Jahresrückblick 2023 – Die besten Comics

Meine Jahresbestenliste und ein paar Worte zum Geleit

Dann wollen wir mal … Schon wieder ist ein Jahr vergangen. Vieles ist gleichgeblieben, München ist zum Beispiel zum elften Mal hintereinander Deutscher Meister geworden. Vieles hat sich aber auch geändert: das politische Klima ist rauer geworden, Emanzipation und Bekämpfung der Klimakrise sind nur noch Worthülsen, während zum Beispiel ein Tempolimit in weite Ferne gerückt ist.

Im Comic-Bereich durften wir dagegen einiges erleben: angefangen mit Magazin-Neustarts etwa bei Zauberstern oder mit dem neuen Independent-Blättchen Graphica über das 50jährige Jubiläum des ZACK bis hin zur erstmaligen Veröffentlichung frankobelgischer Klassiker in Deutschland!

comix-online Reporter
Immer für euch unterwegs

Auch für comix-online gab es einen neuen Rekord: Erstmals waren es mehr als 100.000 direkte Zugriffe auf einzelne Artikel, also ohne die Startseite! Vielen Dank für dieses Vertrauen! Die Charts mit den am häufigsten aufgerufenen Seiten der letzten 30 Tage bzw. der „All-Time-Favourites“ zeigen durchaus Bewegung und lassen eure Präferenzen deutlich werden. Trotzdem freue ich mich über Kommentare oder Feedback, gerade auch bezüglich Informationen, die euch fehlen.

Die besten Comics

Grundsätzlich sind sich die meisten Seiten in diesem Jahr einig: Der neue Asterix, Die weiße Iris, ist seit Jahrzehnten der beste „neue Asterix“. Dem kann ich mich durchaus anschließen. Der neue Szenarist Fabcaro hat es geschafft, ein altbekanntes Thema (Die Römer versuchen das gallische Dorf von innen heraus zu zerstören) völlig neu zu inszenieren und dabei eines der modernen Streitthemen, Wokeness, satirisch zu erfassen. Die Zeichnungen von Conrad stehen für sich!

Cover Asterix 40
Offizielles Cover Asterix #40 Die Weiße Iris – (c) Egmont Ehapa Media GmbH Fotograf: LES ÉDITIONS ALBERT RENE

Platz 2 geht für mich an den ersten Band der neuen Reihe Wikinger im Nebel. Lupano und Ohazar haben mit ihrem sehr witzigen und teils schwarzen Humor das Sujet umgekrempelt und neben den Schlachtengemälden und Hägars Familienstrip eine eigenständige Welt aufgemacht, die filosofische Fragen stellt (Plündern ja, Kirchen abfackeln nein?) und Rollenbilder neu definiert!

Platz 3 geht an einen Altmeister: Francois Bourgeon hat mit Die Zeit der Blutkirschen 2 vermutlich sein letztes Werk vorgelegt. Es schließt den letzten Zyklus der Saga Reisende im Wind ab und endet während der Revolution. Diese Serie gilt nicht zu Unrecht als Startpunkt für die historizierenden Comics.

Knapp danach ein weiterer Titel aus dem Splitter-Verlag: Carbon und Silizium von Mathieu Bablet ist die Geschichte zweier KI, die unterschiedlicher nicht sein könnten und doch beide verloren sind. Gerade im Zuge der Diskussionen um ChatGPT, Bard und Co ein wichtiger Ansatz, der auch grafisch überzeugt.

Auf Platz 5 folgt ein weiterer melancholischer Beitrag über künstliche Wesen: Rostige Herzen von dem Duo, dem fast alles gelingt, BeKa und Munuera, ist der Einstieg in eine neue Reihe, die böse Menschen und gute Roboter als Symbole für vieles, was bei uns nicht mehr stimmt, benutzt.

Die besten Graphic Novels

Was kein Comic ist und auch kein Strip, das muss wohl eine Graphic Novel sein … In diesem Sinne die Top 3!

Platz 1 geht mit einem Tusch an Ein unerwarteter Todesfall von Dominique Monféry. Toxische Männlichkeit im Hohen Norden zeigt brutale männliche Gewalt, die nicht immer nur unter Druck entsteht und eine trotz allem erfolgreiche Überlebensstrategie einer jungen Frau.

Cover Ein unerwarteter Todesfall

Ein deutscher Titel konnte sich an zweiter Stelle platzieren: Der Zeitraum von Lisa Frühbeis schildert die Ängste und Nöte einer zwangsläufig alleinerziehenden Frau. Zwar ist das Thema keinesfalls neu, die grafische Umsetzung ist jedoch vollkommen anders als gewohnt und vereinbart persönliche Betroffenheit und „Nicht-Kunst“ mit genialen Farbakzenten.

Knapp dahinter eine Biografie auf Platz 3: In Fritz Lang schildern Arnaud Delande und Èric Liberge die Lebensgeschichte des deutschen Regisseurs, seiner Auseinandersetzung mit dem aufkeimenden Faschismus und seine teils skandalösen Beziehungen.

Die besten Gesamtausgaben

Einer meiner Lieblinge unter den frankobelgischen Zeichner*innen war schon immer Pierre Seron. Umso mehr freut es mich, dass nun endlich auch seine poetischste Serie, Die Zentauren, erstmals komplett auf Deutsch erscheint! Es darf allerdings nicht verheimlicht werden, dass der Verfasser als Übersetzer des redaktionellen Teils beteiligt war.

Cover Die Zentauren Integral 1

Auch in diesem Jahr sind drei neue Bände der Marvel Comics Library bei Taschen erschienen. Die XXL-Bände haben rund 700 Seiten, sind mehrere Kilo schwer, und präsentieren im Coffee-Table-Format die bahnbrechenden ersten Ausgaben der Marvel-Klassiker, die etwas ganz Neues erschaffen hatten. Sorgfältige Reproduktionen erlauben einen 100%igen Genuss, der von sachkundigen Einführungen abgerundet wird! Ein stolzer, aber berechtigter Kaufpreis ist der einzige, kleine Wermutstropfen!

Der dritte Platz steht ein wenig stellvertretend für ein ganzes Albenprogramm: Georg F. W. Tempel, der Herausgeber von ZACK und ZACK-Edition, hat es sich zur Aufgabe gemacht, Perlen neu oder erstmals komplett auf Deutsch herauszugeben. Dazu zählen etwa Reihen wie Jari oder Alain Cardain. Preiswürdig ist aber die Reihe Bob Morane Classic, in der erstmals alle 19 Abenteuer von Dino Attanasio und Gerald Forton erscheinen werden!

Die besten Sekundärwerke

Es gibt kaum jemanden, der so gut lesbar so viele Informationen und Debattenbeiträge zwischen zwei Buchdeckel packen kann wie Dr. Alexander Braun. Dementsprechend führt er auch dieses Jahr wieder die Liste der besten Werke über Comics an: Staying West! ergänzt, was in seinem ersten Werk über Comics und den Wilden Westen außen vor bleiben musste, nimmt Stellung in der Debatte über Politische Korrektheit und grenzt Notwendiges von Übertriebenem ab und erzählt ganz nebenbei noch vieles über Italienische Westerncomics, Karl-May-Adaptionen und den Streit im Studio Vandersteen. Ein Muss!

Cover Braun - Staying West!

Platz 2 gehört der Reddition, die Jahr für Jahr erscheint! Im Frühjahr hieß der Schwerpunkt Schweiz, das Winterheft war der neuen Generation der Spirou-Künstler gewidmet (Besprechung folgt!). Anregende Artikel, ausführliche Listen und meistens gute Einordnungen machen das Magazin ebenfalls zu einem Must-Have!

Platz drei geht an Burkhard Ihme und das ICOM Comic!-Jahrbuch. Ebenfalls Jahr um Jahr schafft es der Verein, nicht nur seine Preisträger*innen ausführlich darzustellen und zu Wort kommen zu lassen, sondern präsentiert Informationen, stößt Debatten an und macht Spaß!

Die besten Magazine

Vor mittlerweile über 50 Jahren ist die erste Ausgabe des ZACK erschienen. Die Namensgebende Zeit (Generation ZACK) endete dann aber doch und jahrelang war es düster; frankobelgische Magazine kamen und gingen. Seit 295 Ausgaben läuft aber das „neue ZACK“, das es mittlerweile auf mehr Ausgaben geschafft hat als das alte Koralle-ZACK. Jeden Monat ein bunter Querschnitt durch das frankobelgische Spektrum (und Angrenzendes) und erneuerte Klassiker wie Rick Master oder Michel Vaillant sind den ersten Platz in dieser Sparte wert!

