Nachdem der Splitter-Verlag schon Dracula in der Version von Guido Crepax veröffentlicht hatte, folgen nun weitere Werke der Weltliteratur. Der Italiener hat durchaus das eine oder andere sehr explizite Werk verfasst, Seine Interpretationen der Klassiker erscheinen zwar in dem Sublabel Splitternackt, sind aber definitiv nicht so gewagt, dass sie unter den Ladentisch gehören würden.
Ein Horror-Mix
Alle Romane/Erzählungen dieses Bandes drehen sich um die Frage, wer oder was der Mensch sein möchte oder sein sollte. Dieser psychologische Konflikt hat schon manchen in die Verzweiflung getrieben und ernährt eine ganze Berufssparte. Dr. Jekyll & Mr. Hyde ist die wohl bekannteste dieser Geschichten. Der reiche, gutaussehende Dr. Jekyll hält es nicht mehr aus, brav zu sein und den Erwartungen an ihn zu entsprechen und entwickelt eine Methode, sein „gutes“ von seinem „bösen“ Ich zu spalten.
Franz Kafkas Beitrag zur Weltliteratur ist eine Sammlung auch heute noch verstörender Geschichten. In Der Prozess wird der Protagonist verhaftet, niemand kann oder will ihm aber sagen, warum das geschehen ist. Im Laufe der Zeit verliert die Wahrheit resp. die Realität komplett an Bedeutung. Frankenstein ist dagegen zwar dem Namen nach bekannt, die meisten verwechseln aber das erschaffene Wesen mit seinem Schöpfer. Crepax bleibt sehr dicht an der Vorlage und beschreibt Angst, Hoffnungslosigkeit und Rache.
Die Drehung der Schraube ist eine Adaption eines Romanes von Henry James der wiederum Anleihen bei Hans-Christian Andersen getätigt hat. Sie ist modern als sie versucht, pädagogische Prinzipien zu diskutieren, und auch, indem sie sexuelle Übergriffigkeiten als solche thematisiert. Sie hilft damit den Objekten zu Subjekten zu werden.
Die Kunst der einzelnen Striche
Es handelt sich hier um Werke aus der letzten Phase des Zeichners. Die Möglichkeit in Magazinen vorveröffentlichen zu können war vorbei, für eine Albenveröffentlichung mussten die Stoffe gesellschaftsfähiger werden. Noch vor dem Hype der Graphic Novels waren Umsetzungen der Klassiker ein Weg, die Buchhandlungen zu erreichen.
Crepax bleibt allerdings seinem Stil treu: Frauen, die nicht wenigstens einmal im Laufe der Geschichte eine erotische Pose einnehmen, sind bei ihm nicht vorgesehen. Seine Zeichnungen verlassen oft das „Gerüst“ eines typischen Comics und verquicken einzelnen Bilder zu einem Gesamtbild, wechseln Leserichtung und Anordnung und fordern dadurch die Leser*innen heraus. Sein klarer Strich und das Auge für die Komposition machen das zu einem Genuss!
Mehr als Kunst
Man mag die Frage stellen, ob es opportun ist, Werke von alten weißen Männern neu aufzulegen. Diese Frage müsste aber an die gesamte Kunst gestellt werden, tradieren doch fast alle Werke das typischerweise von Rassismus, Sexismus und Gewalt geprägte Verständnis ihrer Zeit. Hier ist es nicht anders, allerdings stellt Crepax schon einige für seine Zeit moderne Fragen. Die Einordnung der einzelnen Werke wird jeweils durch einen mehrseitigen Artikel vorgenommen, der Werk, Hintergrund und Rezeption erläutert.
Das Werk ist mit fast 300 Seiten ein echter Klopper, liegt allerdings trotzdem noch gut in der Hand. Die Zeichnungen profitieren von dem großen Format und das leicht glänzende Papier lässt trotz des schwarz-weißen Inhalts keine Durchscheinungen erkennen. Angemessen!
Dazu passen The Association mit ihrem „Along Comes Mary“ und ein Manhattan!
Comic_Leser*innen in Deutschland dürften – außerhalb von Walt Disney Titeln – im Wesentlichen drei Zeichner aus Italien bekannt sein: Hugo Pratt, Milo Manara und Guido Crepax. Letzterer ist hauptsächlich durch seine erotischen Werke bekannt. Seine Federzeichnungen sind aber auch geeignet, ganz andere Sujets darzustellen.
Grusel vom Feinsten
Die Geschichte über den mächtigsten Fürsten aller Vampire, Graf Dracula (im Original Conte Dracula) wurde schon oft erzählt. Meistens stehen dabei der Vampir selbst oder seine Jäger im Vordergrund. Crepax stellt dagegen die Opfer in das Zentrum seiner Adaption. Da wäre zunächst ein Mann, der immer mehr in eine Geisteskrankheit abrutscht. Er scheint Befriedigung darin zu finden, zu sehen, wie sich immer größere Tiere von kleineren ernähren und entwickelt eine teils sehr aggressive Verhaltensweise.
Des Weiteren wären da die weiblichen Protagonistinnen. Sie sind gezwungen, zuhause zu bleiben, während ihre Männer in spe in der Weltgeschichte unterwegs sind. Eigentümlicherweise werden sie immer stiller, zurückhaltender, blutärmer. Gleichzeitig haben sie aber erotische Träume und wachen des Morgens wie ausgezehrt auf.
In einer Parallelhandlung wird erzählt, basierend auf dem Tagebuch des jungen Harker, wie Dracula selbst und seine Gespielinnen dem jungen Mann zugesetzt haben. Dem Vampir ist es schließlich gelungen, Transsylvanien zu verlassen und Nester in England zu gründen. Natürlich bleibt die große Frage, ob es gelingen kann, seinem Treiben Einhalt zu gebieten.
