden: ein verängstigtes, wildes Tier kommt mit einem Schiff als Ware für den Zoo nach Brüssel. Es kann nichts anderes tun, als seiner Natur zu folgen, und sich zu befreien. Dazu passt die langsam wachsende, auf Vertrauen beruhende Beziehung zu einem kleinen Jungen, der seinerseits Ausgestoßener ist. Die Zeichnungen von Pé sind – wie immer – allesamt kleine Kunstwerke!

Zidrou/Frank Pé – Die Bestie 1 Cover

Platz 2 geht an Das Susan-Problem aus der Neil-Gaiman-Bibliothek. P. Craig Russel und Paul Chadwick haben Kurzgeschichten von Gaiman für das Medium Comic aufbereitet und zusammen mit Scott Hampton gezeichnet. Sie beweisen nicht nur, dass Stoffe von Gaiman wie auch die von Ray Bradbury perfekte Startpunkte für Comic-Kleinode sein können, sondern auch, dass sogar literaturtheoretische Abhandlungen so umgesetzt werden können. Der Preis geht aber auch an die Übersetzung und die vielen editorischen Hinweise für Nicht-Engländer*innen!

Beate und Serge Klarsfeld sind die Nazijäger! Was mit einer Ohrfeige begann, endete mit der erst durch die Beiden möglichen gerichtlichen Verurteilung von vielen Nazi-Kriegsverbrechern. Die spannende Geschichte, die Rückschläge aber auch die unermüdliche Aufopferung im Kampf für Gerechtigkeit und dadurch erst mögliche Freiheit schildern Pascal Bresson und Sylvain Dorange!

Platz 4 geht an die in diesem Jahr beendete Gesamtausgabe von Omaha, eine erotische Soap-Opera, die weit weg ist von jedem Schmuddelfaktor! Kate Worley (und nach ihrem Tod Jack Vance für den Abschluss der Serie) hat eine Geschichte im Schnittpunkt von Korruption, Machtmissbrauch, gesellschaftlicher Veränderung und Beziehungsproblemen geschrieben, die auch die Freuden des Sex nicht auslässt. Reed Waller, anfangs noch ihr Ehemann, später von ihr geschieden, hat das Ganze im Furry-Stil graphisch umgesetzt und damit einen der Klassiker des Independent-Comic gezeichnet. Auch heute noch lesenswert!

Der Reigen wäre nicht vollständig ohne die Kinder der Resistance! Auch hier ist die Geschichte an sich nicht neu, die Veröffentlichung in Deutschland ließ aber auf sich warten. Es gab im vergangenen Jahr einige Geschichten über die Resistance, das Schicksal von Kindern unter der deutschen Besatzung und die zaghaften, teils gescheiterten, teils erfolgreichen Versuche der Gegenwehr. Dazu zählen etwa die Bände von Émile Bravo oder Kris/Bailly. Die Kinder der Resistance von Vincent Dugomir und Benoît Ers beschreiben die anfängliche Naivität und Emotionalität und die Entwicklung hin zu wirklichem Widerstand aber auch wirklicher Gefahr für die Handelnden.

Die besten Gesamtausgaben in 2021

Trara! Platz 1 im Bereich der Gesamtausgaben geht an Caroline Baldwin! Schreiber & Leser fährt dabei zweigleisig: Einerseits erscheinen die bereits früher auf Deutsch veröffentlichten Geschichten (1 bis 16) in vier Sammelbänden von denen 3 bereits erschienen sind, andererseits veröffentlichen die Hamburger die bisher nicht erhältlichen Bände 17 bis 19 in Einzelbänden. Für das kommende Jahr sind dann noch Specials geplant! Die Heldin der in einer modernen Klaren Linie gezeichneten Geschichten von André Taymans ist tough, hat ein Alkoholproblem, ein selbstbestimmtes Sexualleben und ist HIV positiv. Das hält sie aber nicht davon ab, auf der ganzen Welt zu ermitteln und immer auf der Seite der Schwachen zu stehen. Zum Serienkompass.

Cover Caroline Baldwin Integrale 1

Platz 2 geht an Jerry Spring. Der „Vater des europäischen Westerncomics“ war vor Jahren fast komplett in einer schwarz-weißen Integralausgabe erschienen. Nun hat der All-Verlag die erste farbige komplette Ausgabe gestartet, die nicht nur alle von Jijé gezeichneten Geschichten beinhalten wird, sondern auch den letzten Band von Festin und Franz, der in 2021 erstmals auf Deutsch im ZACK erschienen ist. Ohne Jerry Spring hätte es vermutlich weder Blueberry noch Comanche gegeben.

421 ist eine Serie über einen Geheimagenten  von Stephen Desberg und Eric Maltaite. Der Held ist aber nicht nur von James Bond beeinflusst, sondern übernimmt auch Elemente von Indiana Jones und schreckt sogar vor Zeitreisethematiken nicht zurück. Erstaunlicherweise hat diese klassische Geschichte aus dem Spirou-Magazin in der Vergangenheit keinen Weg nach Deutschland gefunden. Das Integral präsentiert daher deutsche Erstveröffentlichungen: Platz 3!