Cover ZACK 284

Gleich dahinter kommen die Magazine des Zauberstern Verlages. Was mit dem Phantom begonnen hatte, hat mittlerweile durch Mikros, Flash Gordon, Van Helsing und Savage Dragon Verstärkung bekommen! Hut ab und weiterhin viel Erfolg!

Platz 3 ist dagegen ein Nachruf! Leider musste die Comixene mit der Nummer 146 ihr Erscheinen einstellen. Lesenswerte Informationen, streitbare Meinungen und tolle Illustrationen werden allerdings nicht ganz verschwinden, sondern sollen Alfonz ein wenig aufpeppen!

Und dann ist da noch …

… ein geglückter Relaunch! Das Universum um Spirou drohte unterzugehen. Jetzt allerdings ist die erste Folge eines Mehrteilers aus der Hauptserie erschienen (Der Tod von Spirou), die Spezial-Bände enthalten Variationen von unterschiedlichen Teams, dem Meister Franquin wird vielfältig gehuldigt, unter anderem mit einer Neuausgabe der Gesamtausgabe, und die Freunde von Spirou (Rezension folgt) bringen erneut die politische Dimension während des Zweiten Weltkrieges zurück! So kann man es machen!

Cover Spirou und Fantasio 54

Eure Lieblinge in 2023

Eure Charts, basierend auf den Abrufzahlen:

Platz 1 geht an Hägar und die Gesammelten Chroniken von 1973, gefolgt von dem ZACK-Spezial 7 und dem zweiten Bob Morane-Sonderband von Forton. Sehr knapp dahinter Mitton und Messalina 1/2.

Die weiteren Plätze: ZACK-Spezial 6 – Jari 1, Asterix – Die weiße Iris, Sammy & Jack Integral 3, Michel Vaillant Collector’s Edition 1, Michel Vaillant Legendes 1 (die NL-Ausggabe! Wenn man die deutsche Ausgabe dazu addiert, wäre das mit weitem Abstand die Höchstmarke!), Asterix – Im Reich der Mitte und Lakota von Serpieri.

Das erste ZACK (284) folgt auf Platz 12, der erste Sekundärtitel (Staying West!) auf Platz 32.

© der Abbildungen bei den jeweiligen Verlagen und Künstler*innen

Delalande/Liberge – Fritz Lang

Die Comic-Biografie

Story: Arnaud Delalande
Zeichnungen: 
Éric Liberge
Originaltitel: 
Fritz Lang, le maudit

Knesebeck

Hardcover Überformat | 112 Seiten | Farbe | 25 €
ISBN: 
978-3-95728-700-7

Cover Fritz Lang Comic-Biografie

Schon seit längerem erfreuen sich Biographien in Comic-Form großer Beliebtheit. Dabei gibt es erstaunlich viele Werke, die sich mit Schauspieler*innen oder Regisseur*innen beschäftigen. Als Beispiele seien genannt Chaplin, Marlene Dietrich oder etwa Marylin Monroe. Wenn eine solche Darstellung gut gemacht ist, regt sie dazu an, sich tiefer mit der dargestellten Person zu befassen oder Filme ansehen zu wollen. Vorweggenommen ist festzustellen, dass die Comic-Biografie über Fritz Lang diesen Ansprüchen absolut genügt!

Expressionismus im Film, Gewalt auf der Straße

Fritz Lang ist einer der großen Regisseure mit deutschem Pass die gezwungen waren, ihre Karriere nach 1933 in den USA fortzusetzen. Obwohl bereits bei der Geburt getauft, hatte Lang einen jüdischen Vater. Außerdem hatte der gefeierte Regisseur zwar durchaus teilweise ähnliche Sachen kritisiert wie die aufstrebenden Nazis, daraus aber komplett andere Schlüsse gezogen. Trotzdem war er wohl von Goebbels gebeten worden, die Leitung des Deutschen Films zu übernehmen.

Fritz Lang Comic-Biographie page 7

Die Biografie zeichnet den Weg von Fritz Lang anhand des bis heute unaufgeklärten Todesfalls seiner damaligen ersten Ehefrau nach. Sie hatte ihn wohl im Bett mit seiner späteren zweiten Frau Thea von Harbou erwischt und sich daraufhin erschossen. An dieser Darstellung gibt es allerdings Zweifel und die Figur des ermittelnden Beamten wird die Leser*innen durch den Band begleiten. Parallel zur Geschichte Langs wird die Geschichte der NSDAP von einer unbedeutenden Splittergruppe bis zur Machtübertragung geschildert.

Während Fritz Langs Affären geschildert werden, die mit Sicherheit nicht zu einer glücklichen Ehe beigetragen haben, wird zugleich auf die immer größere politische Entfremdung des anfangs kongenial arbeitenden Paares hingewiesen, da Thea von Harbou sich mehr und mehr zur überzeugten Nationalsozialistin wandelt. Im Vordergrund stehen aber vor allem seine filmischen Umsetzungen ihrer Drehbücher, die sowohl den späten Stummfilm als auch den frühen Tonfilm geprägt haben.

Realismus mit Visionen

Éric Liberge setzt das Szenario mit sehr realistischen Zeichnungen um. Das dabei verwendete Farbspektrum reicht von dunklem Sepia bis düsterem schwarzblau und unterstützt damit die Geschichte eines expressionistischem Visionärs und Zweiflers. Auch die inneren Dämonen, die möglicherweise aus dem ungeklärten Tod seiner ersten Frau herrühren, können so perfekt dargestellt werden. Oftmals besteht der Hintergrund aus ineinanderfließenden Visionen und Horror-Szenarien.

Fritz Lang Comic-Biographie page 8

Die gewählte Stilrichtung stellt zudem die zunehmende Gefahr durch die Nazis als auch die vielen Szenen aus den Filmen und den Drehs perfekt dar und lässt eine Fortführung mit einem der Filme bruchlos möglich erscheinen. Wer Mabuse, Metropolis oder M – eine Stadt sucht einen Mörder bisher nicht gesehen hat, sollte das unbedingt nachholen und wird das nach dem Lesen dieses Bandes auch wollen!

Nicht nur für Filmfans!

Die Fakten, die Arnaud Delalande zu einer spannenden Geschichte zusammengeführt hat, entsprechen (meistens) der aktuellen Kenntnis über das von Lang selbst durchaus des Öfteren verschleierte Leben. Für Filmfans, aber auch für geschichtlich Interessierte, ist diese Comic-Biografie daher fast schon ein Muss. Sie bietet aber auch einen gut lesbaren Einblick in das Leben eines hin- und hergerissenen Künstlers, der Entwicklungen aufdeckt, mit den allgemein angebotenen Lösungen aber keinesfalls konform geht.

Fritz Lang Comic-Biographie page 13

Die persönlichen Dämonen, die Hinwendungen zu Geliebten und das künstlerische Genie sind gut nachzuvollziehen und machen die Graphic Novel auch für alle zu einem Tipp, die menschliche Entwicklungen zu schätzen wissen. Wer also Auster, Greene oder Djian mag, sollte einen Blick riskieren.

Dazu passen The Sisters of Mercy mit “Temple of Love” und ein leicht torfiger Islay.

© der Abbildungen 2022 Les Arènes, Arnaud Delalande, Éric Liberge / 2023 von dem Knesebeck Verlag GmbH & Co. Verlag KG, München

Verne, Coblence/Locard – In 80 Tagen um die Welt

Die Wette gilt

Story: Jean-Michel Coblence nach Jules Verne
Zeichnungen: 
Younn Locard
Originaltitel: 
Le Tour du monde en 80 jours

Knesebeck

Hardcover | 64 Seiten | Farbe | 22 €
ISBN: 
978-3-95728-629-1

Cover In 80 Tagen um die Welt - Knesebeck

Es ist Urlaubszeit! Natürlich gehen Klassiker immer und Reiseberichte auch, es macht aber trotzdem ein besonderes Vergnügen, direkt nach einer Urlaubsreise ein solches Werk zu besprechen. Jules Verne ist sicherlich einer der größten europäischen Schriftsteller, vermochte er es doch, die wissenschaftliche Entwicklung seiner Zeit in spannende Stories zu gießen, die seine Version der Zukunft glaubhaft erschienen ließen. Deswegen sind die Geschichten auch heute noch spannend und werden immer wieder für alle Medienformen adaptiert. Nur einen Monat nach Kapitän Nemo nun also die zweite moderne Adaption.

Englische Gelassenheit und aufregende Situationen

Es beginnt sehr englisch: Ein distinguierter Gentleman sucht einen neuen Kammerdiener. Der Tagesablauf von Phileas Fogg ist präzise wie ein Uhrwerk und Passepartout, der die Stelle bekommt, freut sich bereits auf ein ruhiges, geregeltes Leben, als eine Diskussion im Reform Club etwas aus den Fugen gerät. Fogg ist der Meinung, dass eine Umrundung der Erde in genau 80 Tagen möglich wäre (tatsächlich benötigte man damals mehr als 200 Tage) und bereit, ein Vermögen von 20.000 Pfund darauf zu wetten.

