Die Blauen Boys sind eine der erfolgreichsten und bekanntesten Westernserien aus dem frankobelgischen Semi-Funny Comic-Segment. Einzig Lucky Luke spielt in einer komplett anderen Liga. 2016 erschien das 60. Album der beiden (Anti-)Helden Corporal Blutch und Sergeant Chesterfield. Da es schon seit geraumer Zeit im Spirou-Magazin üblich war, gut laufende Serien unter dem Signet „… par …“ wechselnden Teams anzuvertrauen, bot es sich an, die bis dahin im Magazin erschienenen Kurzgeschichten mit ein paar weiteren als eigenständigen Hommage-Band zu vermarkten. Nun endlich ist auch eine deutsche Übersetzung erschienen!
Kritik am Militarismus
Die allerersten Anfänge der Serie, noch gezeichnet von Salvérius, hatten eher ein Fort der Armee der Nordstaaten als Ausgangspunkt für Komik und Slapstick. Schon sehr bald wurden aber die Schlachtfelder des Sezessionskrieges der Blueprint für die Abenteuer und trotz der weiterhin vorhandenen großen Prise Humor begann die Kritik am bedingungslosen Abschlachten, an unfähigen Vorgesetzen und allgemein am Militarismus einen breiten Bereich einzunehmen.
Auch die dreizehn in diesem Band versammelten Kurzgeschichten, die jeweils einen persönlichen Blick der jeweiligen Szenarist*innen und Zeichner*innen darstellen, nehmen diese Grundtendenz auf. So steht natürlich auch hier das Thema der Fahnenflucht im Mittelpunkt einiger Geschichten. Neu ist aber, dass auch der Vorgesetzte seine Zweifel äußern darf. Eine sehr berührende Geschichte kommt von Aimée de Jongh, die das Thema der auf dem Schlachtfeld eingesetzten Kinder visualisiert.
Allen Geschichten gemein ist, dass, obwohl die Essenz der Serie immer getroffen wurde, sehr unterschiedliche Interpretationen entstanden sind. Der Band eröffnet daher einen, nein, viele neue Blicke auf ein Grund-Szenario, das schon viele Iterationen hinter sich hat. Gleichzeitig erfordern die Stories aber kein „Expert*innen-Wissen“. Jede*r kann sofort einsteigen und findet im Blaue-Boys-Setting viele Western-Narrative wieder.
Sehr unterschiedliche Zeichenstile
Wie auch schon die Story-lines sind die Zeichnungen nicht als Kopie des Originals angelegt. Im Gegenteil, die Zeichner*innen sollten ihren eigenen Stil einbringen und so ist ein bunter Strauß dabei herausgekommen. Einiges ist sehr realistisch, anderes ist bunt, frech und karikaturesk. Mit anderen Worten: Alle im Spirou der letzten 10 Jahre vorkommenden Stile finden sich auch in diesem Sammelband wieder.
Daher ist vollkommen klar, dass jede*r bestimmte Seiten nicht so gerne mag. Darauf kommt es aber nicht an, denn das Ziel ist, die Essenz in der fremden Darstellung wiederzufinden und Wert zu schätzen! Wer sich darauf einlassen kann, wird hier viel Spaß haben.
Die Weitung de Perspektive
Für mich ist es wichtig, immer wieder die Möglichkeit zu haben, etwas Neues zu entdecken. Manchmal muss man leider feststellen, dass sich eine Sache totgelaufen hat. Für mich trifft das weder auf die Hauptserie zu, noch auf diesen Jubiläumsband. Es stecken so viele Möglichkeiten darin und sehr viele davon werden hier präsentiert!
Die Ausgabe als Hardcover ist gediegen, das Layout der jeweiligen Einführungsseiten sehr ansprechend und der haptische Eindruck hervorragend. Wer sich einen ersten Eindruck verschaffen möchte, braucht nur die hintere Umschlagseite zu nehmen und sich die dreizehn verschiedenen Profile anzusehen. Viel Spaß damit!
Dazu passen Jack White mit “Seven Nations Army” und ein starker Kaffee.
Viele Serien schaffen es über die Jahre, die Figuren episodisch weiterzuentwickeln und teilweise sogar, ihre Held*innen reifen zu lassen. Wieder andere existieren seit mehreren Jahrzehnten mit unterschiedlichen verantwortlichen Kreativen, haben aber doch immer noch die gleichaltrigen Protagonist*innen wie ganz am Anfang. Allein ist da eine Ausnahme: Obwohl mit Band 14 bereits der vierte Zyklus startet, wird doch eine fortlaufende Geschichte erzählt!