Platz 4 teilen sich gleich drei Integrale von klassischen ZACK-Serien. Die Collector’s Edition von Greg/Hermanns Comanche war ein Meilenstein der jetzt in Sammelbänden angeboten wird. Édouard Aidans und Yves Duval haben mit Sven Janssen einen Abenteurer kreiert, der die ökologischen Aspekte in den Vordergrund stellt und bereits früh kolonialistische Missstände und Hunger in Beziehung gesetzt hat. Ebenfalls besonders ist, dass er alles zusammen mit Frau und kleinem Kind erlebt. Schließlich kommt auch die Collector‘s Edition von Michel Vaillant von Jean und Phillippe Graton erstmalig auf den deutschen Markt. Alle Kurzgeschichten und ungekürzten Geschichten in 20 Hardcovern mit einheitlichem Rückendesign und vielen editoriellen Notizen.

Die besten Sekundärwerke in 2021

Dieses Jahr haben es drei Werke über längst verstorbene Künstler in die Top 3 geschafft.

Das beste Werk ist mit Sicherheit der als Ausstellungskatalog entstandene aber auch perfekt solo zu genießende Band von Dr. Alexander Braun über Will Eisner. Graphic Novel Godfather führt ein in das Werk des amerikanischen Ausnahmekünstlers und beschreibt die Innovationen des Spirit sowie die Gebrauchsorientiertheit seiner Sachcomics die schließlich dazu geführt haben, dass Eisner zum Godfather der modernen Graphic Novel geworden ist. Viele Bildbeispiele  belegen den leicht verständlichen, flüssig geschriebenen und extrem informativen Text. Wenn alle Sekundärliteratur so gut lesbar wäre gäbe es nur noch Expert*innen!

Cover Braun - Will Eisner Graphic Novel Godfather

Platz 2 geht an die Fleißarbeit des Bremers Kai Stellmann und Science Fiction Pop Art Nick. Die im Selbstverlag erschiene Untersuchung ist nie fertig: Mit jeder neuen Auflage kommen Details hinzu. Stellmann belegt für alle Nick-Geschichten aus der Feder von Hansrudi Wäscher welche Quellen und Inspirationen eingeflossen sind und welche Absichten Wäscher damit verbunden haben könnte. Besser kann der Einblick in einen Entstehungsprozess nicht sein.

Platz drei geht erstmals an ein nicht gedrucktes Medium! Nun ja, es gibt eine kleine Begleitbroschüre, der Gewinner ist aber ein Film: Katzenjammer Kauderwelsch von Martina Fluck! Sie dreht die Annäherung eines Comic-Zeichners aus Heide – Tim Eckhorst – an die großen Söhne der Stadt, Rudolph und Gus Dirks, die in den USA Karriere gemacht haben. Katzenjammer Kids lief schlussendlich bis 2006 und ist einer der ganz großen Zeitungsstrips. 85 lohnende Minuten auf DVD!

Die besten Zeitschriften in 2021

Überraschenderweise heißt der Seriensieger bei Zeitschriften wieder ZACK! Das Magazin feiert in 2022 das Erscheinen der ersten Ausgabe von vor 50 Jahren und profitiert nach dem Verlagswechsel zu Blattgold davon, dass Verleger und Chefredakteur Georg F. W. Tempel nun frei schalten kann. Mit Blechschildern und Pins sowie einer neuen Albenreihe nur für Abonnent*innen expandiert der Kosmos. ZACK bringt sowohl erneuerte Klassiker wie Rick Master, Michel Vaillant oder Tanguy & Laverdue wie auch hochklassige europäische Comic-Kunst wie Amoras, Rani oder Millenium Saga! Die bei euch am häufigsten angeklickte Rezension war im Übrigen die Nummer 264.

Cover ZACK 267

Platz zwei geht an ein immer noch innovatives Medium aus den Niederlanden: StripGlossy präsentiert viermal im Jahr eine Mischung aus Sekundärliteratur, Interviews und aktuellen Comics mit und über Comicschaffende aus dem niederländisch/flämischen Raum! Definitiv das Highlight des Jahres war die Doppelnummer 21/22 über Suske en Wiske die sogar in eine zweite Auflage gehen musste!

Die Reddition ist wohl die bekannteste und anerkannteste Sekundärzeitschrift Deutschlands. Zweimal im Jahr erscheint eine Nummer, die sich tiefschürfend mit einem Thema beschäftigt. Durch die gewählte Breite der Artikel kann das gewählte Gebiet oder der Künstler im Fokus vielseitig beleuchtet werden. 2021 ging es um Tillieux und Comics und Musik (Rezension folgt).