Coblence/Locard 80 Tage page 5

Er macht sich noch am selben Abend auf den Weg und verlässt London mit dem Zug nach Dover. Mit dabei ist selbstverständlich sein Kammerdiener Passepartout, dem von seiner Herrschaft eine Tasche mit eben jenen 20.000 Pfund in bar anvertraut wird, um die Ausgaben zu bestreiten. Leider hat zur gleichen Zeit auch ein Raub stattgefunden: ein dreister, als Gentleman beschriebener Mann hat ein Vermögen erbeutet und ist seitdem auf der Flucht. Ein Beamter der Krone ist der fixen Idee, dass Fogg dieser Verbrecher sei und versucht, ihn auf englischem Boden festzunehmen.

Die Geschichte ist bekannt: Die beiden bekommen im Laufe der Geschichte eine weitere Begleiterin, müssen technische und psychologische Herausforderungen bestehen, werden getrennt und vereint und haben es immer wieder mit dem übereifrigen Polizisten zu tun. Jean-Michel Coblence muss daher nichts dazuerfinden, im Gegensatz muss er sogar verkürzen, um mit den 54 Seiten auszukommen, die hier zur Verfügung stehen. Das gelingt und ist im Ergebnis spannend zu lesen!

Coblence/Locard 80 Tage page 8

An alten Stichen orientierte Illustrationen

Zu meiner Jugendzeit gab es eine 20-bändige (gekürzte) Jules-Verne-Ausgabe im Fischer Taschenbuch Verlag, die nicht nur all die großartigen und ein paar langatmige Romane versammelte, sondern auch Illustrationen enthielt. Wenn ich mich richtig erinnere, waren es zeitgenössische Stiche. Die Zeichnungen von Younn Locard erinnern ein wenig daran. Einerseits sind sie durch die Strichtechnik unheimlich detailreich, andererseits wirken Personen im Vordergrund teilweise wie aufgeklebt.

Insgesamt passt diese grafische Umsetzung super zu der Neuveröffentlichung! Die Gesichter und Figuren wirken teilweise sehr modern, leicht karikierend, in der Gesamtheit passt der Stil aber zum klassischen Content. Hier gibt es keine reißerische Modernisierung, sondern eine das Alte akzeptierende Darstellung, die nicht nachahmt, aber den Zeitkolorit versteht. Ich muss aber zugeben, dass ich ein paar Seiten gebraucht habe, um mich einzufinden.

Coblence/Locard 80 Tage page 11

Die Empfehlung

Wie schon gesagt: Jules Verne geht immer und ist doch für diejenigen, die aus der Steampunk-Ecke kommen, vielleicht eine lohnenswerte Neuentdeckung! Es ist schwierig, einen Stoff, den fast jede*r kennt, so zu präsentieren, dass beim Lesen Spannung aufkommt. Dadurch, dass Coblence den Stoff radikal gekürzt hat, die Exzentrität des Phileas Fogg dabei aber noch überspitzt, und Locard seinen ganz eigenen Zugang gefunden hat, ist der Comic aber unbedingt zu empfehlen!

Knesebeck nutzt wieder ein dem Großband ähnliches Format in schöner Hardcoverbindung und versieht das Ganze mit einem in matten Farben präsentierten Cover, dass jedem einzelnen Blatt im Dschungel seine Referenz erweist! Dazu kommen noch ein paar Informationen zu Jules Verne und der damaligen Zeit!

Dazu passen The Cure mit “A strange Day” und ein Pimm‘s.

© der Abbildungen 2021 Casterman / 2022 von dem Knesebeck Verlag GmbH & Co. Verlag KG, München

Kovarova/Sredl – Das Bildnis des Dorian Gray

Eine Graphic Novel

Story: Amalie Kovarova nach Oscar Wilde
Zeichnungen: 
Petr Sredl
Originaltitel: 
The Picture of Dorian Gray

Knesebeck
Hardcover | 160 Seiten | Farbe | 22,00 €
ISBN: 
978-3-95728-545-4

Kovarova/Sredl - Das Bildnis des Dorian Gray - Cover

Es gibt einige Werke der klassischen Literatur von denen jede*r bereits etwas gehört hat. Eines davon ist Das Bildnis des Dorian Gray von Oscar Wilde. Es gibt Versionen für Ballett, Oper, Musical, Theater und Film und bereits mehrere Comic-Adaptionen. Nun also auch eine Interpretation von zwei tschechischen Künstler*innen, auf Deutsch verlegt von Knesebeck im dortigen auf Literatur und Biografien spezialisierten feinen Graphic Novel-Programm.

Die ewige Jugend – ein Wunschtraum?

Wie bekannt ein Stoff ist, erschließt sich unter anderem darin, dass entweder Alltagsbeschreibungen oder Krankheitsbilder einen entsprechenden Ausdruck übernommen haben. Die Unfähigkeit, dass eigene altern zu akzeptieren, heißt seit einigen Jahren Dorian-Gray-Syndrom. Und die Werbung versucht uns allen einzureden, bereits mit 20 Jahren müsse dem Verfall entgegengewirkt werden. Schönheits-OPs sind lukrativ und Wässerchen und Tinkturen aus dem Labor der Hit.

Das Bildnis des Dorian Gray - page 9

Einem Maler ist ein perfektes Bild gelungen, das den jungen Dorian Gray darstellt. Obwohl es möglicherweise sein bestes Bild darstellt, stellt er es nicht aus oder verkauft es, sondern schenkt es seiner Muse, dem Portraitierten. Zeitgleich zum Modelstehen hat der junge Gray einen Freund des Malers kennengelernt, einen Lebemann. Seiner Meinung nach sei das einzig Erstrebenswerte die Jugend; alles andere sei Verfall und Abstieg. Gray wünscht sich, dass anstelle seiner das Bild altere und tatsächlich zeigen sich alle Folgen seines ausschweifenden Lebens nur auf der Leinwand.

Wie es sich in der Literatur so ergibt, bleiben einige der Ausschweifungen nicht folgenlos und immer gibt es Verwandte oder Freunde*innen, die Vergangenes rächen wollen. Zudem ist oft der „Schöpfer“ nicht gerade begeistert, wenn er schließlich von der Sache erfährt. Amalie Kovarova bleibt textlich sehr dicht am Original, teilt die Geschichte aber geschickt auf einzelne Bilder auf und entstaubt sie dadurch ein wenig. War dem Original noch teilweise unterstellt worden, dass es unsittlich sei und der Verderbtheit Vorschub leiste, so ist davon hier nichts mehr zu spüren. Vielmehr erkennt Dorian irgendwann in welche Falle er geraten ist, kann oder will sich aber nicht daraus befreien.

Das Bildnis des Dorian Gray - page 10/11

Sehr lebendige Zeichnungen

Petr Sredl setzt das Ganze sehr lebhaft um. Die Figuren scheinen sich jede Sekunde weiterbewegen zu wollen, Action-Szenen wirken rasant geschnitten und sehr filmisch. Dabei sind die Zeichnungen keinesfalls realistisch. Das Layout ist sehr flexibel und passt sich der geforderten Stimmung an. Unterhaltungen können daher in streifigem Layout daherkommen während Streitgespräche das Interaktive betonen.

Und noch etwas ist bemerkenswert: Oft genug erscheinen Geschichten, die zu vergangenen Zeiten spielen, etwas altbacken allein wegen des Dekors in Kombination mit der erkennbar älteren Sprache. Das andere Extrem sind Modernisierungen, in denen das Thema, teils wörtlich, in eine aktuellere Zeit herübergezogen wird. Hier präsentiert Sredl das originale Ambiente, ohne dabei nostalgisch zu wirken. Sicherlich ein Pluspunkt!

Das Bildnis des Dorian Gray - page 24

Dekadenz und Moral

Der Roman hat nun über 130 Jahre auf dem Buckel. Damals ging es gegen die Dekadenz der Oberschicht, die so heutzutage natürlich nicht mehr existiert. Dass eine Geldelite aber auch heute eigenen Vergnügungen frönt, den Weltall zur Luxustourismuszone gemacht hat und gleichzeitig immer mehr Abschottungspolitik gegenüber den Besitzlosen fordert, ist vielleicht auch ein Ansatzpunkt, um das Bildnis des Dorian Gray mal wieder zu lesen. Diese Ausgabe ist eine der besten mir bisher untergekommenen und daher eine Empfehlung wert!