Krieg in der Zwischenwelt
Dankenswerter Weise startet der Band mit einer kurzen Übersicht über die vorausgegangenen Zyklen und die Hauptpersonen. Für das volle Verständnis sollte man alle Bände genossen haben, die Zusammenfassung reicht aber aus, um hier einzusteigen. Die fünf Gefährt*innen sind wieder zusammen, sie wollen herausfinden, was mit ihnen passiert ist. Als sie erfahren, dass gerade weitere verstorbene Kinder in der Zwischenwelt angekommen sind, machen sie sich zu dem entsprechenden Ort auf. Sie hoffen, dass die Kinder wie üblich ihre Umgebung „mitgebracht“ haben und so in Zeitungen etwas über ihr Verschwinden stehen könnte.
Kaum auf dem Weg müssen sie jedoch feststellen, dass Saul, der wahrscheinliche Auserwählte der „Guten“ ihnen Krieger und ein Exemplar der Beschützer auf den Hals gehetzt hat. Während sich Dodji und seine Freund*innen darum bemühen, einen Frieden zu erreichen, wird Saul von einem Vernichtungswillen getrieben.
Fabien Vehlmann hat mit dieser Mystery-Serie eine der besten aktuellen Comic-Reihen überhaupt geschrieben. Sie vereint Spannung, unerwartete Wendungen, versteckte Hinweise auf spätere Bände und wissenschaftliche Theorien über Zeit und Dimensionen mit einem ungewöhnlichen Setting da nur Kinder als Agierende auftreten. Obwohl die Serie alles andere als gewaltfrei ist, werden doch bestimmte Folgen dadurch abgemildert, dass die in der Zwischenwelt getöteten (und eigentlich bereits toten) Kinder meistens wiederkommen.
Fröhliche Zeichnungen
Bruno Gazzotti ist einer der Vertreter*innen der neuen Marcinelle-Schule. Sie haben einerseits das runde, fröhliche des in Spirou beheimateten Zeichenstils übernommen, integrieren aber durchaus Gewalt, Krieg oder andere Schlechtigkeiten. Dadurch wird der Kontrast zwischen den agierenden Kindern und den Aktionen noch einmal verstärkt. Niemand erwartet, dass ein Kind verunstaltet ist. Noch viel weniger allerdings mit einem Schnellfeuergewehr in der Hand …
Wie auch bei Soda gibt es an den Zeichnungen nichts auszusetzen: Körperhaltungen und -proportionen stimmen, weibliche und männliche Rollen sind gleichwertig und vernünftig gekleidet. Emotionen sind teilweise etwas überzeichnet, das gehört allerdings zum Semi-Funny immanent dazu. Die Seitenkomposition basiert zwar auf Streifen. Diese sind allerdings sehr flexibel und lassen keine Langweiligkeit aufkommen.
Wieder etwas mehr als nur der Comic
Ich hatte bereits die einführenden Seiten mit dem Rückblick erwähnt! Auch nach hinten heraus bietet der Band noch etwas mehr, nämlich eine Art Beziehungsbaum der 15 Familien, inklusiv der bisher noch unbekannten Formen. Es bleiben noch genügend Felder offen die Stoff für weitere Bände geben. Zudem gibt es noch eine Erklärung über die Zwischenwelt, die das bisher bekannte zusammenfasst.
Während die Bände bei unseren nordwestlichen Nachbar*innen als Softcover erscheinen, haben wir das Vergnügen, diese Topserie in gebundenerer Form in das Regal stellen zu können. Die reduzierten Cover sind schon ein Vergnügen, die Serie lädt zum mehrmaligen Lesen ein!
Dazu passen boygenius mit “Emily I’m sorry” und ein Energydrink.
David Solomon, genannt Soda, ist ein Cop im New York der 80-er Jahre. Die Stadt pulsiert und ist ein Hort des Verbrechens. Soda ist ein Cop, der sich nicht unbedingt immer an alle Vorschriften hält. Er versucht, alles zu geben, und kassiert durchaus die eine oder andere Niederlage. Sein Privatleben ist dagegen vollkommen untypisch. Er teilt sich eine Wohnung mit seiner alleinstehenden Mutter, die rührend um ihn besorgt ist und keine Aufregung verträgt. Er lässt sie daher im Glauben, dass er ein Priester sei, und betritt und verlässt die Wohnung nur in entsprechender Amtskleidung. Die reguläre Serie hat im Deutschen einen blauen Titelschriftzug.
Morde, Alpträume und Gedächtnislücken
Der Band beginnt mit einem Horror-Szenario als Soda seine arme, schlafende Mutter erdrosselt. Sehr schnell stellt sich diese Aktion als Alptraum heraus, doch der Tag entwickelt sich auch weiterhin nicht zu einem Guten. Das gemeinsame Frühstück zeigt einen unausgeschlafenen, gereizten Priester, der sein Kreuz verloren hat. Der Aufzug transportiert eine weitere Person und kann daher von Soda nicht als Umzugskabine genutzt werden.