Meisterhafte dynamische Strichführung
Die Zeichnungen von Guido Crepax sind außergewöhnlich. Einerseits treibt er die Handlung voran mit Bildern, in denen die Striche wie dahingeworfen erscheinen und eine Hektik ausdrücken. Andererseits kann er aber auch verweilen und scheinbar das tiefste Detail ausloten wollen. Diese Momente sind den orgiastischen Szenen inne, aber auch den Charakterstudien der Hauptfiguren. Die Details kommen dabei aus Schraffuren und dem Spiel zwischen Hell und Dunkel! Das Layout ist dabei an keine Grenzen gebunden.
Diese Optik passt perfekt zur Schauerromantik, die dem Ganzen zu Grunde liegt. Der Vampir, der das Dunkle braucht, dessen Auswirkungen aber das Helle vernichten, ist eine perfekte Aufgabe für eine schwarz-weiße Umsetzung. Der feine Federstrich von Crepax erlaubt es dabei, sowohl Körper als auch Kleidung sehr genau wiederzugeben und doch der Fantasie noch Raum zu lassen.
Atemberaubend
Viele Comics mit dem Label erotisch oder sinnlich sind weder das eine noch das andere und zeigen nur viel nackte Haut. Crepax versteht es jedoch, die sinnliche Komponente der Geschichte von Bram Stoker aus einem anderen Blickwinkel zu zeigen und die Gefahr der Besessenheit bzw. der völligen Hingabe zu verbildlichen. Dabei verlässt er den Bereich des Guten Geschmacks nicht!
Wer Schauerromantik gerne liest, wird sich hier wohlfühlen. Auch Leser*innen von Young Adult Themen sollten einen Blick auf diesen Klassiker werfen. Das Werk von Crepax wird in Deutschland gerade wiederentdeckt, etwa beim avant-Verlag. Auch bei Splitter sind weitere Bände angekündigt. Hingewiesen sei auch noch auf die Einführung von Gianni Guadalupi!
Dazu passen Good Feelins mit ihrem „Shattered“ und ein Elephant Gin!
Meine Jahresbestenliste und ein paar Worte zum Geleit
Dann wollen wir mal … Schon wieder ist ein Jahr vergangen. Vieles ist gleichgeblieben, München ist zum Beispiel zum elften Mal hintereinander Deutscher Meister geworden. Vieles hat sich aber auch geändert: das politische Klima ist rauer geworden, Emanzipation und Bekämpfung der Klimakrise sind nur noch Worthülsen, während zum Beispiel ein Tempolimit in weite Ferne gerückt ist.
Im Comic-Bereich durften wir dagegen einiges erleben: angefangen mit Magazin-Neustarts etwa bei Zauberstern oder mit dem neuen Independent-Blättchen Graphica über das 50jährige Jubiläum des ZACK bis hin zur erstmaligen Veröffentlichung frankobelgischer Klassiker in Deutschland!
Auch für comix-online gab es einen neuen Rekord: Erstmals waren es mehr als 100.000 direkte Zugriffe auf einzelne Artikel, also ohne die Startseite! Vielen Dank für dieses Vertrauen! Die Charts mit den am häufigsten aufgerufenen Seiten der letzten 30 Tage bzw. der „All-Time-Favourites“ zeigen durchaus Bewegung und lassen eure Präferenzen deutlich werden. Trotzdem freue ich mich über Kommentare oder Feedback, gerade auch bezüglich Informationen, die euch fehlen.
Die besten Comics
Grundsätzlich sind sich die meisten Seiten in diesem Jahr einig: Der neue Asterix, Die weiße Iris, ist seit Jahrzehnten der beste „neue Asterix“. Dem kann ich mich durchaus anschließen. Der neue Szenarist Fabcaro hat es geschafft, ein altbekanntes Thema (Die Römer versuchen das gallische Dorf von innen heraus zu zerstören) völlig neu zu inszenieren und dabei eines der modernen Streitthemen, Wokeness, satirisch zu erfassen. Die Zeichnungen von Conrad stehen für sich!
Platz 2 geht für mich an den ersten Band der neuen Reihe Wikinger im Nebel. Lupano und Ohazar haben mit ihrem sehr witzigen und teils schwarzen Humor das Sujet umgekrempelt und neben den Schlachtengemälden und Hägars Familienstrip eine eigenständige Welt aufgemacht, die filosofische Fragen stellt (Plündern ja, Kirchen abfackeln nein?) und Rollenbilder neu definiert!
Platz 3 geht an einen Altmeister: Francois Bourgeon hat mit Die Zeit der Blutkirschen 2 vermutlich sein letztes Werk vorgelegt. Es schließt den letzten Zyklus der Saga Reisende im Wind ab und endet während der Revolution. Diese Serie gilt nicht zu Unrecht als Startpunkt für die historizierenden Comics.
Knapp danach ein weiterer Titel aus dem Splitter-Verlag: Carbon und Silizium von Mathieu Bablet ist die Geschichte zweier KI, die unterschiedlicher nicht sein könnten und doch beide verloren sind. Gerade im Zuge der Diskussionen um ChatGPT, Bard und Co ein wichtiger Ansatz, der auch grafisch überzeugt.
Auf Platz 5 folgt ein weiterer melancholischer Beitrag über künstliche Wesen: Rostige Herzen von dem Duo, dem fast alles gelingt, BeKa und Munuera, ist der Einstieg in eine neue Reihe, die böse Menschen und gute Roboter als Symbole für vieles, was bei uns nicht mehr stimmt, benutzt.
Die besten Graphic Novels
Was kein Comic ist und auch kein Strip, das muss wohl eine Graphic Novel sein … In diesem Sinne die Top 3!
Platz 1 geht mit einem Tusch an Ein unerwarteter Todesfall von Dominique Monféry. Toxische Männlichkeit im Hohen Norden zeigt brutale männliche Gewalt, die nicht immer nur unter Druck entsteht und eine trotz allem erfolgreiche Überlebensstrategie einer jungen Frau.
Ein deutscher Titel konnte sich an zweiter Stelle platzieren: Der Zeitraum von Lisa Frühbeis schildert die Ängste und Nöte einer zwangsläufig alleinerziehenden Frau. Zwar ist das Thema keinesfalls neu, die grafische Umsetzung ist jedoch vollkommen anders als gewohnt und vereinbart persönliche Betroffenheit und „Nicht-Kunst“ mit genialen Farbakzenten.