Die Ausgabe kommt als Hardcover im US-Format und eindrucksvollem Cover! Einzig der Vorsatz hätte noch illustriert sein können.

Dazu passen The Specials mit ihrem neuen Album „Protest Songs 1924 – 2012“ und ein Glenmorangie.

© der Abbildungen 2021 Petr Sredl, 2020 Dobrovsky s.r.o. / 2021 von dem Knesebeck GmbH & Co Verlag KG, München

Ahlering/Voloj – Marlene Dietrich

Augenblicke eines Lebens

Story: Julian Voloj
Zeichnungen: 
Claudia Ahlering

Originalausgabe

Knesebeck Verlag

Hardcover | 128 Seiten | Farbe | 24 € |

ISBN:  978-3-95728-334-4

Cover Ahlering/Voloj – Marlene Dietrich

Biografien zu Hollywoodgrößen vergangener Tage sind gerade in Mode. Bei Panini gibt es gar eine eigene Reihe, Charlie Chaplin und Marylin Monroe sind bereits erschienen. Sie erzählen das Leben als Geschichte, sparen auch Probleme nicht aus, wollen im Wesentlichen aber eher gefällig sein. Die hier vorgelegte Graphic Novel über „die Dietrich“ ist anders.

Die deutsche Anti-Deutsche

Marlene Dietrich ist wahrscheinlich die einzige Diva aus Deutschland. Noch weitgehend unbekannt wurde sie für den ersten deutschen Tonfilm engagiert und „Der blaue Engel“ war gleichzeitig ihre Eintrittskarte nach Hollywood. Augenblicke eines Lebens schildert sowohl ihre persönlichen Momente als auch Ausschnitte ihrer Karriere nach. Ein junger Journalist erhält die Möglichkeit, ein Interview mit der seit Jahren sehr zurückgezogen lebenden Legende zu führen und bereitet sich auf das Gespräch vor.

Ahlering/Voloj – Marlene Dietrich page 20/21

Die große Berühmtheit scheint ihm von ihrer Zeit in Berlin zu erzählen, ihrer Ehe mit Rudi Sieber und den Ereignissen rund um den Film, der sie berühmt machen sollte. Sie geht zunächst ohne ihre gemeinsame Tochter nach Hollywood, holt diese aber nach und beginnt zu begreifen, dass es in Deutschland unter Hitler keine Zukunft geben kann. Vergeblich versucht sie, ihre Mutter zur Ausreise zu überreden.

In Hollywood beginnt sie eine langjährige Liaison mit Jean Gabin der sich schließlich freiwillig dem Kampf gegen die Nazis anschließt und auch Marlene beginnt aktiv zu werden und die Moral der Truppe durch Auftritte zu heben. Nach der Befreiung muss sie feststellen, dass ihre Schwester ein Kino zur Entspannung der SS-Schergen in Bergen-Belsen betrieben hat. Sie wird sie von Stund an verleugnen.

Ahlering/Voloj – Marlene Dietrich page 42/43

Das Leben wird in kleinen Ausschnitten präsentiert und hat mehr Auslassungen als Inhalte. Die Augenblicke bieten daher nur einen ersten Einstieg in ein komplexes Leben das dem deutschen Mittelmaß so gar nicht entsprochen hat. Und doch war sie die erste, die öffentlich in Israel auf Deutsch gesungen hat. Ihr hat man es abgenommen, dass Kultur und Sprache auf der einen, Großmannssucht und Rassismus auf der anderen Seite nicht zusammengehören müssen.

Knarzige Bilder

Auch der gewählte Stil hat nichts massenmarkttaugliches an sich! Die Bilder sind nicht schön, die Figuren erst recht nicht und die gemalten Panel karikieren und wirken ein wenig aus der Zeit gefallen. Sie erinnern fast ein wenig an Egon Schiele und stellen nicht die wahrhafte Abbildung in den Vordergrund, sondern die Emotion der Handelnden. Dadurch wird eine gewisse Distanz geschaffen, die zur Auseinandersetzung mit dem Inhalt aufruft und sich der schnellen Konsumierbarkeit entgegenstellt.

Ahlering/Voloj – Marlene Dietrich page 80/81

Das ist auch der größte Unterschied zu der eingangs erwähnten Reihe der Hollywood-Stars. Dort ist das Was der Fokus, hier das Warum! Claudia Ahlering und Julian Voloj ist die Annäherung gelungen. Sie ruft großartige Bilder hervor, lässt Musik erklingen, zeigt große Gesten, lässt aber auch kleine Schwächen zu und zeigt Unsicherheiten.

Fazit

Was ist die Aufgabe einer Biografie? Einerseits geht es um das Bild für die Nachwelt und die Frage, ob es geschönt sein soll oder eher ungeschminkt. Hier ist es wohl am ehesten ein Mittelweg geworden. Die zweite Aufgabe ist sicherlich, Interesse an der dargestellten Persönlichkeit zu wecken. Ist alles gesagt, war das Leben vielleicht doch nicht so groß. Hinterlässt es aber ein paar offene Fragen und regt somit zu weiterem Einsteigen ein, beantwortet aber gleichzeitig ein paar grundlegende Fragen und klärt damit ab, ob sich weiteres Beschäftigen lohnt, dann ist alles gelungen.

Knesebeck hat sein feines Programm aus Literaturadaptionen und Biografien mit einem weiteren Kleinod bereichert! Es wird nicht allen gefallen, aber auch das ist ein Pluspunkt und liegt eher im Auge des Betrachtenden.

Dazu passen Marlene Dietrich mit „Ich Hab` Die Ganze Nacht Geweint“ und ein trockener Champagner.

© 2021 von dem Knesebeck GmbH & Co Verlag KG, München, Abbildungen © 2021 Claudia Ahlering, Texte © 2021 Julian Voloj

Boisserie/Gaultier – Kim Philby

Kim Philby. Gentleman, Spion, Verräter.

Autor: Pierre Boisserie

Zeichner: Christophe Gaultier

Originaltitel: Philby. Naissance d´un agent double.

Knesebeck Verlag

Hardcover | 88 Seiten | Farbe | 20,00 €

ISBN: 978-3-95728-489-1

Cover Kim Philby Gentleman, Spion, Verräter

Doppelagenten sind schon seit vielen Jahrzehnten ein Hauptmotiv in Spionageromanen, Filmen und auch Comics. Besonders beliebt sind dabei natürlich an tatsächliche Begebenheiten angelehnte Stories, untern anderem über die sogenannten Cambridge Five. Kim Philby, geboren 1912 in Britisch-Indien, war einer von ihnen.

Als Kommunist in Englischen Diensten

Die Graphic Novel steigt in das Leben des berühmten englischen Doppelagenten zunächst einmal literarisch ein, denn der Junge Harold bekam seinen Spitznamen Kim aufgrund der gleichnamigen Erzählung von Rudyard Kipling. Der im Moskauer Exil lebende Titelheld bekommt ein Exemplar eben dieser Geschichte von einem Bekannten, der sich später als Graham Greene herausstellen wird, überreicht. Aus diesem Gespräch auf einer Bank entwickelt sich dann das Leben in Rückblicken.

Kim Philby page 5

Der Wunsch, ein Spion zu werden, das Gefühl für Ungerechtigkeit und die Erkenntnis, dass systemimmanente Kräfte wie Konservative und Sozialisten das Problem nicht werden lösen können, führten schließlich dazu, dass Kim Philby Kommunist wird. Unter dem Deckmantel des Journalisten kann er nicht nur Informationen transportieren, sondern vor allem unauffällig recherchieren und Bekanntschaften mit Akteuren etwa auf Seiten Francos schließen.

Dabei überrascht es heutige Leser*innen immer wieder, wie leicht es gewesen sein muss, die kommunistischen Überzeugungen trotz vieler Hinweise zu verbergen und offiziell für den Kampf gegen die eigenen Glaubenssätze bezahlt zu werden. Gerade diese Stellen gelingen dem erfahrenen Autoren Pierre Boisserie sehr gut. Durch das Gespräch werden die Puzzlesteine aus dem Leben in Beziehung gesetzt und ergänzt, die – verhaltene – Action in den Rückblicken macht das Ganze aber gleichzeitig sehr lebendig und spannend.

Man darf aber nicht vergessen, dass es in diesem Band nicht um exakte Geschichtsschreibung geht. Auch wenn die Geschichte an die Wahrheit angelehnt ist findet sich doch die eine oder andere literarische Freiheit!

Kim Philby page 10

In der Ruhe liegt die Kraft

Christophe Gaultier ist ein erfahrener, in verschiedenen Stilen befähigter Comiczeichner aus Frankreich. Hier zeichnet der 1969 geborene mit groben Umrisslinien, sehr detail-reduziert und fast schon karikierend. Die Hintergründe sind allerdings stark detailliert und verhindern dadurch eine zu starke Reduktion. Erwartungsgemäß sind Bewegungen und Abläufe nicht unbedingt filmisch angelegt, sondern entsprechen eher Einzelaufnahmen.