Als wäre das nicht genug, identifiziert das neueste Opfer einer Mordserie, eine Prostituierte, die wie ihre Vorgängerinnen ein an die Stirn getackertes Kalenderblatt hat, Soda als den Täter. Dieser leidet nicht nur an Schlaflosigkeit, sondern hat auch seit einiger Zeit mit Gedächtnislücken zu kämpfen und kann sich leider selbst nicht erklären, ob die Vorwürfe korrekt oder erfunden sind. Auf jeden Fall sucht jetzt die ganze Stadt den blutrünstigen Priester, der aussieht wie unser Held.
Bocquet entwickelt auf den folgenden Seiten eine wahre Horrorstory aus falschen und echten Verdächtigungen, Anscheinsbeweisen und Hetzjagden. Freundschaften werden in Frage gestellt, Fakten tauchen auf und Taten aus der Vergangenheit bekommen eine neue Bewertung. Viel spannender kann man nicht mit allen Klischees spielen!
Routiniert und doch ganz anders
Bruno Gazzotti hat die Figur des Soda schon in einigen Alben (auf Deutsch teilweise im ZACK und bei Salleck Publications) gezeichnet. Auch dieses Mal passt der Gegensatz des ruhigen Priesters und des energiegeladenen Cops, der seine andere Seite jeweils verstecken muss, wieder gut. Gazzotti schafft es auch, die Stadt New York selbst als Akteur auf das Papier zu bannen. Die dunklen Seiten, die Wimmelbilder, die Architektur schaffen einen nicht ganz heimlichen Star der Serie!
Neu an diesem Band ist die Frustration des Helden, der an sich selbst und seiner Umwelt verzweifelt, unrasiert eine Tasse Kaffee trinkt und das buchstäbliche Häuflein Elend darstellt. Der Seitenaufbau ist sehr variabel, eine vierstreifiges Grundmuster kaum noch erkennbar. Gazzotti ist einer der Stars aus dem Spirou-Stall, seine andere Serie Allein ein weiteres Meisterwerk, das auf Deutsch ebenfalls bei Piredda erscheint.
Comic plus Skizzen
Mirko Piredda hat es sich angewöhnt, den in seinem Verlag erscheinenden Comicperlen, wenn möglich, noch ein paar Extras zu spendieren. So enthält der blutrünstige Priester einen achtseitigen Skizzenteil mit Vor- und Reinzeichnungen einiger Seiten. Ich persönlich finde es immer sehr schön, wenn ich in die Lage versetzt werde, den Schaffensprozess nachvollziehen zu können. Allein dafür schon ein großes Sonderlob!
Für Schnellentschlossene gab es auch eine limitierte Vorzugsausgabe mit Variantcover, die bereits verlagsvergriffen ist. Beide Ausgaben erscheinen aber als Hardcover. Für diejenigen Leser*innen, die erst jetzt auf Soda aufmerksam geworden sind, sei gesagt, dass die Bände der regulären Serie noch erhältlich sind.
Dazu passen The Libertines mit “Run Run Run” und ein Feierabendbier.
Meine Jahresbestenliste und ein paar Worte zum Geleit
Es ist wieder so weit, das Jahr nähert sich dem Ende. Niemand hätte sich träumen lassen, dass die „Katastrophe“ Corona/COVID von viel Schlimmeren abgelöst werden würde. In diesem Sinne wünsche ich allen Leser*innen von comix-online Frohe Festtage und einen guten Start in ein hoffentlich gutes Neues Jahr.
Wie immer folgt eine rein persönliche Übersicht über meine Favoriten in den schon bekannten Kategorien. Dazu ein paar Worte über einige Künstler, die uns in diesem Jahr verlassen haben. Ihr könnt gerne die Kommentarmöglichkeit am Ende des Artikels nutzen, um entweder eure Favoriten mitzuteilen oder aber eure Gedanken zu meiner Auswahl zu posten.
Für comix-online war das Jahr sehr erfolgreich. Mehr als 83.000 gezielte Aufrufe einzelner Seiten (also ohne die Startseite) sind ein neuer Rekord. Die Charts mit den am häufigsten aufgerufenen Seiten der letzten 30 Tage bzw. der „All-Time-Favourites“ zeigen durchaus Bewegung und lassen eure Präferenzen deutlich werden. Trotzdem freue ich mich über Kommentare oder Feedback, gerade auch bezüglich Informationen, die euch fehlen.
Die besten Comics
Die Königskategorie ist in gewisser Weise schwierig: Eigentlich erwartet wahrscheinlich jede*r hier, das Marsupilami-Abenteuer von Flix zu sehen. Mit Sicherheit ein toller Titel, ein Verkaufserfolg und eine Anerkennung des deutschen Zeichners und Szenaristen durch die belgischen Markeneigner. Aber ich möchte hier trotzdem das Spotlight auf fünf andere Titel werfen:
Platz 1 geht an eine Künstlerin aus Deutschland: Jennifer Daniel mit Das Gutachten! Die Autorin wirft einen Blick auf die deutsche Geschichte der 70-er Jahre. Während die einen es die bleierne Zeit nennen, war es für andere die Zeit des Erwachens. Mit sehr persönlichem Blick seziert Jennifer Daniel das Gebilde, in dem der Held funktionieren soll, und das doch immer mehr Risse bekommt!