Comeback des Jahres

Wie immer an dieser Stelle eine lobende Erwähnung eines – oft unerwarteten – Comebacks einer Serie oder eines Einzeltitels. Dieses Jahr fällt die Wahl schwer und daher sind es dieses Jahr zwei ganz unterschiedliche Gewinner, die es zu feiern gilt: Einerseits hat der Taschen Verlag gerade mit der Marvel Comics Library ein neues Projekt gestartet, das Meilensteine in einem XL-Format wieder zugänglich macht. Band 1 Spider –Man 1962 – 1964 ist gerade erschienen (und mittlerweile auch besprochen). Neben einer informativen Einführung präsentiert der limitiert Prachtband den unvergesslichen Run von Stan Lee und Steve Ditko über den wohl untypischten Superhelden aller Zeiten! Noch nie habe ich Spider-Man in diesem Format genießen können!

Cover Spider-Man Vol. 1

Andererseits hat Georg F. W. Tempel damit begonnen, bisher unentdeckte Perlen der ZACK-Geschichte aufzubereiten. Johnny Focus von Attilio Micheluzzi ist so eine! Vier schwarz-weiße Stories über den Reporter sind in Der Weg nach Mombasa bereits erschienen, eine weiter kommt in der diesjährigen Aprilausgabe des ZACK. Durch die fehlende Kolorierung sind die Fähigkeiten des Zeichners unverfälscht sichtbar. Erstaunlich, dass es noch so vieles von dieser Serie auf Deutsch zu entdecken gäbe.

Cover Johnny Focus - ZACK Spezial 2

Eure Lieblinge in 2021

Die Spitzengruppe der meistgeklickten Beiträge ist sehr dicht beieinander: Der Gewinner ist der Serienkompass zu Rani, dicht gefolgt von Caroline Baldwin Band 1 und dem dazugehörigen Serienkompass!

Dahinter kommt eine ebenfalls dicht gedrängte Gruppe, angeführt von Johnny Focus: Serienkompass Bruno  Brazil, Lucky Luke 99 und das Programm des All-Verlages.

Will Eisner von Alexander Braun, die Berichte über Asterix 39 und über den Abschluss der Michel Vaillant Reihe im MOSAIK-Verlag komplettieren die Top 10.

comix-online Reporter
Immer für euch unterwegs

Was bleibt?

Auch dieses Mal verbleibe ich mit den besten Wünschen für ein tolles, erfolgreiches und von Gesundheit geprägtes Jahr! Stay safe and healthy! Ich freue mich über eure Kommentare.

© aller Abbildungen bei den jeweiligen Verlagen und Künstler*innen wie in den Linkzielen genannt.

Bravo – Spirou oder: die Hoffnung 3

Dem Ende entgegen

Story und Zeichnungen: Émile Bravo

Originaltitel: Spirou L´Espoir malgré tout troisième Partie

Carlsen Comics
Softcover |120 Seiten | Farbe | 16,00 €
ISBN: 
978-3-551-77640-2

Cover Bravo Spirou oder die Hoffnung 3

In Belgien gehörten Comics schon vor dem Zweiten Weltkrieg zur Tradition. Auf der einen Seite gab es das Magazin Spirou, auf der anderen Seite die zunächst in katholischen Medien erscheinenden Abenteuer von Tim und seinem Hund Struppi. Während ersteres während des Krieges unabhängig blieb und die längste Zeit wenn auch mit verringertem Umfang erscheinen konnte, arrangierte sich der Künstler des Zweiteren mit den Besatzern. Die Abenteuer des pfiffigen Reportes erschienen im von den Deutschen kontrollierten Le Soir. Mehr dazu in Nimm das, Adolf!

Spirou oder wie viele unterschiedliche Ausprägungen der Widerstand haben kann

Émile Bravo hatte seine Geschichte über Belgien im Zweiten Weltkrieg von Anfang an auf vier Bände ausgelegt und mit dem Titel Spirou oder: die Hoffnung versehen. Glücklicherweise zwingt heutzutage kein Buchhalter mehr die Künstler*innen, ihre Geschichte innerhalb einer genormten Seitenlänge abzugeben. Nur deswegen konnte er sich für die Zeit von Sommer 1942 bis zur Landung der Alliierten in der Normandie weit über 100 Seiten genehmigen. Sein Anspruch ist es, heutigen Kindern und Jugendlichen die damalige Zeit, ihre Beschränkungen und Herausforderungen, vor allem aber ihren Schrecken deutlich zu machen.

Spirou Spezial 34 page 3

Dem Ende entgegen beginnt in einem Zug; nicht nur Spirou, sondern auch seine Schützlinge, zwei kleine jüdische Kinder, sitzen im Zug nach Ausschwitz. Glücklicherweise können sie sich befreien und untertauchen und Spirou wird somit erstmals aktiv gegen die Deutschen tätig. Im Interview erklärt Bravo dazu, dass es natürlich nicht möglich gewesen wäre, den Schrecken von Ausschwitz zu zeigen. Es genüge schon, der heutigen Jugend ein Bild des Alltags zu vermitteln.

Spirou und Fantasio ziehen weiter mit ihrem Puppentheater über das Land (authentisch für das Magazin Spirou), verteilen Nachrichten und versorgen untergetauchte jüdische Freund*innen mit Lebensmitteln. Später kommt aktive Sabotage dazu. Trotzdem sieht sich Spirou nicht als „Kämpfer“ oder aktiven „Widerständler“, tut er doch nur das, was jede*r tun sollte. Doch später wird auch er die Gewalt der Besatzer am eigenen Leib spüren und sich die Frage nach seinen Grenzen stellen.