Der Held, Philby, ist ein sympathischer, alter Mann der schnell zur Identifikationsfigur wird. Man nimmt ihm die Überraschung auch in den Rückblicken ab und kann die Entwicklung vom Heißsporn zum wichtigen Agenten auch in der körperlichen Darstellung nachverfolgen.

Kim Philby page 13

Auch der Gesprächspartner ist rollentypisch dargestellt und gut geraten: immer der „Kamera“ abgewandt, zugeknöpft und geheimnisvoll. Ansonsten folgt die Darstellung klaren formalen Regeln mit drei Streifen pro Seite und lässt so etwas wie Hektik vollkommen außer Acht.

Die Wertung

Im Krimi und Thriller-Genre haben sich zuletzt immer mehr Gewaltorgien durchgesetzt. Philby ist ein Gegenpol dazu: Ruhig, erklärend, britisch. Schon das wäre ein Grund zu überlegen! Wer John Le Carré mag hat, wird sich an die Cambridge Five sowieso erinnern und kann hier ebenfalls einen blick riskieren.

Der Band ist aber auch für nicht Krimifans interessant: Warum entscheidet sich jemand, Kommunist zu werden und sein weiteres Leben diesem Ziel komplett unterzuordnen. Spannend!

Dazu passen die leicht melancholischen The Triffids aus Australien mit „In the Pines“ und ein 15 Jahre alter Macallan Double Cask.

© der Abbildungen 2020 Éditions Les Arènes, Paris, par P. Boisserie and C. Gaultier / 2021 von dem Knesebeck GmbH & Co Verlag KG, München

Derrien/Torregrossa – 1984

1984 – nach George Orwell

Autor: Jean-Christophe Derrien

Zeichner: Rémi Torregrossa

Originaltitel: 1984. D´après lòevre de George Orwell, adaptée par J.-C. Derrien and R. Torregrossa

Knesebeck Verlag

Hardcover | 128 Seiten | Farbe | 22,00 €

ISBN: 978-3-95728-468-6

Cover 1984-Knesebeck Verlag

1948, also in dem Entstehungsjahr von George Orwells Dystopie „1984“, lagen noch fast vier Jahrzehnte zwischen Gegenwart und Zukunft. Heute ist das seit fast vier Jahrzehnten Vergangenheit.

1984 – Synonym für die totale Überwachung

Und obwohl nicht alle Projektionen der Zukunftsvision Realität geworden sind waren wir technologisch gesehen noch nie so nah dran am gläsernen Menschen. Bis auf wenige Ausnahmen am Rand der Gesellschaft sind wir Bewohner*innen der „Ersten Welt“ aufgrund von Handy-Bewegungsdaten, Internet-Nutzungsprofilen, freiwillig bei Amazon, in der Spiele-App oder dem Einkaufsbonusprogramm abgegebenen persönlichen Metadaten und fleißig auf allen social-media-Kanälen geteilten privaten Inhalten so bekannt wie nie. Kein Überwachungsstaat hätte sich diese Informationsfülle ausdenken können, die heute zur Verfügung steht.

Zurück zu der literarischen Vorlage: 1984 beschreibt anhand des Angestellten Winston Smith die schleichende Entfremdung des Einzelnen mit dem kollektiven Staat. Er hinterfragt den Sinn seiner Arbeit, die aus dem Anpassen der dokumentierten Vergangenheit aufgrund tagesaktueller Entscheidungen besteht. Winston erkennt, dass eine Widerstandsbewegung existiert und vor allem ist er dabei, sich in Julia zu verlieben. Intimität und Sex sind als Keimzellen von Individualität und gemeinsamen eigenen Interessen strengstens verboten.

1984-Knesebeck Verlag page 5

Aufgrund von menschlichen Spitzeln und Denunziation aber auch durch technische Überwachung des gesamten öffentlichen und privaten Raumes ist Widerstand über eine längere Zeit unmöglich und wird strengstens bestraft.

Jean-Christophe Derrien ist bisher eher als Autor von Trickfilmumsetzungen verschiedener Comic-Klassiker bekannt geworden: Spirou, Blake und Mortimer oder Bob Morane wurden von ihm aufbereitet. Hier kann er eindrucksvoll beweisen, dass ihm eine Aufarbeitung eines fremden Stoffes auch für einen statischen, also gedruckten Comic gelingt! Er klebt nicht sklavisch am Original, sondern wählt aus und variiert dadurch das Tempo für das gewählte Medium. Viel Text wird dabei in Bildsprache umgesetzt und muss von uns Leser*innen aufgenommen werden: die drückende Stimmung, die durch die überall platzierten Kriegsplakate geschürte Angst, die Uniformität der Gesellschaft.

Schwarz-weiß, farbig, und wieder zurück

Die Geschichte beginnt mit schwarz-weißen Zeichnungen, teilweise auf schwarzem Seitenhintergrund. Rémi Torrregrossa legt Wert auf kleine Details im Hintergrund oder in den Gesichtern seiner Protagonist*innen. Obwohl alles einförmig gemacht wird, gibt es noch Individualität, sie äußert sich aber nicht. Erst als Winston und Julia sich näherkommen, Gefühle entwickeln und sich öffnen, wird es auch farbig. Es gibt aber noch eine weitere Emotion, die in der Lage ist, „Farbe“ zu entwickeln; welche das ist, soll hier nicht verraten werden.

1984-Knesebeck Verlag page 7

Die Zeichnungen sind so realistisch, dass sie beim Lesen das Gefühl der Anwesenheit vermitteln. Wie bei einer gut gemachten Dokumentation begleiten wir Winston, nehmen an seine Gedanken und Handlungen teil und fühlen mit. Geplant ist das in vielen Graphic Novels, erreicht wird das nur selten. Hier haben wir es mit einem dieser seltenen Glücksfälle zu tun: künstlerischer Anspruch und realisierte Umsetzung entsprechen einander virtuos!

Ein Must-Have für den Bücherschrank

Die Zeichnungen zeigen nicht nur die totale Uniformität und Unterdrückung auf beeindruckende Weise, sie deuten auch bereits im emotionalen Überschwang der Individualität an, dass diese niemals bestehen kann. Sie transportieren damit dem Text ebenbürtig die Düsterkeit der Zukunftsvision und warnen eindringlich davor, diese Macht zuzulassen. Natürlich aber enthalten sie kein Rezept gegen diese Diktatur und entsprechen damit dem Gefühl der Hilflosigkeit des Autors kurz nach den Schrecken des Zweiten Weltkrieges.

1984 gehört in jeden Bücherschrank! Nicht nur immer noch, sondern gerade jetzt! Wer mag darf das Original von George Orwell bevorzugen. Als moderne Interpretation, die obwohl originalgetreu doch auch aktuelle Bezüge herstellen kann, ist diese Graphic Novel allerdings ebenbürtig zu sehen! Den Kampf für Individualität, Freiheit und Frieden muss jede*r einzelne selbst beginnen, die Mahnung vor den Folgen des Verlierens bleibt aktuell.

1984-Knesebeck Verlag page 10

Wie immer sind die Comics aus dem Knesebeck-Verlag handwerklich schön! Das Buch sieht edel aus, die „Farben“, insbesondere das Schwarz, sind satt und das Papier so dick, dass nichts durchscheint. Ein weiteres Kleinod für die Sammlung.

Dazu passen ein Grog, denn man möchte sich an etwas Warmen festhalten, und Clockwork-Orange beeinflusste Musik von den Adicts.

© der Abbildungen 2021 Éditions Soleil, Groupe Delcourt, Paris, par J.-C. Derrien and R. Torregrossa / 2021 von dem Knesebeck GmbH & Co Verlag KG, München

Jahresrückblick 2020

Corona, Tops & Flops und gute Wünsche

Ein seltsames Jahr geht zu Ende. Schon lange war immer wieder befürchtet worden, dass eine bisher unbekannte Krankheit sich pandemisch ausbreiten und unzählige Tote verursachen könnte. Mit COVID-19 ist dieses Schreckgespenst Realität geworden und was bisher undenkbar schien ist plötzlich Alltag: Die Menschen tragen auch in Europa Masken wenn sie aus dem Haus gehen, Geschäfte sind über längere Zeiträume geschlossen, ja, es gibt sogar Ausgangssperren. In einigen Gebieten können die Toten nicht mehr schnell genug beerdigt werden und die Krankenhäuser sind über die Kapazitätsgrenzen hinaus mit Patient*innen belegt. Vor einem Jahr wäre das einzig ein Szenario für ein Katastrophensetting gewesen.