Knapp dahinter eine Biografie auf Platz 3: In Fritz Lang schildern Arnaud Delande und Èric Liberge die Lebensgeschichte des deutschen Regisseurs, seiner Auseinandersetzung mit dem aufkeimenden Faschismus und seine teils skandalösen Beziehungen.
Die besten Gesamtausgaben
Einer meiner Lieblinge unter den frankobelgischen Zeichner*innen war schon immer Pierre Seron. Umso mehr freut es mich, dass nun endlich auch seine poetischste Serie, Die Zentauren, erstmals komplett auf Deutsch erscheint! Es darf allerdings nicht verheimlicht werden, dass der Verfasser als Übersetzer des redaktionellen Teils beteiligt war.
Auch in diesem Jahr sind drei neue Bände der Marvel Comics Library bei Taschen erschienen. Die XXL-Bände haben rund 700 Seiten, sind mehrere Kilo schwer, und präsentieren im Coffee-Table-Format die bahnbrechenden ersten Ausgaben der Marvel-Klassiker, die etwas ganz Neues erschaffen hatten. Sorgfältige Reproduktionen erlauben einen 100%igen Genuss, der von sachkundigen Einführungen abgerundet wird! Ein stolzer, aber berechtigter Kaufpreis ist der einzige, kleine Wermutstropfen!
Der dritte Platz steht ein wenig stellvertretend für ein ganzes Albenprogramm: Georg F. W. Tempel, der Herausgeber von ZACK und ZACK-Edition, hat es sich zur Aufgabe gemacht, Perlen neu oder erstmals komplett auf Deutsch herauszugeben. Dazu zählen etwa Reihen wie Jari oder Alain Cardain. Preiswürdig ist aber die Reihe Bob Morane Classic, in der erstmals alle 19 Abenteuer von Dino Attanasio und Gerald Forton erscheinen werden!
Die besten Sekundärwerke
Es gibt kaum jemanden, der so gut lesbar so viele Informationen und Debattenbeiträge zwischen zwei Buchdeckel packen kann wie Dr. Alexander Braun. Dementsprechend führt er auch dieses Jahr wieder die Liste der besten Werke über Comics an: Staying West! ergänzt, was in seinem ersten Werk über Comics und den Wilden Westen außen vor bleiben musste, nimmt Stellung in der Debatte über Politische Korrektheit und grenzt Notwendiges von Übertriebenem ab und erzählt ganz nebenbei noch vieles über Italienische Westerncomics, Karl-May-Adaptionen und den Streit im Studio Vandersteen. Ein Muss!
Platz 2 gehört der Reddition, die Jahr für Jahr erscheint! Im Frühjahr hieß der Schwerpunkt Schweiz, das Winterheft war der neuen Generation der Spirou-Künstler gewidmet (Besprechung folgt!). Anregende Artikel, ausführliche Listen und meistens gute Einordnungen machen das Magazin ebenfalls zu einem Must-Have!
Platz drei geht an Burkhard Ihme und das ICOM Comic!-Jahrbuch. Ebenfalls Jahr um Jahr schafft es der Verein, nicht nur seine Preisträger*innen ausführlich darzustellen und zu Wort kommen zu lassen, sondern präsentiert Informationen, stößt Debatten an und macht Spaß!
Die besten Magazine
Vor mittlerweile über 50 Jahren ist die erste Ausgabe des ZACK erschienen. Die Namensgebende Zeit (Generation ZACK) endete dann aber doch und jahrelang war es düster; frankobelgische Magazine kamen und gingen. Seit 295 Ausgaben läuft aber das „neue ZACK“, das es mittlerweile auf mehr Ausgaben geschafft hat als das alte Koralle-ZACK. Jeden Monat ein bunter Querschnitt durch das frankobelgische Spektrum (und Angrenzendes) und erneuerte Klassiker wie Rick Master oder Michel Vaillant sind den ersten Platz in dieser Sparte wert!
Gleich dahinter kommen die Magazine des Zauberstern Verlages. Was mit dem Phantom begonnen hatte, hat mittlerweile durch Mikros, Flash Gordon, Van Helsing und Savage Dragon Verstärkung bekommen! Hut ab und weiterhin viel Erfolg!
Platz 3 ist dagegen ein Nachruf! Leider musste die Comixene mit der Nummer 146 ihr Erscheinen einstellen. Lesenswerte Informationen, streitbare Meinungen und tolle Illustrationen werden allerdings nicht ganz verschwinden, sondern sollen Alfonz ein wenig aufpeppen!
Und dann ist da noch …
… ein geglückter Relaunch! Das Universum um Spirou drohte unterzugehen. Jetzt allerdings ist die erste Folge eines Mehrteilers aus der Hauptserie erschienen (Der Tod von Spirou), die Spezial-Bände enthalten Variationen von unterschiedlichen Teams, dem Meister Franquin wird vielfältig gehuldigt, unter anderem mit einer Neuausgabe der Gesamtausgabe, und die Freunde von Spirou (Rezension folgt) bringen erneut die politische Dimension während des Zweiten Weltkrieges zurück! So kann man es machen!
Eure Lieblinge in 2023
Eure Charts, basierend auf den Abrufzahlen:
Platz 1 geht an Hägar und die Gesammelten Chroniken von 1973, gefolgt von dem ZACK-Spezial 7 und dem zweiten Bob Morane-Sonderband von Forton. Sehr knapp dahinter Mitton und Messalina 1/2.
Die weiteren Plätze: ZACK-Spezial 6 – Jari 1, Asterix – Die weiße Iris, Sammy & Jack Integral 3, Michel Vaillant Collector’s Edition 1, Michel Vaillant Legendes 1 (die NL-Ausggabe! Wenn man die deutsche Ausgabe dazu addiert, wäre das mit weitem Abstand die Höchstmarke!), Asterix – Im Reich der Mitte und Lakota von Serpieri.
Das erste ZACK (284) folgt auf Platz 12, der erste Sekundärtitel (Staying West!) auf Platz 32.