Spirou Spezial 34 page 4

Die Story unterstützende Zeichnungen

Nicht nur das Layout sieht aus wie „früher“, auch die Zeichnungen atmen eine gewisse Altertümlichkeit aus. Natürlich versucht Bravo damit einerseits Layout und Stimmung der damaligen Spirou-Ausgaben aufzunehmen, andererseits deutet das starre Layout aber auch die engen Grenzen an, die den Bewohner*innen Belgiens damals gesetzt waren. Luxus bestand darin, eine heile Wohnung zu bewohnen und keinen Hunger zu haben.

Fast alle hatten in Familie oder Freundeskreis Opfer und Verluste zu beklagen, das Vertrauen in andere war aufgrund der Denunziant*innen beschränkt und das Ergebnis eines Verrats war der Tod. Diese bedrückende Stimmung kommt durch die Zeichnungen sehr gut rüber. Spirou versucht immer wieder, Hoffnung zu verbreiten, während Fantasio seine Wut und Hilflosigkeit zeigt. Ganz anders also, als man es gemeinhin von einem Comic für Kinder gewöhnt ist.

Spirou Spezial 34 page 5

Ein geglücktes Experiment

Émile Bravo hat es gewagt, eine lustige Kinderserie mit Krieg und Besetzung, Judenvernichtung und Tod zu füllen. Dabei beschränkt er sich nicht einmal auf übliche Standardlängen, sondern überzieht gewaltig. Trotzdem ist das Experiment geglückt! Weder ist zu viel Pathos herausgekommen noch werden die Geschehnisse verharmlost. Spirou gehört zum belgischen Allgemeingut, jede*r kann etwas damit anfangen. Genau diese Voraussetzung ermöglicht es, die Geschichte für heutige Leser*innen zu erzählen denen die nicht alternden Figuren bekannt sind, die Zeit von vor 80 Jahren aber nicht.

Hoffen wir, dass auch hierzulande das Experiment nicht nur „im Feuilleton“ begeistert besprochen wird, sondern auch den Weg zu den Käufer*innen findet. Die Reihe Spirou und Fantasio Spezial, in der hierzulande auch die One-Shots erscheinen, ist jedenfalls genau der richtige Ort dafür.

Backcover Bravo Spirou oder die Hoffnung 3

Dazu passen die Moorsoldaten und eine selbstgemachte Limonade.

© der Abbildungen Dupuis 2021 – Bravo/Carlsen Verlag GmbH · Hamburg 2021.

Kleist – Starman

David Bowie’s Ziggy Stardust Years

Story und Zeichnungen: Reinhard Kleist

Originalausgabe

Carlsen Comics

Hardcover |176 Seiten | Farbe | 25,00 €
ISBN: 
978-3-551-79362-1

Cover Kleist Starman

Comics über Musik bzw. Musiker*innen sind seit einigen Jahren in. Lange gab es so etwas nur in kleinen Fanzines für Bands aus verschiedensten Subkulturen. Doch wie immer hat der Mainstream bisher noch jede Innovation vereinnahmt und zu Geld gemacht. Nicht, dass das immer schlimm oder verwerflich wäre! Hier haben wir es mit einem Künstler zu tun, der eine ganze Stilrichtung beeinflusst hat und einem Zeichner, der seine Einfühlungsvermögen in Musiker schon mehrfach bewiesen hat. Allerbeste Voraussetzungen also!

Der langsame Weg in den Wahnsinn

Welcher jugendliche Musiker kennt nicht den Wunsch, erfolgreich, berühmt und reich zu werden? Selbst wenn das Talent ausreichend ist, braucht es viel Glück zur richtigen Zeit. Und: Das Showbusiness verlangt vollen Einsatz. Was aber, wenn das Konzept sich irgendwann verselbstständigt?

Auschnitt aus Kleist Starman 1

Reinhard Kleist beschränkt seine Comic-Biografie über David Bowie auf die Ziggy Stardust-Jahre. Es beginnt Anfang 1972: The Spiders werden am Ende eines Konzertes noch mit Flaschen beworfen. Die Themen stehen aber schon zur Verfügung: Die Welt wird sich selbst vernichten, Gewalt, Chaos, Umweltzerstörung, Atomwaffen und alles, was sich der menschliche Geist sonst noch überlegt hat, werden dafür sorgen. Doch es gibt Hoffnung: Außerirdische werden uns retten! Und David Bowie aka Ziggy Stardust ist genau dieser jene, der die Hoffnung verkörpert.

Im Weiteren geht es immer mehr darum, wie Ziggy fast schon zum Messias aufgebaut wird und seine Fans ihn und die Spiders from Mars vergöttern. Die Geschichte des langsam steigenden Ruhms wird erzählt, die Verbindungen zu Iggy Pop, Andy Warhol und allen Groupies, die um die Helden herumschwirren. Es geht aber auch um den langsam anwachsenden Wahnsinn, den Verlust der eigenen Persönlichkeit im künstlichen Konzept Ziggy und den Versuch, trotz allem Ruhm ein eigenes, ehrliches Leben mit Kind und Frau, Mutter und krankem Bruder zu führen.