Knapp dahinter ein ebenfalls politischer Titel: Rorschach 4. 35 Jahre nach den Watchmen verkleidet sich jemand als Rorschach und verübt zusammen mit einer als Cowgirl verkleideten Begleiterin ein Attentat auf den Präsidentschaftskandidaten der Republikanischen Partei. Das FBI versucht, diesen Anschlag aufzudecken und Autor Tom King führt uns immer tiefer in eine Mischung aus Wahrheit und Fiktion, die kaum noch auseinander zu halten sind. Jorge Fornés setzt das in tolle Bilder um.
Adventureman ist eine sehr spannende Mischung aus Pulp und moderner Geschichte. So würde die Gattung wohl aussehen, wenn sie heutzutage entwickelt werden würde. Hohes Tempo, viel Action, eine große Prise Humor und ein Stückchen Irrwitz. Matt Fractions Story treibt Terry Dodson zu rasantem Tempo und macht sehr viel Spaß.
Platz 4 geht an einen wiederentdeckten Klassiker, Alain Cardain von Yvan Delporte und Gérald Forton. In der Reihe ZACK-Spezial, wofür dieser Band auch ein wenig stellvertretend steht, werden frankobelgische Klassiker, die es aus unterschiedlichen Gründen nicht nach Deutschland geschafft haben, ansprechend präsentiert. Hier geht es um die Anfänger der Eroberung des Weltalls. Die Ausgaben sind limitiert und nur für ZACK-Abonennt*innen erhältlich.
Platz 5 ist ein Doppelband: Die Fälle von Lord Harold dem Zwölften spielt im London während des Übergangs zur Moderne. Der junge Lord begeistert sich für die wissenschaftlichen Aspekte der Kriminologie und möchte sein Wissen anwenden. Dem Adel war damals eine Beschäftigung allerdings komplett fremd. Im Mittelpunkt steht der Stadtteil Blackwater, der modernisiert werden soll, gleichzeitig aber die Heimat auch der Kleinkriminellen ist. Sehr witzig, spannend und doch mit ernsthaftem Hintergrund erzählt von Philippe Charlot mit Bildern von Xavier Fourqemin.
Die besten Graphic Novels
Es ist immer ein wenig schwierig, Graphic Novels und „reguläre“ Comics voneinander abzugrenzen. Ich versuche mich gar nicht erst an einer Definition, habe aber klare Vorstellungen.
Platz 1 geht an die Literaturadaption Nur noch Stille aus dem All-Verlag. Fabrice Colin hat die Geschichte von R. J. Ellory für das Comicformat umgearbeitet, Richard Guérineau kongenial umgesetzt. Eine trügerische Kleinstadtidylle wird durch den brutalen Mord an kleinen Mädchen empfindlich gestört. Es gibt falsche Verdächtigungen, Alpträume und eine 60-Jahre lange Verfolgung!
Der folgende Platz geht an das Biopic Anaïs Nin von Léonie Bischoff. Die berühmt-berüchtigte Schriftstellerin wird in all ihren Widersprüchen porträtiert. Bischoff konzentriert sich dabei auf die Seele von Nin und ihre frühkindlich geprägte Verlassensangst, die später zu dem unstillbaren Bedürfnis nach körperlicher Zuneigung geführt hat. Leichte Zeichnungen mit Buntstiften schaffen ein Klima der Annäherung ohne Vorurteile.
Platz drei wird von wieder einer anderen Spielart eingenommen. bestemming: canada erzählt 10 Geschichten über Menschen, die aus den Niederlanden nach Kanada ausgewandert sind. Da die Berichte von zehn sehr unterschiedlichen Zeichner*innen umgesetzt werden, kommt dabei nicht nur eine interessante Sammlung von Schicksalen zum Ausdruck, der Band bietet auch noch einen guten überblick über die aktuelle niederländische Szene.
Die besten Gesamtausgaben
Gesamtausgaben von Klassikern waren schon immer im Programm auch von Verlagen, die ansonsten kein großes Comic-Segment hatten. So auch bei meinem diesjährigen Favoriten, der Marvel Comics Library aus dem Taschen-Verlag! In bisher drei Bänden im XXL-Format, jeweils mehrere Kilo schwer, mit Lesebändchen versehen, in einem speziellen Karton ausgeliefert und auf weltweit 5000 Exemplare limitiert, wurden die jeweils ersten 20 Ausgaben der bahnbrechenden Serien Spider-Man, Avengers und Fantastic Four publiziert. Neben kompetenten, persönlichen Einleitungen von Experten sind die Hefte in fantastischer Reproduktionsqualität abgedruckt, inklusive Werbung, Cover und Leserbriefseiten. Eine Vielzahl an Abbildungen und editorischen Notizen runden die Werke ab, die zurecht mit dem Will Eisner-Award ausgezeichnet worden sind. Coffetable books at their best!