Was tun mit einer Serie, deren Plot auserzählt ist, die aber noch viel Potential hat? Man kann Lücken füllen, wie es etwa bei Blake & Mortimer passiert, sich einzelne Aspekte herauspicken, etwa bei den Kronieken van Amoras, oder man switcht um auf Jugendabenteuer, die vor der eigentlichen Geschichte spielen. Dem letzteren Muster folgt die neue Westernserie Die Jugend von Durango von Yves Swolfs, die seinem Italo-Western geprägten Anti-Helden eine Jugend gibt.
Tradition vs. „Moderne“
Ein bekanntes Vorurteil gegen „Western“ ist, dass sie konservativ bis reaktionär sein, ein überaltertes Männerbild transportierten und den Konflikt zwischen Einwanderer*innen und dort bereits Lebenden aus der Sicht der Sieger/Vernichter darstellen würden. Natürlich gibt es Werke, für die alle drei Kategorien bejaht werden können. Es gibt aber auch andere, die sich bemühen, Dinge anders zu machen.
Die Jugend von Durango gehört in die zweite Gruppe! Während es tatsächlich den Farmer gibt, der sich noch nicht von der Niederlage des Südens erholt hat und die alten Zeiten unter allen Umständen zurückhaben möchte, gibt es auch einen Farmer, der nicht nur bereit ist, seine Tochter zur Nachfolgerin zu machen, sondern auch nach gemeinsamen, nachhaltigen Lösungen sucht. Dazu gibt es dann auch noch eine Gruppe von Farmern indianischer Abstammung, die ebenfalls in eine traditionelle und eine zukunftsorientierte Seite zerfallen.
Demgegenüber steht die sich weiterentwickelnde, innovative Gesellschaft als Bedrohung des Status Quo. Rassismus wird in diesem Band teils sehr explizit dargestellt, zumindest was die Fraktion angeht, für die nur ein toter Indianer zählt. Demgegenüber stehen aber auch Überlegungen auf beiden Seiten wie eine „gemeinsame“ Zukunft aussehen könnte. Allein das Männerbild ist noch zu hinterfragen. Es gibt zwar eine handelnde Frau, der Mann mit dem Colt ist aber durchgängiges Prinzip.
Und: Yves Swolfs baut aus all diesen Ingredienzien ein sehr gut lesbares, spannendes Abenteuer mit viel Action und zeichnet die Anfänge des späteren Helden Durango sehr nachvollziehbar!
Tolle, realistische Westernlandschaften und glaubwürdig Handelnde
Die Zeichnungen von Roman Surzhenko sind dem Skript von Yves Swolfs absolut ebenbürtig! Natürlich ist die erste Nagelprobe für Werke aus diesem Genre die Darstellung der grandiosen, weiten Natur in einer der Handlung angemessenen Weise. Obwohl die Berge und die Steppe grandios sind, muss es glaubwürdig sein, dass die Farmerstochter genug davon hat. Das gelingt hier!
Die zweite Klippe ist eine für alle realistisch gezeichneten Serien: Personen müssen eine nachvollziehbare und wiedererkennbare Mimik aufweisen. Nicht nur Menschen sollten in glaubwürdigen Positionen gezeichnet werden, auch besonders Pferde sollten als solche erkennbar sein. Surzhenko erweist sich als verdienter Nachfolger von Swolfs, der sich bereits seit Jahren nur noch auf Szenarios konzentriert.
Schöne neue Western-Serie
Spin-offs lassen vermuten, dass das Original bereits so gut eingeführt ist, dass man vom Bekanntheitsgrad profitieren kann. Es bedeutet aber auch, dass zumindest der Szenarist davon ausgeht, dass die eingeführte Figur genügend Potential für eine weitere Serie hat. Ich traue Swolfs zu, dass er seinen Durango gut genug „kennt“, um dort noch einiges erzählen zu können. Coming-of-Thematiken sind en vogue, der tot gesagte Western hat sich neu erfunden und die Kombination aus beidem verspricht spannend zu werden.
Der erste Teil ist auf jeden Fall ein vielversprechender Anfang: Spannung, das Western-Feeling, neue Ansätze in Bezug auf die Rolle der Indianer*innen und der Frauenrollen und das schwierige Seelenleben eines angehenden Revolverhelden sind eine gute Mischung! Die Zeichnungen sind sehr gut und bringen die Atmosphäre nahezu perfekt rüber. Die Anteile der Gewalt- und Actionszenen sind bisher überschaubar und nicht unbedingt auf einem Italo-Western-Niveau. Der Band kann daher allen Fans der diversen Western-Spielarten empfohlen werden!
Dazu passen The Incredible String Band mit ihrem „Everything’s Fine Right Now“ und ein Kaffee, der zu lange auf dem Feuer gestanden hat!
Der Splitter Verlag wusste schon immer, dass man nicht nur auf ein Pferd setzen sollte. Neben europäischen Comics stehen solche aus Amerika, Science-Fiction ergänzt Western und Graphic Novels, Serien sind genauso vertreten wie Einzeltitel. Die neuste Ergänzung ist eine neue Kategorie, die auf den Namen Splitternackt hört. Wie der Name bereits vermuten lässt, werden hier erotische Titel vermarktet. Allen gemeinsam soll sein, dass sie die Grenzen nicht überschreiten.
Kurzgeschichten mit Twist
Ein Merkmal von schlechten Beispielen diesen Genres ist es, gar keine oder nur minimale Anstrengungen auf einen spannenden Plot zu verschwenden. Aber es langt eben nicht, ein paar Szenen zu zeigen. Oft ist weniger sogar mehr. Gabriele Di Caro entführt Leser*innen in Hinter dem Paradies in unterschiedliche Settings und erzählt Geschichten, die meistens eine unerwartete Wendung nehmen.
Manchmal haben die Begegnungen zwischen Mann und Frau einen tödlichen Ausgang, manchmal steht ein Moment des Glücks am Ende, manchmal Frustration. Tatsächlich thematisieren einige Geschichten auch Machtverhältnisse und die Ausnutzung von Gegebenheiten. Auch hier sind die Täter- und Opferrollen aber nicht durch das Geschlecht determiniert.