Auschnitt aus Kleist Starman 2

Dieser Widerspruch zwischen dem Idol und dem Leben, der schockierenden Androgynität im Drogenrausch und dem kleinstädtischen Leben der Mutter ist das, was Kleists Werk auszeichnet. Es ist nicht die tausendste Lobhudelei, es ist der Versuch, den Menschen zu entdecken, freizulegen und verständlich zu machen.

Die Explosion der Farben und Formen

Nicht nur der Text ist von großem Respekt gekennzeichnet, auch die Bilder zeigen immer wieder einen verletzlichen Bowie. Einerseits kann nichts schrill genug sein, wenn es um Kostüme oder Frisuren geht und auch die Zeichnungen übernehmen das mit grellbunten Farben und Formen. Andererseits ist der Mensch vor dem Spiegel ängstlich und leise.

Auschnitt aus Kleist Starman 3

Sepiatöne für das Private, grelle, schreinernde Farben für das Öffentliche. Stärker können die Gegensätze nicht sein. Dazu kommen teilweise Übernahmen aus dem Pulp mit grob gerasterten Zeichnungen und immer wieder Umsetzungen der Bühnenauftritte, die fast schon an eine filmische Dokumentation erinnern. Reinhard Kleist beweist erneut seine Wandlungsfähigkeit und sein Einfühlungsvermögen!

Nicht nur für Bowiefans eine Empfehlung

Vermutlich wird der Band bei vielen Bowie-Fans unter dem Weihnachtsbaum liegen. Wer sich für die Musik der 70-er Jahre interessiert, wird daran definitiv seine Freude haben, die Zielgruppe ist also weiter als „nur“ die Ziggy-Fans. Wer erst mit den 90-ern angefangen hat, wird sich allerdings fragen, was denn dieser Mainstream-Künstler früher so alles gemacht hat.

Illustration Kleist Bowie

Die Graphic Novel ist aber auch psychologisch Interessierten zu empfehlen: Dr. Jekyll & Mr. Hyde, Dorian Gray und Artverwandtes findet hier eine Entsprechung in der Erschaffung eines Idols für die Massen. Kann ein Mensch den Musikzirkus eigentlich überstehen? (Und natürlich: es geht! Viele haben es aber erst nach Entziehungskuren oder Psychiatrieaufenthalten geschafft.) Zum Glück ist ein weiterer Teil bereits angekündigt.

Das Werk ist im Übrigen auch als Luxusausgabe mit limitiertem handsigniertem Druck erhältlich. Auch die reguläre Ausgabe enthält aber bereits im Anhang ganzseitige Illustrationen.

Cover Kleist Starman Vorzugsausgabe
Cover der limitierten Vorzugsausgabe

Dazu passen logischerweise nur Ziggy Stardust and the Spiders from Mars und ein Korn mit Kirsch.

© der Abbildungen Reinhard Kleist/Carlsen Verlag GmbH · Hamburg 2021.

Head – Chartwell Manor

Ein Comic-Memoir

Story: Glenn Head

Zeichnungen: Glenn Head

Originaltitel: US – Chartwell Manor

Carlsen Comics
Hardcover |248 Seiten | s/w | 26,00 €
ISBN: 
978-3-551-78172-7

Cover Head - Chartwell Manor

In den letzten Jahren hat es vermehrt Berichte über sexuellen Missbrauch und/oder Misshandlungen Schutzbefohlener gegeben. Je nach Land stehen dabei mehr die Kirche und sexueller Missbrauch im Vordergrund, mal überwiegt eher der Rassismus gegenüber Indigenen. Allen gemeinsam ist, dass die Überlebenden oft ihr ganzes Leben nicht nur mit schwersten Traumata weiterleben müssen sondern auch oft mit dem Vorwurf konfrontiert werden, dass diese Geschichte ja wohl so nicht stimmen könne. Insofern ist es gut, dass in Kunst, Literatur, Comics aber auch in der allgemeinen Meinung ein Wandel eingesetzt hat, der Betroffenen Gehör schenkt!

Internat des Schreckens

Head - Chartwell Manor page 12

Auch Glenn Head, Texter und Zeichner von Chartwell Manor, ist ein Betroffener. Er hat Jahre damit verbracht, seine eigenen Erlebnisse nicht zu erzählen und sich in Süchte geflüchtet. Als kleiner Junge war er ein schwieriger Schüler, der sich nicht unbedingt im Griff hatte. Seine Eltern, sicherlich zum Teil verzweifelt mit der Situation, hatten von einem Internat gehört, dass sich auf schwierige Fälle spezialisiert haben sollte.