Corona hat auch den Comic-Markt ein wenig durcheinander gewirbelt: Erlangen hat nur digital stattgefunden, die Comic-Cons sind ausgefallen, die Rudolph-Dirks-Awards wurden ohne Publikum verliehen, der Gratis-Comic-Tag wurde auf den September dezentralisiert und findet in 2021 gar nicht statt.

Ich wünsche euch und uns allen, dass das kommende Jahr besser wird, die Krankheit mit Impfungen eingedämmt werden kann, und Verschwörungstheoretiker*innen wieder im Keller verschwinden. Vielleicht können wir ja sogar den gemeinsamen Willen, Sterbefälle nicht einfach hinzunehmen, auf andere Ursachen ausdehnen. Andere Gefahrenquellen gibt es genügend.

R.I.P.

Auch 2020 sind wieder viele Akteure im Comicgeschäft verstorben; Größen der franko-belgischen Tradition wie auch der US-amerikanischen sowie ein „Urgestein“ der deutschen Comic-Szene. Da ich hier keineswegs einen vollständigen Nekrolog bieten kann und möchte, sei an die folgenden Namen exemplarisch erinnert: Wolfgang J. Fuchs, Albert Uderzo, Mort Drucker, Dennis O’Neil, André-Paul Duchâteau, Alex Varenne, Malik und Richard Corben.

Die besten Comics in 2020

Ich möchte heute meine Favoriten aus den Erscheinungen von 2020 vorstellen: rein subjektiv und unbeeinflusst. Um das etwas zu gliedern erfolgt die Vorstellung in fünf Kategorien: Alben, Graphic Novels, Gesamtausgaben, Sekundärwerke und Zeitschriften. Dazu kommt dann noch die Reihenfolge der Beiträge basierend auf den Zugriffszahlen in 2020. Wer möchte sei dazu aufgefordert, die eigene „Bestenliste“ als Kommentar zu posten!

Album des Jahres

Für mich ein wenig unerwartet, aber der beste Comic kommt tatsächlich aus dem Superheldenbereich: Joker/Harley – Psychogramm des Grauens ist eine vielschichtige Story von Kami Carcia ohne Schnickschnack, Superkräfte oder göttliche Wesen. Elemente aus Cop-Serien, Psychologie und DC-Universe werden geschickt verwoben und das mit außergewöhnlichem Artwork! Ich bin sehr gespannt auf die beiden noch fehlenden Teile dieser Miniserie unter dem Black Label.

Lucky Luke begleitet mein Leben schon seit fast fünfzig Jahren. Irgendwie immer lustig, gut gezeichnet aber auch ein wenig austauschbar. Schon die letzten Bände von Achdé und Jul haben gezeigt, dass sich das mehr und mehr ändert, aber die Fackeln im Baumwollfeld sind wirklich beeindruckend: aktuelle Themen, der erste farbige Hauptcharakter, starke Frauenfiguren und ein Humor, der auf verschiedenen Altersstufen wirkt, ohne aufgesetzt zu sein! Platz 2!

Platz 3 geht an ein Endzeitszenario: Zep hat mit The End einen Ökothriller allererster Güte abgeliefert. Die Natur schlägt zurück, ist aber doch noch irgendwie versöhnlich dabei. Unterlegt mit dem Refrain eines Doors-Song entwickeln die Bilder eine sehr eigene Stimmung.

Der vierte Rang geht an die Kronieken van Amoras: Legendre und Cambré haben die klassische All-Age-Serie Suske en Wiske auf eine sehr spannende Weise modernisiert und auf ein Niveau für Erwachsene gehoben. Umweltpolitik, Korruption, Gewalt, Arbeitslosigkeit; es gibt kaum ein aktuelles Thema, das nicht irgendwie in die Stories eingeflossen ist. Dazu kommt ein enormes Arbeitstempo der beiden Künstler. Wer kein Niederländisch versteht, darf sich trotzdem freuen: vom Sommer 2021 an wird die Amoras-Sage im ZACK erscheinen.

Und nicht zu vergessen Aristophania! Gute Hexen und Zauberer gegen die Truppen des Verbannten Königs und mittendrin ein paar Kinder, die Hoffnungsträger*innen sein könnten. Grandiose Landschaften und eindrucksvolle Emotionen von Joel Parnotte, eine spannende Story von Xavier Dorison, was will man mehr!

Die besten Graphic Novels in 2020

Bei den Graphic Novels hat es in 2020 so viele gute gegeben, dass die Auswahl wirklich schwerfällt. Trotzdem musste ich mich für fünf entscheiden:

Platz 1 geht an Der Wolf von Jean-Marc Rochette! Der uralte Kampf zwischen Tier und Mensch, gegen die Unbillen der Natur und das Eindringen der Zivilisation auch in die letzten Schutzräume werden mit großartigen Bildern erzählt! Ein Beweis dafür, dass ein Comicprogramm nicht groß sein muss, um tolle Sachen zu produzieren!

Unmittelbar darauf folgt mit CH Links ein Verlag, der eigentlich nicht für Comics bekannt ist: Meine freie deutsche Jugend erzählt die Geschichte über das Heranwachsen in der ehemaligen DDR, mit allen Situationen, die nur dort passieren konnten, aber auch dem Charme der Kindheitserinnerungen. Dies gelingt ohne Hass und auch das ist erwähnenswert! Eine gute Adaption des Romans von Claudia Busch durch Thomas Henseler und Susanne Buddenberg.

Platz drei geht an Omaha, eine Geschichte nur für Erwachsene! Kate Worley erzählt die Geschichte einer Frau, die ihren Platz in der Gesellschaft sucht und mit männlichen Machtstrukturen, Bigotterie, Korruption, Erpressung und Mord aber auch mit Liebe und Freundschaft umzugehen hat. Die Bilder von Reed Waller sind teilweise mehr als freizügig aber nie voyeuristisch! Klassiker der Independents und der Fur-Art, der jetzt wieder aufgelegt wird.

Platz 4 ist eine Literaturadaption. Die Insel des Dr. Moreau von Adams und Rodríguez modernisiert die klassische Story von H.G. Wells behutsam. Tolles Artwork für ein politisch hochbrisantes Thema, gespickt mit einem Kampf der Geschlechter. Besser als Kino!

Platz 5 geht an die wohl klassischste aller Graphic Novels, die jetzt endlich und erstmals komplett auf Deutsch vorliegt: Corto Maltese von Hugo Pratt! Gespickt mit Hinweisen auf Literatur und in historischen Zusammenhängen spielend, graphisch sowohl in schwarz-weiß als auch farbig funktionierend und dann auch noch mit vielen Illustrationen und Artikeln in einer einheitlichen Hardcoverausgabe!

Die besten Gesamtausgaben in 2020

Das Nest von Regis Loisel und Jean-Louis Tripp ist ein Comic-Roman über neun Bände. Eins bis drei sind im ersten Teil der gerade erschienen Gesamtausgabe versammelt. Ein kleines Dorf in Kanada muss sich der Moderne stellen: selbständige Frauen, unmännliche Männer und ganz viel Verwirrung bei den Traditionalisten. Großartig! Platz 1!

© 2018 Casterman, © Carlsen Verlag GmbH, Hamburg 2020

Paolo Eleuteri Serpieri dürfte vielen bekannt sein als Zeichner von Druuna, einer sehr freizügigen SF-Serie. Seine Kariere begonnen hat er aber mit sehr einfühlsamen Geschichten über die Eroberung des sog. Wilden Westens, die Vernichtung der amerikanischen Ureinwohner und den Kampf gegen die Natur. Die mit dem vierten Band abgeschlossene Collection Serpieri – Western hat diese Kurzgeschichten (zum Teil erstmals) dem deutschen Publikum wieder zugänglich gemacht. Platz 2!

Gleich mit zwei Bänden ist Walhalla – Die gesammelte Saga in diesem Jahr gestartet. In der aus dem Dänischen übersetzten Serie von Peter Madsen und Henning Kure werden die nordischen Heldensagen lebendig. Fast perfekte Ausgabe mit reichlich Hintergrundmaterial und Illustrationen sowie Angaben zu den ursprünglichen Mythen. Erschienen in der Edition Roter Drache.

Abgeschlossen ist die Ausgabe aller Science-Fiction und Fantasy Stories die Wally Wood für den EC-Verlag gezeichnet hat. Nach Szenarios von Bill Gaines, Al Feldstein und Ray Bradbury hat Wood unvergessliche Monster geschaffen, aber vor allem Stimmungen kreiert, die den Leser*innen noch heute Gänsehaut über die Arme jagen und damit Platz 4 verdient.