Unverhüllte Zeichnungen
Gefühlt zeigen 95 % aller Panel nackte Haut. Di Caro versteckt dabei auch keine Details, sondern zeichnet ziemlich explizite Details. Er versucht dabei sogar sein Verhältnis zu den Bildern selbst in einer Art Metageschichte zu thematisieren. Seine Bilder erlauben den Leser*innen zwar unverhüllte Blicke, degradieren die dargestellten Personen aber nicht zu bloßen Objekten.
Stilistisch wandert Di Caro zwischen einem Manara sehr ähnlichem Stil und leichter Noir-Note. Die Kompositionen erlauben Details und funktionieren daher auch ohne Farbe und Kolorierung.
Mit Sicherheit ein Erfolg
Ein anderer deutscher Verleger hat mir mal gesagt, dass jedes Programm auch ein paar Titel brauche, die definitiv Geld einspielen. Wenn ich die damals gegebene nähere Erläuterung extrapoliere, gehört Hinter dem Paradies in genau diese Kategorie. Er ist künstlerisch genug, um nicht sofort überall verteufelt zu werden, spannend genug, um besprochen zu werden, und mit genügend nackter Haut versehen, um gekauft zu werden.
Die älteren werden sich noch an die Reihe „Parodien“ erinnern. Dieser Band setzt zwar weniger auf Humor, ist aber verglichen mit der Entwicklung, die das Fernsehen in der Zwischenzeit genommen hat, ebenfalls eine moderne Weiterentwicklung.
Dazu passen Marilyn Monroe mit ihrem Diamonds und ein Glas trockener Sekt!
Die Reihe Splitter Double ist die kleine Schwester der Gesamtausgaben, bringt sie doch kurze Serien in einem Band. Mikaël ist wahrscheinlich den meisten Leser*innen von comix-online aus dem ZACK bekannt, liefen dort doch bereits seine Serien Giant und Bootblack. Wie diese auch spielt Harlem in New York City, dem Schmelztiegel, in dem Menschen unterschiedlicher Herkunft mit ihren eigenen Geschichten und Dämonen zu kämpfen haben.
Gangster sind verschieden!
Auf den ersten Blick mögen die Gangs, die die Großstädte mit ihren illegalen Geschäften sowohl am Laufen halten als auch drangsalieren, alle gleich sein. Was macht es für das Leben im Viertel schon aus, wenn eine andere übernimmt. Tatsächlich ist es aber nicht nur für die Mitglieder der unterlegenen Gruppe ein immenser Unterschied. Einige sind in ihrer Hood verwurzelt und sorgen dafür, dass der Bezirk nicht vor die Hunde geht. Andere wollen nur so viel Geld wie möglich aus der Bevölkerung herauspressen. Man muss allerdings aufpassen, dass nicht zu viel Romantik in eine solche Konstellation hineininterpretiert wird.
Mikaël erzählt die Geschichte von Queenie, einer schwarzen Schönheit, die angeblich aus Paris kommt. Sie führt in Harlem einen Großteil der illegalen Lotterien und ist – in ihrem Viertel – eine der großen Nummern. Sie kann es sich sogar leisten, weiße Polizisten lächerlich zu machen und zu ignorieren. Natürlich ist ihre Stellung nicht unangefochten, ist sie doch eine Hinzugezogene. Aufgrund ihrer Unterstützung für Viertelprojekte hat sie aber eine große Gefolgschaft.
Eine gute Geschichte braucht sowohl Veränderung als auch Herausforderungen: Zunächst wären da der weiße Dutch Schultz und andere Mobster, die sich das Lotteriegeschäft unter die Nägel reißen wollen. Zudem sinnen einige der gedemütigten Polizisten auf Revanche und warten nur auf eine Gelegenheit. Wenn dann auch noch Liebe ins Spiel kommt und Verwundbarkeiten aufzeigt, sind alle Ingredienzien für eine spannende Story vorhanden.
Reduzierte Farben
Wie gewohnt nutzt Mikaël eine reduzierte Farbpalette für seine Zeichnungen. Die meisten Seiten sind entweder in Erdtönen oder in Blautönen gehalten. Das Papier unterstützt die matten Farben, die für ihre Wirkung keine Glanzeffekte benötigen. Alles ist ein wenig melancholisch, dadurch aber auch sehr emotional.
Wie auch bei Giant (der hier übrigens einen sehr kurzen Gastauftritt hat) als auch bei Bootblack geht es nicht darum, die Schönheit herauszustellen. Die Menschen werden bei ihren alltäglichen Dingen gezeigt, die Reaktionen sind ehrlich und so sind auch die Zeichnungen. Die Hochglanzpolitur fehlt hier und so ist die Drogenszene genau so real wie Enttäuschung und Hingabe.
Einer meiner Lieblingskünstler
Auch diese Erzählung aus New York ist ein Glanzstück. Wieder gelingt es Mikaël, eine ganz andere Facette der riesigen Stadt zu zeigen: andere Wünsche, andere Probleme, andere Architektur. Und doch passen alle diese Puzzlestücke auf Dauer zusammen und zeichnen ein liebevolles Porträt der Stadt und ihrer Bewohner*innen!
Obwohl nicht ohne Gewalt und Action, stehen (gezeichnete) Pyrotechnik und „laute“ Actionszenen nicht auf der Liste der in Harlem gebotenen Versatzstücke. Jede einzelne Begebenheit hat ihre Berechtigung in einem dramaturgischen Ablauf, der viele Held*innen aber keine Sieger hat. Das Leben selbst läuft einfach weiter, die Stadt pulsiert und wer nicht mitmacht, bleibt zurück. In der amerikanischen Literatur gibt es eine Gattung, die die amerikanische Mittelklasse demontiert. Mikaël geht noch weiter, nimmt er sich doch alle Schichten zum Ziel.
Dazu passen The Inciters mit ihrem Neo-Northern Soul und trockener Sekt!