Aus heutiger Sicht hätte schon der erste Besuch jedes Elternteil stutzig machen sollen, wenn der Schulleiter davon spricht, dass das Befolgen von Regeln auch mit körperlichen Maßregeln durchgesetzt wird. Es blieb aber nicht bei „Klapsen“, die Kinder wurden gequält, misshandelt und dabei sexuell ausgebeutet. Zusätzlich übte der Schulleiter auch noch sexuelle Handlungen an ihnen aus. Was alle Schüler*innen wussten, wollte kein Erziehungsberechtigter hören und so lief die Schule Jahr über Jahr mit neuen Kindern. Sehr anschaulich und schonungslos beschreibt der Autor, wie seine Eltern einerseits die Diskussion verweigerten, andererseits sich selbst immer wieder zu entschuldigen suchten.

Head - Chartwell Manor page 13

Viele der ehemaligen Schüler haben die Behandlungen nicht verwunden und sind Süchtige, Ersatzbefriediger, Gewalttäter geworden. Andere haben sich in eine Scheinwelt geflüchtet (Soo schlimm war es doch gar nicht). Zu einem bestimmten Zeitpunkt aber kippt die Situation, die Geschichte wird öffentlich, Zeitungen fangen an zu berichten und Gerichte werden aktiv.

Wie stellt man die Hölle gleich mehrfach dar?

Glenn Head hat mehrere höllische Situationen, die er darstellen muss: Seine Gefühle als Junge auf dem Internat, die Situation, dass seine Eltern das Erlebte einfach ignorieren, seine Süchte und das schließliche sich der Vergangenheit und dem eigenen Handeln Stellen-Müssen.

Sein vom frühen US-Underground-Comic beeinflusster Stil ermöglicht es ihm, Emotionen zu übersteigern, Köpfe explodieren, Drogen oder Alkohol den ganzen Menschen verändern zu lassen. Die Panels wechseln von schwarz auf weiß zu weiß auf schwarz, variieren Größe und Form und sind mal mehr realistisch mal komplett karikierend.

Head - Chartwell Manor page 15

Die Graphic Novel ist keine leichte Kost, weder inhaltlich noch in ihrer graphischen Darstellung. Sie erfordert von den Leser*innen das Sich-Einlassen auf die persönliche Erzählung, die unterstützende Emotionalität und keine Aufgeregtheit, die eher sich selbst als das Opfer in den Mittelpunkt stellt. Wir lesen fast tagtäglich von neuen Missbrauchsfällen in der Zeitung, von Vergewaltigungen und wissen doch um die immer noch extrem hohe Dunkelziffer, weil sich viele Opfer nicht erneut einer unmenschlichen Tortur unterziehen wollen, wenn sie von ihrem Fall erzählen.

Und nun?

Verändert diese Graphic Novel die Welt? Nein, sicherlich nicht! Aber wenn jede*r Leser*in sich selbst ein ganz klein wenig anders verhält, Opfer unterstützt und leise Andeutungen ernst nimmt und der Sache nachgeht, dann kann das vielleicht ein ganz kleines bisschen dazu beitragen, eine Welt ohne Unterdrückung und Missbrauch zu schaffen. In diesem Sinne: Wir alle haben die Zukunft in der Hand und müssen die Opfer der Vergangenheit ernst nehmen und ihnen unterstützend zuhören.

Head - Chartwell Manor page 107

Dazu passen Lady Gaga mit „Till it happens to you“ und ein Glas Wasser.

© der Abbildungen Glenn Head 2021 / Carlsen Verlag GmbH, Hamburg 2021

Gabus/Reutimann – Der Hafen der Geheimnisse 1

Das Monster aus dem Meer

Story: Pierre Gabus

Zeichnungen: Romuald Reutimann

Originaltitel: New Cherbourg Stories Vol. 1 – Le Monstre de Querqueville

Carlsen Comics
Softcover | 64 Seiten | Farbe | 12,00 €
ISBN: 
978-3-551-02395-7

Cover Gabus/Reutimann – Der Hafen der Geheimnisse 1

Eine neue Serie aus Frankreich, die in ihren Zeichnungen sehr klassisch daherkommt, Science-Fiction- und Mystery-Elemente verknüpft und auch noch humorige Bestandteile hat – Das klingt fantastisch! Das Team Gabus/Reutimann hat übrigens bereits 2012 mit einer anderen Serie in Angoulême gewonnen, ist in Deutschland aber bisher noch sehr unbekannt.

Geheimes Leben im Meer

Das kleine, fiktive Städtchen New Cherbourg liegt irgendwo am Meer im Norden Frankreichs. Der Hafen der Geheimnisse spielt in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Der Tourismus ist bereits eine Einnahmequelle, der Luftverkehr wird mit Zeppelinen durchgeführt. Ein kleiner Junge ist damit beschäftigt, Möwen zu dressieren und wird auf den folgenden Seiten immer wieder auftauchen. Mit seinen Eltern und Geschwistern steht er für das alltägliche Leben.