Schließlich den Weg in die Top five gefunden hat auch Aria von Michel Weyland. Die Kriegerin Aria ist unabhängig, löst die Aufgaben eher mit dem Köpfchen als mit dem Schwert, kann sich aber trotzdem durchsetzen, wenn es darauf ankommt. Sie lebt in einer teils brutalen, teils romantischen Welt und hat ein ganz eigenständiges Kapitel im Buch der Fantasy geschrieben. Zwei Bände pro Jahr mit vielen Illustrationen, weiterführenden Texten und Gedanken von Weyland zur Entstehungsgeschichte jedes Albums.

Eine lobende Erwähnung geht an Kult Comics für die Veröffentlichung von den Werken Eric Heuvels. Nicht nur die bekannten Serien January Jones und Bud Broadway, auch die educational comics, Carbeau oder Gezeichnet hats… erscheinen in schöner Regelmäßigkeit und perfekter Aufmachung, aber eben nicht als Gesamtausgabe und deshalb nicht in diese Kategorien passend!

Die besten Sekundärwerke in 2020

Das ohne jeden Zweifel beste Sekundärwerk des Jahres ist The History of EC Comics von Grant Geissman! Das großformatige und voluminöse Werk aus dem Taschen Verlag wiegt mehr als 6 Kilo und präsentiert über 1000 Abbildungen! Dazu kommt der sehr fundierte Text des langjährigen Kenners der Materie, allerdings auf Englisch. Mit diesem Band beweist Taschen mal wieder, dass Kunstdarbietung, detailreiche Inhaltsvermittlung und perfektes Coffee-table-book keine Widersprüche sein müssen, sondern sich super ergänzen können!

Platz zwei geht an einen Ausstellungskatalog. Kein leichtes Thema in diesem Jahr, waren doch Museen über lange Zeit geschlossen und mussten Pläne über geplante Exhibitions immer mal wieder neu geschrieben werden.  Fix & Foxi – Die Entdeckung von Spirou, Lucky Luke und den Schlümpfen ist eigentlich begleitend zu einer Ausstellung im Karikaturmuseum Krems erschienen, ermöglicht aber natürlich auch den Genuss zu Hause. Während die Geschichte des Kauka-Verlages schon das eine oder andere Mal Gegenstand von Veröffentlichungen und Katalogen war, liegt der Schwerpunkt hier auf der Einführung der frankobelgischen Klassiker in den deutschen Markt.

Auch der dritte Platz geht an die Edition Alfons: Die Reddition ist beständig, informativ, tiefschürfend und reich und sinnvoll illustriert. Die Redaktion geht Themen breit an und präsentiert damit einen Überblick, der seines Gleichen sucht. In diesem Jahr ging es zunächst um Zeitungscomics in Deutschland und dann um die Serie Blake und Mortimer.

Die besten Zeitschriften in 2020

Monat für Monat präsentiert der Gewinner eine genreübergreifende Auswahl an europäischen und anderen Comics: das ZACK vereinigt Klassiker, moderne Varianten davon und eine große Zahl an traditionellen wie auch innovativen Serien für mehrere Generationen von Lesern und Leserinnen. Die alten Recken wie Rick Master und Michel Vaillant wurden modernisiert, moderne Serien wie Giant, Haute Cuisine oder Millennium präsentiert und preisgekrönte Werke wie die Morde im Mai veröffentlicht. Dazu kommen Artikel, Infos und Kurzgeschichten.

Der zweite Platz geht an ein Magazin in unserem Nachbarland: JUMP. Die Uitgeverij Personalia hat schon vor einigen Jahren mit dem ebenfalls absolut empfehlenswerten StripGlossy ein sehr erfolgreiches Konzept gelauncht und versucht jetzt wieder etwas Neues. Während früher Kinder eine ganz natürliche Zielgruppe von Comic-Magazinen waren, gibt es diese mittlerweile entweder als ganz spezielle Themenmagazine, meistens orientiert an TV-Sendungen, oder aber als Disney-Publikationen. Ein unabhängiges, comic-fixiertes Medium ist dagegen neben den auf ältere Leser*innen ausgerichteten Heften nicht mehr anzutreffen. Genau diese Lücke versucht Jump zu schließen!

Platz drei geht an das auflagenstärkste Comic-Heft Deutschlands. Mosaik ist eine Institution und begeistert seit über 540 Monaten kleine und große Leser*innen mit den Abenteuern der Abrafaxe in der Zeit. Aktuell befinden sich die Drei in der Südsee zu Zeiten des deutschen Kaiserreiches. In Zusammenarbeit mit der Stiftung Lesen gibt es in jedem Heft weiterführende Infos, Spiele und Museumstipps.

Comeback des Jahres

Zum Schluss noch das Comeback des Jahres: In den 80-er-Jahren war Dani Futuro zu Gast auf den Seiten des Koralle-ZACK und brachte es 1983 auf drei Alben bei Semic. Seit ein paar Tagen ist er zurück und kommt erstmals komplett und einheitlich in insgesamt acht Bänden beim All Verlag! Band 1 beschreibt die Rettung des verschollenen Jungen Dani. Rezension der Nummer 2 folgt in Kürze.

Eure Lieblinge in 2020

Unangefochtener Spitzreiter in 2020 bei den von euch geklickten Beiträgen ist die Ankündigung des Goldenen Hinkelsteins von Uderzo und Goscinny. Dahinter kommen der Katalog zur brillanten Moebius-Ausstellung in Brühl, der aktuelle Lucky Luke, der Jahresrückblick 2019 und der erste Teil von Omaha!

Auf dem sechsten Platz die Vorstellung des zweiten Halbjahres aus dem All Verlag, Geissman’s History of EC Comics, Zep, Der Serienkompass zu Corto Maltese und Walhalla 1.

Lakota, Mechanica Celaestium, Tunga 4, mosaik 532 und das interview mit Ralf König sind 11 – 15, Michel Vaillant 60, Asterix 38, das ZACK 250, der Ausblick von Georg Tempel auf Zack im Jahr 2021 und Allein 11 beschließen den Reigen der meistgelesenen 20.

Was bleibt?

Ich wünsche allen Leser*innen von comix-online Frohe Weihnachten und ein Glückliches neues Jahr, Vrolijk kerstfeest en een gelukkig nieuw jaar und vor allem Gesundheit für Euch und eure Lieben! Stay safe and healthy!

Musikalisch passt zu dieser Zeit des Jahres etwas Weihnachtliches: The Pogues and Kirsty MacColl mit Fairytale of New York! Dazu ein Kerstbock und die Reise durch die Empfehlungen kann losgehen.

© aller Abbildungen bei den jeweiligen Verlagen und Künstler*innen wie in den Linkzielen genannt.

Loukia – Verbrechen und Strafe

Verbrechen und Strafe

Autor: Bastien Loukia nach Fjodor Dostojewski

Zeichner: Bastien Loukia

Originaltitel: Crime et Châtiment

Knesebeck Verlag

Hardcover | 160 Seiten | Farbe | 25,00 €

ISBN: 978-3-95728-442-6

Ich muss gestehen, dass ich mir nicht ganz sicher war, ob ein russischer Klassiker als Comic funktionieren würde. Emotionale Dramatik, viele Personen und nicht zuletzt Handlungsmuster und gesellschaftliche Konstrukte, die seit langer Zeit veraltet sind. Würde die implizit als bekannt vorausgesetzte moralische Ebene noch grafisch umsetzbar sein? Würden sich die ausschweifenden Erklärungen abbilden lassen? Ähnlich äußert auch der Künstler selbst seine Vorbehalte.

Der Inhalt – russische Emotionen

Ich muss allerdings sagen, dass Bastien Loukia die Aufgabe hinbekommen hat! Verbrechen und Strafe umfasst in der deutschen Taschenbuchausgabe mehr als 750 engbedruckte Seiten und Fjodor Dostojewski formuliert entsprechend der russischen Literaturtradition der damaligen Zeit einerseits sehr genau, andererseits lässt er sich aber auch Zeit um alles detailliert zu beschreiben. Zudem ist die Frage der gesellschaftlichen Stellung eines Studenten mittlerweile eine ganz andere, viel weniger wichtige. Was es dagegen immer noch gibt ist, dass Frauen sich selbst zugunsten der Familie opfern wollen oder müssen und dass Süchtige im Spiel oder für den Suff alles vernichten: ihr Leben aber auch das ihrer Angehörigen.

Der Held dieses Stückes Rodion Raskolnikow ist ein in Armut lebender Student der Rechte. Er muss um überhaupt über die Runden zu kommen persönliche Erinnerungsgegenstände verpfänden und empfindet die Wucherzinsen der Pfandleiherin, ja, ihren Stand als so ungeheuerlich, dass er beschließt sie zu töten. Da er bei dieser Tat angetroffen wird, verübt er noch einen weiteren Mord.