Leider ist männliche Gewalt häufiger als viele es wahrhaben wollen. Trotz allem wird das Thema nicht so oft als Grundlage einer Geschichte genommen. In Ein unerwarteter Todesfall ist es das beherrschende Thema, das in mehreren Variationen beleuchtet wird. Und doch kommt der Comic nicht mit einem erhobenen Zeigefinger daher, endet aber auch nicht wie etwa hier in Gegengewalt.
Gewalt hat viele Formen …
… und die Heldin dieser Geschichte, Edith Womble, befreit sich gleich auf der ersten Seite von ihrem Ehemann, der sie unterdrückt und misshandelt hat. Sie verlässt nicht nur ihn und die Stadt, in der sie gelebt haben, sie wechselt auch noch den Kontinent und immigriert in die USA. In Kalifornien baut sie sich ein Leben als Haushälterin auf und gewinnt ihre Lebensfreude zurück. Sie trifft auf Hans und geht eine neue Verbindung ein.
Als der große Goldrausch am Yukon beginnt, will auch Hans sein Glück versuchen. Edith lässt sich überreden, ihre Eigenständigkeit für eine Gemeinsamkeit aufzugeben, im Klartext, ihm zu folgen. Der Weg ist beschwerlich, neue Gefährten werden gefunden und der erste Sommer vergeht friedlich und in gewisser Weise auch erfolgreich.
Der nahende Winter aber verändert alles: Das freundliche Land wird zu einer feindlichen Umgebung, die Stimmung kippt und die Gewalt explodiert. Leider bringen extreme Herausforderungen nicht immer die guten Seiten eines Menschen zum Vorschein, oft genug sind es diejenigen, die man selbst in Alpträumen nicht sehen möchte. Doch damit beginnt erst eine lange Abfolge von Katastrophen.
Zeichnungen, die einen Sog entwickeln
Dominique Monféry hat nicht nur die Geschichte entwickelt und geschrieben, er setzt sie auch zeichnerisch um. Daher weiß er natürlich bei jedem einzelnen Panel genau, was er dort erwartet und wie es zu seiner gewünschten Stimmung passt. So drücken die Bilder Schwermut und Angst aus, gehen in sprühende Freude über, in eine von schwerer Arbeit geprägte Leichtigkeit, bevor dann alles explodiert und in Chaos, Angst und Furcht übergeht.
Hier werden sehr geschickt äußere Elemente wie Wölfe genutzt, um die Emotionen zu kanalisieren. Die unendliche Weite des Landes, der unwirtliche Schnee und die lange Dunkelheit der Wintertage sind fast körperlich spürbar! Der Stil ist einerseits sehr realistisch, wirkt aber gemalt und schafft dadurch eine gewisse Distanz. Die Farbgebung der Seiten lässt sich den Grundstimmungen zuordnen.
WOW
Geschichten, die dieses Thema behandeln, sind teilweise schwer zu lesen und noch schwerer zu verdauen. Ein unerwarteter Todesfall verpackt die Beschreibung in eine spannende Story und überlässt die Deutung (und Wertung) den Leser*innen. Oder anders ausgedrückt: Dieser Comic will niemanden belehren! Die spannende, nachvollziehbare Geschichte in ihrer brillanten Umsetzung steht für sich und kann somit auch in Konkurrenz zu anderen sozialkritischen Stoffen wie etwa von Jack London treten.
Das Hardcover im Überformat und das matte Papier bringen die Stimmungen der Zeichnungen sehr gut rüber und erlauben dem Auge bei Details zu verweilen. Für alle, die eine gute Story mit Tiefgang genauso zu schätzen wissen wie Bilder, die genau zum Inhalt passen und Emotionen wie Situationen umsetzen können. Dominique Monféry hat noch nicht so viel auf dem deutschen Markt veröffentlicht, den Namen sollte man sich aber unbedingt merken!
Dazu passen The Distillers etwa mit „The Hunger“ und ein Nojito!
Das Leben von Matoaka, der Häuptlingstochter der Powahatan, ist sehr gut dokumentiert und hat sich in das Allgemeingut eingeschlichen. Nicht zuletzt Disney hat einen großen Anteil daran. Sie wird üblicherweise aber aus einer weißen Perspektive erzählt, die unterschlägt, dass auch der „beste Weiße Mann“ noch ein rassistischer Eroberer ist, der selbstverständlich davon ausgeht, dass seine Sprache die der Kommunikation ist und die gewaltsame Landnahme in Ordnung geht. Es geht sogar so weit, dass der Spitzname des Mädchens (sie war 13 Jahre alt), Pocahontas, ihren wahren Namen verdrängt hat.
Wo die Liebe hinfällt, wird die Wahrheit getrübt!
Im Jahr 1607 landen englische Soldaten und potentielle Siedler an der Küste Virginias. Sie sind gekommen, um zu bleiben, Siedlungen zu errichten und ihre Vorstellung von Kultur zu verbreiten. Zu dieser Vorstellung gehören Machtverhältnisse (ein Offizier befiehlt und Befehlsverweigerung kann mit dem Tod bestraft werden), der Glaube an eine glückliche Zukunft nach dem Tod, und, vor allem, die Gier nach Gold und Reichtümern.
Das Land ist allerdings bereits bewohnt, denn die Angehörigen der First Nations leben dort seit Urzeiten im Einklang mit der Natur, wenn auch nicht immer im Frieden untereinander. Sie wissen, dass sie ihr Land, ihre Kultur und Eigenständigkeit, ja, selbst ihr Leben verlieren werden, wenn sie die Eindringlinge nicht zurück in das Meer treiben werden. Die Tochter des Häuptlings, Matoaka („Kleine Schneefeder“), ist aber neugierig auf die Anderen und verliebt sich schließlich in einen der Mitreisenden.
Mehrfach verhindert die Häuptlingstochter Aktionen gegen die Weißen, rettet ihnen allen während des Winters sogar das Leben, und doch wird sie von niemandem wirklich akzeptiert. Ihr Vater ist bestürzt und ihr Liebhaber nicht bereit, ebenfalls alles zu opfern. Schließlich wird man ihr alles nehmen und die Erinnerung auf die tragische Liebe verkürzen und somit die Unterdrückung nachträglich relativieren.