Der Hafen der Geheimnisse 1 page 3

Am Strand wird plötzlich eine walartige, behaarte Kreatur entdeckt, das Monster aus dem Meer. Die Gemeinde beschließt, den Fund geheim zu halten und es wird klar, dass es bereits andere Begegnungen gegeben hat. Neben den Walen gibt es auch noch die Gründler, die unter Wasser eine eigene Zivilisation gegründet haben. Um sie vor Ausbeutung durch den Menschen zu schützen, soll niemand etwas von ihnen erfahren. Leider ist allerdings eine Akte über diese Wesen verschwunden.

Zwei Geheimagenten mit wunderlichen Kräften sollen die Akte finden und zurückholen. Sie bekommen bald Unterstützung von einer jungen Kollegin, die wiederum die Schwester des eingangs erwähnten Jungen ist. Und dann ist da auch noch der Regierungsvertreter, der der Stadt einen Besuch abstattet.

Der Hafen der Geheimnisse 1 page 5

Moderne Klare Linie

Die Zeichnungen von Romuald Reutimann passen perfekt zu dem Szenario. Die Klare Linie lässt Geheimagent*innen alten Stils lebendig werden, ohne dabei die moderne Interpretation durch die Kollegin zu behindern. Die fremdartigen Unterwasserwesen haben die richtige Mischung aus „Monster“ und „akzeptabel“, um gleichzeitig fremdartig, aber nicht gefährlich zu wirken. Und nicht zuletzt ist durch das nostalgische Ambiente keine Notwendigkeit für eine allzu realistische Darstellung.

Die Zeichnungen wirken dabei allerdings keineswegs aus der Zeit gefallen. Sie sind variabel, detailreich wo nötig und transportieren eine ganze Menge an humorigen Szenen, ohne dabei allerdings in einen Slapstick wie bei Hergé zu verfallen. Die Seitenaufteilung ist meistens drei- oder vierreihig, lässt aber Überspannungen zu und es gibt sogar ein paar ganzseitige Illustrationen.

Der Hafen der Geheimnisse 1 page 6

Vielschichtig, spannend und gesellschaftskritisch

Die Reihe spart nicht mit Kritik an der profitorientierten Gesellschaft, an Karrieristen aus dem Politbusiness und fragt nach den Grenzen der erlaubten Ausbeutung. Die Nutzung von Errungenschaften der fremden Zivilisation wird zwar nicht abgelehnt, sie soll aber nicht zur Vernichtung führen. Insofern werden durchaus aktuelle Themen angesprochen. Dazu gibt es aber auch die lustigen Superkräfte der Agenten, die skurrilen Nebenfiguren und den Charme der irgendwie relaxten Pre-Mobile-Device-Zeit.

Für alle, die die Geschichten aus Tintin mochten, seien sie von Edgar Jacobs, Roger Leloup, Tibet oder Duchateau, und somit auch für die aktuellen Leser*innen des ZACK sollte der Hafen der Geheimnisse einen Blick wert sein! Band 2 ist bereits angekündigt.

Dazu passen Of Monters and Men und ein Noblesse Oblige der Brasserie Au Baron.

© der Abbildungen Casterman 2020, Carlsen Verlag GmbH, Hamburg 2021

Zidrou/Frank Pé – Die Bestie 1

Marsupilami

Story: Zidrou, Frank Pé
Zeichnungen: Frank Pé

Originaltitel: La Bête

Carlsen Verlag

Hardcover | 156 Seiten | Farbe | 25,00 € | 
ISBN: 978-3-551-78510-7

Zidrou/Frank Pé – Die Bestie 1 Cover

Das Marsupilami ist eines der faszinierendsten Geschöpfe des europäischen Comics. Ursprünglich erschaffen von André Franquin war es zunächst nur in den Geschichten um Spirou und Fantasio unterwegs. Später bekam es dann seine eigene Reihe mit Zeichnungen von Batem bevor es vor einigen Jahren auch wieder in den Spirou-Kanon eingereiht wurde. Üblicherweise reden wir dabei über genau ein Exemplar und seine Familie. Natürlich wird es im Dschungel von Palumbien auch noch andere Marsupilamis geben und das ist der Ansatzpunkt für die Geschichte von Zidrou und Frank Pé.

Gelbschwanz

1955 ist Belgien ein Land, das sich bereits ein wenig vom Zweiten Weltkrieg erholt hat: die gröbsten Zerstörungen sind beseitigt, die Wirtschaft läuft wieder und die Zoos ordern bereits wieder neue Tiere. Sie werden aus Übersee verschifft und sind hoffentlich gut genug versorgt um die lange Reise zu überstehen. Ein spezielles Schiff hat auf der Überfahrt leider eine lange Flaute in Kombination mit einem Maschinenschaden zu überstehen gehabt und so sind nicht mehr viele Tiere am Leben. Eine ganz besonders wilde Bestie schafft es immerhin, im Hafen von Antwerpen entwischen zu können.