Platz zwei wird gehalten von der Gesamtausgabe einer klassischen Westernserie, die in der Vergangenheit eine sehr wechselhafte Veröffentlichungsgeschichte in Deutschland erlebt hatte und trotzdem nie komplettiert worden war: Chinaman von Serge Le Tendre und Olivier TaDuc. Im Mittelpunkt steht der aus China ausgewanderte Chen Long Ann. Der ursprüngliche Triaden-Killer wendet sich gegen seinen Herren und kämpft fortan gegen Rassismus und Unterdrückung jeder Form. Man kann immer darüber streiten, ob Gesamtausgaben Geldschneiderei sind oder nicht. Solange sie Käufer*innen finden, sind sie für mich legitim. In diesem Falle jedoch wird es Zeit, dass das Highlight des Western-Genres jetzt endlich angemessen auf Deutsch vorliegt.
Auch Platz 3 wird von der Neuausgabe einer Western-Serie erobert: Die Blauen Boys haben in Deutschland nie die Wertschätzung wie bei unseren westlichen Nachbar*innen erfahren. Dabei stellen sie mit ihrer Mischung aus Komik und ernsthafter, faktenbasierter Kritik an Kriegen und Armee eine sehr seltene Mischung dar. Band 1 der Integral-Reihe ist schon vor geraumer Zeit erschienen, die Fortsetzung lag lange auf Eis. In diesem Jahr nun erfolgte mit den Bänden 2 und 3 der Re-Start! Die ersten Bände waren in Deutschland nur in heute fragwürdigen Übersetzungen erschienen.
Ein Novum in der Geschichte: Ein Szenarist nimmt gleich zwei Plätze hintereinander in der Rangliste ein. Cauvin ist nicht nur für die Blauen Boys verantwortlich, sondern auch für die Geschichten mit den Gorillas aus dem Chicago der Prohibitionszeit: Sammy & Jack. Die auf 10 Bände angelegte Reihe kommt mit ausführlichen redaktionellen Beiträgen und setzt auf Humor. Die Zeichnungen stammen von Berck. Auch diese Serie hat eine bewegte Publikationshistorie in Deutschland.
Platz 5 ist eine „echte“ Gesamtausgabe: Miss October von Stephen Desberg und Alain Queireix erzählt einen Krimi über eine junge Frau, die ein Trauma aufzuarbeiten hat und nebenbei als Diebin arbeitet, einen Bullen, der sich in die falschen Leute verliebt, und einen Serienkiller. Alle vier Bände sind jetzt in einem Integral wieder aufgelegt worden.
Die besten Sekundärwerke
Das beste Sekundärwerk in diesem Jahr hat bisher auf dieser Seite keine Rezension erhalten. Trotzdem hat der Ausstellungskatalog Horror im Comic von Alexander Braun jede*n Leser*in verdient! In verständlicher Sprache, trotzdem aber voller Details wird die Geschichte dieser Spielart hergeleitet, psychologisch erklärt und über die verschiedenen Varianten und Epochen sehr anschaulich präsentiert. Die dazugehörige Ausstellung im Dortmunder schauraum: comic und cartoon war für sechs Monate zu sehen und ist mittlerweile beendet. Der Katalog ist aber regulär beim avant-Verlag erhältlich.
Die deutsche Independent-Szene steht im Fokus des ICOM. Dabei geht es sowohl um Marketing nach außen als auch um Unterstützung für die Mitglieder nach Innen. Ein Schwerpunkt der jährlichen Comic!-Jahrbücher ist die Vorstellung der ICOM Preisträger*innen. Der inhaltliche Aspekt stand in diesem Jahr unter dem Motto Comics und Umwelt. Ein verdienter zweiter Preis!
Der dritte Platz geht eindeutig an das Team der Reddition. In 2022 ist leider nur ein Dossier erschienen, das dem Szenaristen André-Paul Duchâteau gewidmet war. Die Dezember-Ausgabe 2021 war eine Doppelnummer gewesen, insofern ist der Regelmäßigkeit des Erscheinens Genüge getan. Wer auch immer zu einem Thema der Comicwelt Informationen sucht, ist gut beraten zunächst im Archiv der Reddition-Ausgaben zu suchen. Für Abonnent*innen gibt es jeweils eine limitierte Extrabeilage.
Die besten Magazine
Auf Platz 1 in diesem Jahr das ZACK! Jeden Monat liefert Georg F. W. Tempel einen guten Querschnitt aus aktuellen Comics, Gags und Informationen ab, der nicht nur die „Generation ZACK“ bedient, sondern auch über den Tellerrand schaut und Comics nach Deutschland bringt, die hier (meistens) nicht als Alben erscheinen. Hervorzuheben ist dabei, dass angefangene Serien auch beendet werden, selbst wenn sie über Jahre laufen. Dabei stehen neben den runderneuerten Klassikern wie Michel Vaillant oder Rick Master auch spannende Projekte wie Amoras oder MADI im Fokus. Serien aus Deutschland haben dort ebenfalls ihren Platz, aber nicht um eine Quote zu erfüllen, sondern weil sie wie etwa die Frau mit dem Silberstern einfach gut sind! 50 Jahre ist es nun her, dass die erste Ausgabe erschienen ist und das Jubiläumsjahr hat unter anderem eine Erweiterung des Umfanges auf nun 92 Seiten gebracht. Weiter so!
