Ein Blick auf die deutsche Nachkriegsgesellschaft
Story: Jennifer Daniel
Zeichnungen: Jennifer Daniel
Originalausgabe
Carlsen Comics
Hardcover | 208 Seiten | Farbe | 25,00 €
ISBN: 978-3-551-78170-3
Ende der Siebziger Jahre in Deutschland. Während ein Teil der sogenannten 68-er sich mehr und mehr auf die Gefangenen-Frage fokussiert und Themen wie Sexismus, Machtstrukturen und den Alltag immer mehr aus den Augen verliert, feiert die konservativ-patriarchalische Gesellschaft fröhlich Rückeroberungserfolge in Vorbereitung der geistig-moralischen Wende. In diese Zeit, die später teilweise die „bleierne“ genannt werden wird, fällt die hier erzählte Geschichte.
Ein Rädchen wacht auf
Herr Martin ist der Protagonist dieser Erzählung. Er ist ein typischer Angestellter, der immer vorbildlich arbeitet, immer zu Sonderaufgaben bereit ist, der „Obrigkeit“ nichts abschlagen kann und ziemlich klare Vorstellungen davon hat, was „nicht“ sein sollte. Dazu zählen etwa die langen Haare seines Sohnes und seine Überlegungen, den Dienst mit der Waffe zu verweigern. Er folgt einem ganz klassischen Muster und funktioniert.
Irgendwann aber kommt für jede*n der Punkt, an dem eine Entscheidung gefragt ist. Schon sich selbst die Frage zu stellen, ob der Alltagstrott hier immer noch richtig ist, nur weil er von allen so hingenommen wird, ist der erste Schritt. Für Herrn Martin ist die ausschlaggebende Situation ein Autounfall, bei dem eine junge Frau und ihr dreijähriger Sohn getötet werden. Im Endeffekt wird es das Gutachten geben in dem versucht wird, das Geschehen zu verstehen.
Dazu bringt Jennifer Daniel noch weitere Handlungsstränge unter: Versuche der Antiimperialisten, die RAF zu unterstützen, Alkoholmissbrauch und seine Folgen im Straßenverkehr, den Krieg und die dadurch ausgelösten Traumata, und die Probleme alleinerziehender Mütter. Alle diese Themen werden sehr stimmig integriert und sorgen daher für eine aus heutiger Sicht sehr beklemmende Atmosphäre.
Auf das Wesentliche reduzierte Malerei
Die einzelnen Panels haben teilweise einen sehr hohen Weißraum-Anteil. Hintergründe verwendet Jennifer Daniel wirklich nur dann, wenn sie das Geschehnis voranbringen. Ihre Figuren sind nicht bis ins Feinste mit Wasserfarben ausgearbeitet, sondern auf die Kernpunkte konzentriert: markige Linien im Gesicht, Betonfrisuren und steife Klamotten. Besonders auffällig sind die oft aus langen Rechtecken bestehenden, wie aufgeklebt wirkenden Nasen.
Die Künstlerin verschwendet keine Zeit drauf, eine Szene „schön“ zu gestalten. Ihr kommt es darauf an, den Gesamteindruck zu erzeugen, der heutige Leser*innen daran erinnert, wie es früher war. Keine Diskussionen gegenüber Autoritäten als Standard aber auch die einfache Abgrenzung (etwa durch lange Haare oder den fehlenden Schlips) in einer Gesellschaft, die weder hier noch dort auf neue Ideen gesetzt hat.
Eine mutmachende Geschichte
Im Endeffekt ist Herr Martin ein Verwandter von so vielen Menschen, die irgendwann ihre Eigenschaft als Rädchen erkennen und mehr oder weniger erfolgreich auszubrechen versuchen. Und jede einzelne davon beweist, dass es geht! Wer etwa 1984 gut fand, sollte hier reinschauen.
Hinzu kommen der sehr spannende, krimiartige Aufbau der Graphic Novel und das durchgezogene stimmige Konzept: ein echtes Highlight des Frühjahrprogramms! Die im Hardcover präsentierte Geschichte beweist die auch in Deutschland zu findende hohe Qualität einzelner und verdient Aufmerksamkeit!
Dazu passen ein kleines Pils mit Korn und Dropkick Murphys mit „We Shall Overcome!“!
© der Abbildungen Carlsen Verlag GmbH Hamburg 2022