Er wird vom Untersuchungsrichter Petrowitsch der Tat verdächtigt doch ein Unschuldiger gesteht zunächst die Tötungen. Raskolnikow gerät aber immer tiefer in die moralischen Verstrickungen, fürchtet sich vor Entdeckung und muss erkennen, dass seine Tat nicht etwa aus einer hohen moralischen Überlegenheit gegenüber der Wucherin, sondern aus persönlichen, niedrigen Beweggründen geschah.

Die Umsetzung – französische Finesse

Loukia schafft es nicht nur, die lange Geschichte in ihren wesentlichen Zügen auf rund 150 Comicseiten sehr verständlich wiederzugeben, sondern gleichzeitig noch einen tiefen Einblick in die ärmlichen Lebensverhältnisse in St. Petersburg zu geben. Gemeinschaftsunterkünfte, Prostitution zur Sicherung des Überlebens, Gewalt und schimmlige Wohnungen sind sehr eindrücklich gelungen und bleiben vermutlich noch längere Zeit im Gedächtnis präsent.

Mit Sicherheit hätte Dostojewski (zurecht) die Kategorisierung seines Romans als „Horror“ weit von sich gewiesen, die Darstellung des inneren Konfliktes Raskolnikows‘ und die Umsetzung seiner Alb- und Fieberträume kommt dem aber schon recht nahe. Und das ist dann auch die Brücke zur Neuzeit: Mögen sich die gesellschaftlichen Verhältnisse und Moralvorstellungen noch so sehr auf ihre Zeit beziehen, der innere Konflikt, der durch das Überschreiten der Grenzen ausgelöst wird, ist immer der gleiche!

Deutsche Schriftsteller haben immer gerne die gesellschaftliche Frage gestellt, ihre russischen Kollegen haben sich dagegen mehr auf die Moral und das Gewissen konzentriert. Bastien Loukia genügen kleine Veränderungen in der Darstellung des Gesichtes, der Körperhaltung, um diese psychologischen Tiefen deutlich zu machen. Beim Lesen sind tatsächlich die Details wichtig, die Stellung der Augenbrauen als Merkmal zum Beispiel. Wenn nötig wechselt Loukia auch vom strengen Reihenaufbau der Seiten in einen aufgelockerten, manchmal sogar in eine ganz freie Aufteilung.

Auch wenn er sich teilweise an Gemälden von Kasimir Malewitsch orientiert und die Bildsprache komplett wechselt, nie stehen die Zeichnungen um ihrer selbst willen dar, sondern dienen immer nur dem Fortgang der Erzählung.

Die Wertung

Verbrechen und Strafe ist sicherlich keine leichte Kost und erfordert mehr als ein Handtuch am belebten Strand. Es lädt sogar dazu ein, mehrfach gelesen werden zu wollen. Diese Herausforderung lohnt sich aber, denn Loukia bietet das brillante Ergebnis einer Auseinandersetzung, das Moderne und Original verbindet, das zeitlos Interessante präsentiert und die zeitgebundenen Stilelemente weglässt.

Insofern passt auch die Veröffentlichung durch von dem Knesebeck! Der Verlag hat in den letzten Jahren immer wieder Kleinode der Comickunst präsentiert, ohne dabei Trends hinterherzulaufen! Die Graphic Novel kommt im klassischen Albenformat daher, gebunden als Hardcover und auf stabilem, leicht glänzendem Papier. Der Preis von 25€ ist dabei vollkommen angemessen! Es bleibt zu hoffen, dass diese Ausgabe ein angemessen breites Publikum finden und nicht nur in Slawistik-Bibliotheken stehen wird. Verdient hätte sie es!

Dazu passen eine Kombination aus heißem schwarzem Tee und kaltem Wodka und die sehr spannenden Iva Nova!

© der Abbildungen 2020 von dem Knesebeck GmbH & Co Verlag KG, München / 2019 Éditions Phillipe Rey

Rochette – Der Wolf

Der Wolf

Story: Jean-Marc Rochette
Zeichnungen: 
Jean-Marc Rochette

Originaltitel: Le Loup

Knesebeck Verlag

Hardcover | 112 Seiten | Farbe | 22,00 € |

ISBN: 978-3-95728-378-8

Diese Graphic Novel könnte so vieles sein: eine Rachegeschichte, eine Erzählung über die Urgewalten der Natur, über das Entstehen von Respekt aber auch eine vom rauen Leben in den Bergen. Definitiv ist sie aber ein Beitrag zur aktuellen Debatte über die Neuansiedlung von Wölfen in Europa.

Die Story

Gaspard lebt als Schäfer ganz alleine mit seinem Hund in den Bergen. Von Zeit zu Zeit kommt die Post und einmal im Jahr treibt er seine Herde in das Tal wenn der Winter kommt und die Tiere für den Schlachthof verladen werden. Er ist sich selbst genug und lebt im Einklang mit der Natur. Er jagt und versorgt sich selbst und behütet seine Schafe.

Sein natürlicher Gegner ist – neben den Unbillen der Natur – der Wolf, denn dieser versorgt sich ebenfalls selbst und jagt, allerdings eben auch die Schafe, die Gaspards Lebensunterhalt dienen. Sie stehen aber auch unter dem Schutz der Ranger. Eines Tages erlegt Gaspard eine alte Wölfin, ihr kleiner Welpe überlebt zunächst unbemerkt. Im Laufe der kommenden Zeit bemerkt Gaspard ihn, will ihn aber noch nicht töten, da er aktuell keine Gefahr darstellt.

Gaspard hat durchaus Verständnis für seine „Mitbewohner“ der Bergregion; einem Adler überlässt er die Eingeweide eines gerade geschossenen Rehs und auch dem kleinen Welpen helfen diese Gaben groß und stark zu werden bis eines Tages wieder Tiere aus Gaspards Herde getötet werden. Es entwickelt sich ein dramatischer Kampf auf Leben und Tod in den tief verschneiten Bergen und als auch noch ein tagelang wütender Sturm aufzieht, müssen beide um ihr reines Überleben kämpfen. Es kommt zum „Show down“ als sich die beiden Antagonisten verletzt gegenüberstehen.

Die Zeichnungen

Jean-Marc Rochette hat nicht nur ein grandioses Szenario geschrieben, sondern auch überragend illustriert! Seine Berge und Landschaften lassen die Leser*innen die Schönheit der Natur fast riechen, allerdings auch die unpersönliche Gefahr. Ein Fehler und die Felsspalte hat dich verschluckt! In der echten Natur gibt es keine Bambi-Romantik, die dem Kitz hilft, wenn die Ricke nicht mehr da ist. Und genau diese atemberaubende Urgewalt ist in den Bildern zu spüren! Dazu passt dann auch, dass viele Seiten ohne Text auskommen!

Rochette hat Ehrfurcht vor der Natur, den Jägern und den Opfern aber gleichermaßen auch vor dem Mensch, der sie annimmt, um mit der Herde und dem Hund dort draußen zu leben. Er verzichtet auf ein moralisch wertendes Gut-Böse-Schema und er beschreibt, dass es in der Natur keinen Platz gibt für die menschengemachten Freund/Feind-Schemata, sondern nur für eine Schicksalsgemeinschaft, die keinen Herrscher kennt, kein Gewinnstreben und keine Profitmaximierung.

Das Nachwort von Baptiste Morizot weist darauf hin, dass es (auch in Frankreich) immer schwieriger wird, Nachfolger für die in den Ruhestand gehenden Schäfer zu finden, dass die wieder angesiedelten Wölfe weder verklärt werden dürfen noch verteufelt, und dass der spätindustrielle Mensch seine Mitte möglicherweise verloren hat. Alle diese Gedanken finden ihren Ursprung in der vorliegenden Graphic Novel!

Die Empfehlung

Der Wolf gehört für mich zum Besten, was bisher in diesem Jahr erschienen ist! Eine mehrschichtig zu lesende Story, erfreulich entschleunigt in dieser hektischen Zeit, grandiose Zeichnungen in einer sehr stimmigen Hardcoverausgabe! Erfreulich finde ich auch den Mut zu kritischen Fragen, die ohne vorgefertigte mit Sendungsbewusstsein verbreitete Antworten daher kommen und die Leser*innen zum Denken auffordern. Must have gerade in diesen Zeiten, in denen wir uns wieder auf uns besinnen müssen und nicht mehr dem lauten Verdrängen föhnen können.

Dazu passen ein Obstbrand und die Peer-Gynt-Suite von Edvard Grieg.

© der Abbildungen Casterman/ Jean-Marc Rochette 2019/Knesebeck-Verlag 2020

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