Kann eine Zeitschrift, die nur alle drei Jahre erscheint und außerdem noch in der aktuellen Nummer keine einzige Comic-Seite enthält, den zweiten Platz im Ranking von Comic-Magazinen einnehmen? Ja! CAMP erscheint zwar nur selten und hat ein deutlich breiteres Spektrum, ist aber definitiv sehr unterhaltsam, anregend und die eigenen Lesegewohnheiten herausfordernd. Da es zudem viele Artikel enthält, die dem Comic-Segment zuzuordnen sind, stehe ich zu dieser Auswahl. Da wären etwa die Adaptionen der Nestor-Burma-Romane oder Nosferatu im Comic, aber auch Überlegungen zur Cancel-Kultur, zu Isaac Asimov oder dem Sammeln von Spielzeugrobotern. Rezension folgt!
Platz 3 geht an den Relaunch des Wandelnden Geist: Das Phantom ist zurück auf dem Kiosk-Markt! Alle zwei Monate werden Geschichten aus den unterschiedlichen internationalen Veröffentlichungen präsentiert. Dabei kommen sowohl „alte“ Sonntagsseiten von Lee Falk zum Abdruck wie auch aktuelle Stories aus Schweden oder den USA! Die Hefte haben in der Mitte jeweils ein Poster zum herausnehmen. Zauberstern Comics haben damit allen Phans einen Wunsch erfüllt.
Und dann ist da noch …
das Jubiläum des Jahres! Während in der realen Welt Superreiche wesentliche Teile ihres Einkommens spenden, aufgrund einer Scheidung riesige Summen abgeben müssen und trotzdem superreich bleiben oder sich aus Spaß eine Software mit blauen Häkchen kaufen, feiert die wahrlich reichste Ente der Welt bereits ihren 75. Geburtstag! Comix-online gratuliert Onkel Dagobert!
Ein vollständiger Nekrolog ist an dieser Stelle nicht möglich. Ein guter Anlaufpunkt dafür sind die entsprechenden Seiten von Wikipedia in den jeweiligen Landessprachen. Den vollständigsten Überblick findet man sicherlich auf der englischsprachigen Variante. Trotzdem soll hier an ein paar erinnert werden:
Jean-Claude Mézières, Neal Adams, George Pérez, Tim Sale, Alan Grant, François Corteggiani und viele mehr !
Auf comix-online ist es ein guter Brauch, Rezensionen mit einem Vorschlag für ein passendes Getränk und musikalische Begleitung abzuschließen. An dieser Stelle darf daher der Hinweis nicht fehlen, dass Im Dezember Terry Hall, der Sänger und Songwriter der Specials, Fun Boy Three und vieler weitere Combos von uns gegangen ist. In diesem Sinne: „Ghost Town“!
London ist mit seiner Geschichte, seinem Nebel und seinen lange als gefährlich und verrucht klassifizierten Vierteln an der Themse ein bevorzugter Schauplatz für Kriminalgeschichten. Das gilt besonders für die Viktorianische Zeit als moderne Technologie, moderne Methoden und moderne Auffassungen noch weitgehend unbekannte Zukunft waren. Trotz allem gab es immer schon Menschen, die sich mit dem Staus Quo nicht abfinden wollten und nach Neuem suchten. Einer davon ist Lord Harold Alaister Cunningham Talbot der Zwölfte.
Moderne Ermittlungstaktik und Standesdünkel
Lord Harold, der Zwölfte seines Namens, ist ein junger Adeliger, der nicht viel auf hergebrachte Verhaltensweisen gibt. Und so beschließt er, seine Kenntnisse nicht nur theoretisch zu erweitern, sondern auch praktisch anzuwenden. Als er dementsprechend seinen Dienst bei der Polizei antritt, stößt er gleich einer ganzen Anzahl von Mitbürgern vor den Kopf: Seinem Butler, dem diensthabenden Offizier der Wache in Blackwater, und seinem Butler Donald, der nun nicht mehr weiß, wie er sein Versprechen, dem Herrn zu dienen, umsetzen soll. Auch der Constabler des Towers ist alles andere als begeistert.
Neben Harolds Tanten steht allein die Königin diesem Experiment aufgeschlossen gegenüber, verlangt allerdings auch Erfolge. Blackchurch führt zunächst die Personen ein, vor allem natürlich den jungen Lord, seinen Hund Hermes und die zwei Beamten, die ihren Dienst mit ihm zusammen versehen werden. Die andere Hauptrolle nimmt eines der verrufenen Viertel Londons ein, Blackchurch, das fest in der Hand von Gauner*innen ist. Leider hat der Ruf mittlerweile so stark gelitten, dass kaum noch betuchte Menschen sich dort blicken lassen.