Wunderschöne Aquarelle mit bittersüßer Stimmung
Patrick Prugne ist nicht nur ein begnadeter Geschichtenerzähler. Mit seinen Aquarellen gibt er den Bewohner*innen der kanadisch-amerikanischen Grenzlande von früher ein Gesicht und schafft es vielleicht so, ein wenig die offizielle Geschichtsschreibung zu hinterfragen. Wie immer sind die Weißen Eindringlinge meistens in technischen Umgebungen zu sehen: Befestigungen, metallene Rüstungen, Schusswaffen. Die ursprünglichen Bewohner*innen sind daher eher mit natürlichen Umgebungen verknüpft: Wald, Wasser, Tiere.
Immer wieder taucht ein Seeadler auf, der ebenfalls den natürlichen Lauf der Dinge verkörpert und damit klarstellt, dass es nicht um Friede, Freude, Eierkuchen geht. Gewalt und Tod gehören zum Leben dazu, allerdings eben nicht um Gier oder Machtstreben zu befriedigen. Und vielleicht idealisieren die schönen Zeichnungen die Lebensweise der Einheimischen zu stark.
Mit Anhang
Wie mittlerweile üblich enthält auch dieser Band von Prugne wieder einen Anhang mit Vorzeichnungen, ganzseitigen Illustrationen und Studien. Daraus könnte man das eine oder andere Poster machen. Schließlich veröffentlicht Prugne ja auch bei einer Galerie und Werbung in eigener Sache ist völlig ok, vor allem, wenn wir als Leser*innen dadurch in den Genuss der Zeichnungen kommen.
Für alle Western-Fans ein Muss, wird hier doch ein etwas anderer Blickwinkel eingenommen. Wer historische Geschichten mag, wird hier ebenfalls sehr gut aufgenommen. Da die Geschichte in Rückblicken erzählt wird und das gegenseitige Unverständnis im Vordergrund steht, sei auch den Freund*innen einer gut erzählten Geschichte der Band an das Herz gelegt! Und schließlich: es sind wundervolle Zeichnungen, die in ihrer Gesamtheit eine lesenswerte, tragische Geschichte erzählen!
Im Hintergrund laufen Men they couldn’t hang mit „The green fields of France“ und dazu ein guter Kaffee!
Schon immer war die Seefahrt ein wesentliches Sujet der europäischen Comics. Hier tummelten sich Piraten, machtgeile Ausbilder von Kadetten zur See, wurden Karrieren erzählt oder aber einfach fremde Länder entdeckt oder bereist. Dazu kommen Seeschlachten und Biografien von Entdeckern und Forschern. Das Themengebiet ist also der Science-Fiction sehr ähnlich, spielt aber in einer anderen Umgebung und zu einer anderen Zeit.
Beklemmende Enge und unglaubliche Grausamkeit!
Auf See gibt es meistens nur ein Gesetz, und das ist der Kapitän. Zu Zeiten der Vereinigten Ostindischen Companie (VOC) stand darüber allerdings noch der Vertreter ebendieser niederländischen Handelsgesellschaft. Er hatte dafür zu sorgen, dass der zu erwartende Profit gesichert wurde. Alle Entscheidungen über Sicherheit, Maßnahmen an Bord, Proviantierung und Bestrafungen von Vergehen hatten sich der Profitmaxime unterzuordnen. Dementsprechend zählte das Leben eines möglicherweise sogar schanghaiten Matrosen nichts.
Die Geschichte der Jakarta beruht auf Tatsachenberichten Überlebender und ist somit eine Mischung aus Fiktion im erzählenden Teil und Realität bezüglich der äußeren Fakten. Das Schiff, damals noch Batavia genannt, lief 1629 mit 300 Personen an Bord in Richtung Sumatra aus. Neben dem schlimmsten Gesindel aus den Slums von Amsterdam transportierte es auch eine beträchtliche Anzahl von Wertgegenständen und Gold der Kompanie sowie einige Passagiere, unter ihnen Lucretia Hans, die auf dem Weg zu ihrem Ehemann ist.
An Bord ist auch der skrupellose Apotheker Jeronimus Cornelius, seines Zeichens nicht nur Ketzer, sondern auch verschlagen und willens, sich des Goldes zu bemächtigen. Dorison erzählt, wie sich an Bord ein gnadenloser Machtkampf entwickelt. Dieser beginnt mit kleinen Grausamkeiten, entwickelt sich aber zu einem Konflikt auf Leben und Tod. Dazu kommen die Herausforderungen der unberechenbaren See.
Realistische Zeichnungen, spannendes Layout
Dorison ist bereits ein sehr bekannter und vielseitiger Szenarist (etwa Aristophania, Thorgal oder Undertaker), der in vielen unterschiedlichen Bereichen gefeiert wird. Thimothée Montaigne ist dagegen hierzulande noch relativ unbekannt. Er liefert seine Zeichnungen in einem sehr realistischen Stil ab. Seine Matrosen lassen die rauen Umstände erkennen, die sie geformt haben, die Seekrankheit zeichnet Lucretia deutlich und auch die Gewalttaten werden nicht verbrämt.
Trotzdem ist alles nicht übertrieben. Die Details werden dann eben doch nicht gezeigt oder spiegeln sich eher in den Gesichtszügen de Zuschauer*innen. So ist die Geschichte weit davon entfernt, in das Splatter- oder Adultsegment abzugleiten. Gut gelingen auch die Ansichten des Schiffes, des umgebenden Meeres und der Landschaften.
Zu Recht auf der Liste der besten Titel des Quartals
Mittlerweile werden in Deutschland neben tausenden von anderen Rankings auch jedes Quartal die besten Comics pro Quartal gekürt und 1629 gehört zu den herausragenden Werken! Meines Erachtens ist diese Ehrung, die ich ehrlichgesagt nicht immer nachvollziehen kann, hier vollkommen zu Recht erfolgt. Die auf Tatsachen beruhende Geschichte ist spannend konstruiert. Die Ich-Erzählung wird immer wieder mit Einschüben aus anderen Perspektiven ergänzt und nimmt die Leser*innen vollumfänglich mit.