Zidrou/Frank Pé – Die Bestie 1 page 8

Währenddessen muss sich eine alleinerziehende junge Frau mit ihren Mitmenschen herumschlagen. Sie hatte sich während der Besatzung in einen deutschen Soldaten verliebt und wurde dementsprechend der Kollaboration bezichtigt. Auch jetzt, 10 Jahre nach Kriegsende, wird sie noch angefeindet und ihr aus dieser Beziehung hervorgegangener Sohn in der Schule gemobbt. Dieser, gezwungener Maßen ein Einzelgänger, hat dafür seine Liebe zu besonderen Tieren entdeckt: eine tagaktive Fledermaus, ein Huhn ohne Federn, ein dreibeiniger Hund, ein alkoholkrankes Pferd und andere Ausgestoßene hat er bereits aufgenommen. Nun kommt er mit einem völlig verdreckten und angstaggressiven gelben Tier nach Hause.

Wie wir unschwer erkennen können, handelt es sich dabei um ein Marsupilami. Im Gegensatz zu seinem berühmten Vetter ist es allerdings nicht gut drauf, sondern verängstigt, hungrig, übermüdet und verwirrt. Kurzum, es passt genau in die Menagerie des Außenseiters. Zidrou hat schon öfter bewiesen, dass er sich in solche Rollen hineinversetzen kann und auch hier schafft er es sowohl auf der Seite der Tiere als auch auf der der Menschen. Besonders ist seine Fähigkeit, dabei Entwicklungen aufzuzeigen und allen Stadien vom kleinen Pflänzchen bis zur vollen Blütenpracht genau die richtige Aufmerksamkeit entgegenzubringen.

Zidrou/Frank Pé – Die Bestie 1 page 5

Emotionale Intelligenz

Diese Wertschätzung der Entwicklung und der kleinen Dinge wird von Frank Pé kongenial umgesetzt. Im gelingt es nicht nur das Ankuscheln umzusetzen, sondern die Wärme und den Trost dieser Aktion spürbar werden zu lassen. Der geteilte Apfel ist nicht nur Nahrung sondern auch Geborgenheit. Aber: Genauso gilt das Gegenteil, denn die gezeigte Brutalität gegenüber dem Jungen oder von den staatlichen Behörden kommt dementsprechend natürlich auch viel eindringlicher rüber als es eine rein technische Beschreibung erreichen könnte.

Wer hier kindgerechte Zeichnungen erwartet hat, wird definitiv nicht zufrieden sein. Das Marsupilami von Zidrou und ist nicht niedlich oder süß. Huba ist nicht immer ein Ausruf von Freude oder ausgelassener Verspieltheit. Es kann auch ausdrücken „Ich werde es euch zeigen“ oder „Ihr habt es nicht anders gewollt“. Der Anfang der Geschichte ist von soviel Leid geprägt, dass er fast schon depressiv macht. Dazu ist ein Happy End – wie bei einem ersten Band einer solchen Geschichte auch nicht anders zu erwarten – nicht in Sicht.

Die Bestie 1 page 9

Aber: Die Autoren beweisen soviel Mitgefühl und beschreiben auch einige Personen, etwa den Jungen, seine Mutter und auch die zart aufkeimende Liebe so warmherzig, dass trotzdem positive Energie aus dieser Geschichte gezogen werden kann. Wir können nur hoffen, dass die Geschichte so weitergeht und nicht in Kitsch abgleitet. Das ist allerdings nicht wirklich zu befürchten, wenn man andere Werke von Zidrou oder etwa ZOO von Frank Pé betrachtet.

Must have?

Ja, in gewisser Weise schon. Das lustige Fabeltier stand schon immer im Verdacht, eigentlich ein tragisches zu sein. Es gab nur wenig Beobachtungen, Großwildjäger waren auf seiner Fährte und der unberührte Dschungel wird immer kleiner. Was also lag näher, als eine erwachsene Sichtweise zu lancieren? Nicht, dass ich keinen Spaß verstehen würde oder die Klimakrise überall diskutiert werden müsste, nein. Es ist aber auch wichtig, einen Blick jenseits des reinen Vergnügens zu erlauben.

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Die Bestie kombiniert beides. Es sind genug Situationskomikelemente enthalten, genügend grafisch brillante Umsetzungen von Ideen, genügend Befriedigung von Neugier und Spannung (wie wird er das wohl lösen?) um das Ganze einfach als wunderbare Bilderzählung zu lesen. Es gibt aber eben auch genügend Anknüpfungspunkte zur korrekten Behandlung von Mitgeschöpfen, zu Mobbing, zu Ehrfurcht vor der Natur und schließlich zu Fragen der Norm um das Werk eben auch als Debattenbeitrag zu nehmen. In diesem Sinne ist Die Bestie eine der besten Graphic Novels dieses Jahres.

Dazu kommt die angemessene Präsentation des Werkes als Hardcover mit sehr stabilem, mattem Papier . Das wirkt einerseits ein wenig nostalgisch, andererseits aber eben auch wertig. Nicht zuletzt ist das Format so anders, dass das Buch in jedem Regal sofort auffällt und vielleicht greift ja auch der eine oder die andere Besucher*in danach.

Ich würde ein Trappistenbier, etwa Orval, dazu empfehlen und Musik aus den 50-ern: den „jungen“ Ray Charles!

© der Abbildungen Dupuis 2020 by Zidrou, Pé, Carlsen Verlag GmbH 2021

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