Harold verliert nie den Mut und glaubt, dass auch die Bewohner*innen dieses Viertels eigentlich gute Menschen sein könnten, wenn sie nicht am Rande des Abgrundes stünden. Der Konstabler und einige Adelige sind dagegen der Meinung, dass Blackchurch ausradiert werden müsse. Drei kleine Mäuse setzt diesen Kampf fort. Philippe Charlot beweist auch in dieser Serie, dass er ein Händchen dafür hat, Geschichten mit kleinen Begebenheiten Tiefe zu geben und sie somit glaubwürdiger zu machen. Dabei beweist er großen Respekt vor den Tugenden und Verachtung für Scheinheilige.
Rasantes Tempo
Die Geschichte wird in vielen Abschnitten sehr rasant erzählt. Manchmal hat man das Gefühl, dass Xavier Fourquemin seine Personen nur im Laufschritt auftreten lässt. Dieses Tempo artet aber nicht in Hektik aus, sondern entspricht der Unsicherheit der Personen, die sich Stillstand nicht leisten können. Einzig die Tanten und die Königin bilden einen gegensätzlichen Ruhepol mit ihren Teezeremonien. Butler Donald steht irgendwie dazwischen.
Die einzelnen Panels sind in sehr klar gliedernden Streifen angebracht. Diese unterscheiden sich nur in der Höhe und erlauben damit unterschiedliche Dynamiken. Besonders gut gelungen sind die „unheimlichen“ Szenen, die an Edgar Wallace-Filme erinnern und der jugendliche Übermut, den Lord Harold fast in jedem Bild ausstrahlt.
Sehr schöne, moderne Erzählung
Der Piredda-Verlag schafft es immer wieder, Serien an Land zu ziehen, die auch gut in das ZACK gepasst hätten. Auch Lord Harold ist so ein Fall: nicht zu viel Gewalt, aber auch kein Kindercomic. Ansprechender Semi-Funny, der Humor mit anspruchsvoller Story paart ohne hyper-realistische Zeichnungen zu bringen. Wer Das Mädchen von der Zeitausstellung oder Die Flintenweiber mag, wird hier ebenfalls Spaß haben!
Die Gesamtausgabe enthält neben den Covern der Einzelbände auch noch einen ganzen Schwung von Illustrationen. Figurenstudien, Skizzen und Seitenentwürfe runden die Ausgabe angemessen ab. Für Liebhaber*innen gibt es auch eine (verlagsvergriffene) limitierte Sonderausgabe.
Dazu passen No Respect mit “Human Scum” und ein Dark Porter.
Mit diesem Band geht schon der Dritte Zyklus dieser Serie zu Ende – Wie die Zeit vergeht. Zur Geschichte der Serie ist schon einiges gesagt. Allein verknüpft Fantasy-Elemente, Science-Fiction, Horror und Coming-of-Age zu einer einzigartigen Mischung. Kinder als Protagonisten einer Abenteuergeschichte mit fantastischen Elementen gab es schon bei Jules Verne. Immer blieb aber die Welt der Erwachsenen irgendwo im Hintergrund als Zielperspektive erhalten. In der Zwischenwelt ist ein Altern ausgeschlossen und die Kinder sind auf sich selbst angewiesen.
Die besonderen Gaben
Dodji befindet sich weiterhin in Gefangenschaft des verrückten Meisters. Seine einzige Ablenkung besteht in der Unterhaltung mit einem unbekannten Mitgefangenen durch ein kleines Loch in der Wand. Dann wird er erneut geprüft: er muss einem vorgegebenen Pfad folgen, ohne ihn zu verlassen.
Natürlich kann Dodji der Versuchung zu fliehen nicht widerstehen und tatsächlich scheint ihm die Flucht zu gelingen. Er stößt dabei auf den Kopf von Melchior der ihm weitere Geheimnisse der Zwischenwelt enthüllt. Während die Verflechtungen der Familien hier nicht gespoilert werden sollen, sei aber die Bemerkung erlaubt, dass es die getigerten Seelen gibt: Kinder mit besonderen Gaben!
Fabien Vehlmann ist ein sehr erfolgreicher Szenarist, der sich in vielen unterschiedlichen Bereichen bewiesen hat. Ian ist eine spannende Geschichte aus dem SF-Genre, der Marquis von Anaon eine History-Reihe und nicht zuletzt war er eine Zeit lang für die Serie Spirou und Fantasio verantwortlich. 2020 hat er den René-Goscinny-Preis erhalten. Seine längste und kommerziell auch erfolgreichste Serie ist aber Allein. Hier kann er alle Einflüsse kombinieren und – vor allem – eine lange und komplexe Geschichte erzählen.