Die Zeichnungen sind qualitativ ohne Fehl und die Aufmachung im überformatigen Hardcover mit geprägtem Cover ist ebenfalls ein sehr wertiges Moment. Für echte Liebhaber*innen gibt es auch eine auf 666 Exemplare limitierte Vorzugsausgabe mit Variantcover, Bonusseiten und Druck für die Wand! Westernfans, Freund*innen historischer Dramen und natürlich alle Liebhaber*innen der Geschichten über die „christliche Seefahrt“ werden hier bedient und sollten einen Blick darauf werfen!
Was könnte der Profitgier, die Menschen verachtet, gegensätzlicher sein Sinead O´Connor (R.I.P.) etwa mit „This is a Rebel Song“ und ein Saft aus Früchten aus dem eigenen Garten?
Kaum ein zeitgenössischer Science-Fiction Autor hat aktuell mehr Lobpreisungen erhalten als Cixin Liu, mit Preisen überschüttet und in 18 Sprachen übersetzt. Was läge also näher, als sein Werk, das viele Geschichten beinhaltet, die in einem Band darstellbar sind, im Rahmen einer Konzeptserie in Comics zu überführen. Für diese Reihe adaptieren 26 herausragende Künstler*innen aus China und Europa 15 ausgewählte Kurzgeschichten, Beispiele dafür sind Die wandernde Erde und Der Dorflehrer. Das ermöglicht auch, kulturelle Unterschiede in der Rezeption aufzuzeigen.
Das Ende ist nah!
Immer wieder gibt es Menschen, die das Ende der Welt verkünden und dafür verschiedene Gründe anführen. Die häufigsten dürften religiöse oder umweltpolitische Motive haben. Der Verschlinger beleuchtet das Thema gleich zweimal! Im Vordergrund steht natürlich die außerirdische Bedrohung der Erde als Ganzes. Ein Informationsträger einer außerirdischen Intelligenz taucht auf und informiert die Bewohner*innen der Erde, dass Der Verschlinger im Anmarsch sei. Die Welt der Nachrichtenüberbringer sei bereits vernichtet, die Erde das nächste Ziel. Und tatsächlich kommt auch kurz danach der Botschafter eben jener Bedrohung und verkündet das Ganze offiziell.
Der Verschlinger ist die Bezeichnung für eine Zivilisation, die sich auf einem ringförmigen Raumschiff durch die Galaxis bewegt, geeignete Planeten umschließt und anschließend die Ressourcen komplett absaugt. Für die Erde wird dieser Prozess rund 100 Jahre andauern und danach wird sie für immer vernichtet sein. Dieser hypermoderne Kolonialisierungsprozess, der sogar einige Individuen der Erde versklaven (und damit „retten“) würde, ist natürlich ein Symbol für den Raubbau, den die „Erste“ Welt an der sogenannten „Dritten“ und den wir alle an der Natur verübt haben. Die Frage ist, ob die Welt sich erfolgreich wehren wird können.
Zusätzlich stellt Cixin Liu noch die Frage nach dem Überleben einiger Spezies. Es scheint so zu sein, dass die Erde schon einmal eine hochzivilisierte Spezies hervorgebracht hat, die nun verschwunden ist. Hier wird dann schon direkter Bezug auf die aktuellen Diskussionen genommen. Morvan, altbekannter Meister der Adaption und eigener Szenarios (bspw. Spirou und Fantasio), schafft es, aus diesen Ingredienzien eine sehr spannende Story zu basteln, die keine Längen aufweist und allen Teilsträngen den benötigten Raum lässt. Glücklicherweise ist in keiner Sekunde ein belehrender Ton zu spüren.
Moderne Technik, rasante Action!
Von einem Science-Fiction Comic erwarten die Meisten wohl eine glaubwürdige Darstellung der entsprechenden Alltagswelt und ihrer Technik. Yang Wie-Lin zeigt einerseits die Entwicklung der menschlichen Zivilisation über ein Jahrhundert der Bedrohung als auch die außerirdische Technik der Planetenfresser und die abweichende Physiognomie ihrer Repräsentant*innen. Auch wenn in Filmen über moderne Technik mittlerweile fast alles möglich ist, finde ich persönlich die grafische Darstellung immer noch besser, lässt sie doch mehr Freiraum für die eigene Vorstellungskraft und steht somit zwischen der völlig freien Literatur und der völlig gebundenen Kino/Streaming-Vorgabe.
Das Layout der Seiten variiert stark, wirkt aber nicht unruhig, sondern ist immer auf den jeweiligen Inhalt abgestimmt. Auch die Darstellung der Technik oder der Kampfszenen entwickeln sich nirgends zu einem Selbstzweck, die Bedürfnisse der Erzählung gestatten den benötigten Raum, der dann allerdings auch genutzt wird. Ein Hingucker ist sicherlich das Ausklappbild!
Gelungen!
Leser*innen von Cixin Liu‘s Stories können hier unbesorgt zugreifen: die Umsetzung lässt genügend Freiraum für eine eigene Interpretation, bietet aber doch eine sehr angemessene Idee! Wer intelligente Science-Fiction mag, die mehr als Klamauk und Laserstrahlen aufweist, ist hier ebenfalls richtig. Zudem geht es in den Geschichten des Ausnahmekünstlers auch immer um philosophische Fragen, die natürlich auch in Der Verschlinger nicht zu kurz kommen.
Trotzdem kann man die Geschichte auch lesen, ohne die weitergehenden Fragen zu stellen und sich einfach von der Handlung treiben lassen. Das macht vielleicht auch einen großen Teil des Erfolges aus! Die sehens- und lesenswerte Umsetzung wird durch das Splitter-Überformat unterstützt und die Präsentation als Hardcover tut ihr übriges. Hier kann man nur alles richtig machen.
Dazu passen etwa The Frozen Autumn mit „Is Everything Real“ und ein Negroni.