Der Widerspruch zwischen kindlichem Aussehen und tödlicher Story
Ein Faktor, der Allein so außergewöhnlich macht, ist der Widerspruch des kindlichen Aussehens der Protagonist*innen und der tödlichen Gefahr, in der sie stecken. Brutale Machtkämpfe zwischen den ersten Familien, die Gladiator*innenspiele „neu“ erfunden haben, Dinosaurierspielfiguren, die plötzlich zu lebenden Bestien werden, und der Horror durch den Meister sind nur ein paar Beispiele.
Bruno Gazzotti verknüpft dieses Niedliche mit dem Schrecklichen in grandioser Weise und trägt damit wesentlich zum Erfolg der Reihe bei. Die Handelnden bleiben Kinder, auch wenn sie sich weiterentwickeln. Auch dieser Gegensatz zwischen dem kindlichen Gesichtsausdruck des neunjährigen Terry und seiner mittlerweile erworbenen Erfahrung, die sich in der Mimik abzeichnet, gelingt dem Zeichner gut. Zudem ist der hungrige Saurier extrem gelungen!
Ein Must-Have des aktuellen frankobelgischen Comics
Allein ist nicht nur eine weitere Krimi-, Abenteuer- oder Fantasyserie des aktuellen frankobelgischen Comicmarktes. Sie basiert auf einer komplexen Struktur einer Gesellschaftsordnung, die bisher nur in Teilen bekannt ist. In ihr werden verschiedenste Gattungen miteinander verknüpft und die Hauptpersonen konsequent weiterentwickelt. Dabei lässt sich das Team Zeit und konzentriert sich auch auf Einzelne.
Die dritte „Staffel“ ist mit den getigerten Seelen auserzählt, Die Beschützer stehen aber schon in den Startlöchern. Für mich eine der besten aktuell laufenden Serien und somit ein Must-Have! Der Piredda-Verlag hat sich glücklicherweise für eine Ausgabe im Hardcover entschieden und hält die einzelnen Teile lieferbar! Von diesem Band gibt es sogar eine auf 100 Exemplare limitierte Luxusausgabe.
Dazu passen The Detroit Cobras und eine Cola ohne Zucker mit Limettensaft.
Allein sein ist etwas, das niemand auf Dauer erleben möchte. Es bietet für Wortspiele Anlass, etwa zu zweit und doch allein, und es ist der Ausgangspunkt für Überlegungen, was man auf eine Inselmitnehmen würde, wenn man dort seine Tage allein zu verbringen hätte. Allein ist aber auch der Titel einer der besten aktuellen Serien aus dem frankobelgischen Raum. Mehr zu den Hintergründen hier.
Brot, Spiele und Rebellion
Natürlich haben auch Bruno Gazzotti und Fabien Vehlmann die klassische Geschichte studiert. Es gab genügend Diktatoren, die versucht haben, ihre Bevölkerung mit blutrünstigen Spielen abzulenken. Die (Stierkampf-)Arenen in Italien und Spanien erzählen noch immer davon. Auch in der Literatur (etwa Spartacus) und im Comic (etwa Mechanica Caelestium) sind entsprechende Szenarien weit verbreitet. Oft genug beziehen diese Beispiele ihren Reiz daraus, dass die Unterdrückten sich keineswegs mit ihrer Opferrolle abfinden, sondern aktiv versuchen, ihre Freiheit, zu mindestens aber ihre Würde wieder zu erlangen.
In diesem Setting bewegen sich auch die Aufständischen von Neo-Salem. Saul muss beweisen, dass er derjenige ist, auf den die Ältesten gewartet haben, denn nur dann kann er seine Herrscherrolle weiterspielen. Tatsächlich scheint er auch die notwendigen Kräfte zu besitzen, aber nicht kontrollieren zu können. Was läge also näher als das in Klassen separierte „Volk“ zunächst einmal abzulenken und einen Tabubruch dafür zu nutzen.
Dafür ändert Saul die Regeln der etablierten Spiele von Neosalem und erlaubt den Tod der Beteiligten. Bei einer eventuellen Wiedergeburt würden die eingebrannten Schandmale der 8. Klasse nicht mehr sichtbar sein und eine Wiederaufnahme in die 7. Klasse garantiert. So könnte schließlich auch weiterer Klassenaufstieg realisiert werden. Ärgerlich ist nur, dass die Wiedergeburt keinesfalls sicher ist. Und natürlich gibt es noch ein zweites, geheimes Ziel, denn Saul möchte vor allem Leyla ausschalten.
Wie der Titel schon verrät gibt es aber selbst in Neosalem eine Gruppe von Aufständischen, die nicht länger gewillt sind, die Willkürherrschaft zu erdulden. Es reift der Plan, die Spiele für einen Aufstand zu nutzen.
Brillantes Artwork
Was mir bei dieser Serie ganz besonders gefällt ist der Widerspruch zwischen den auf den ersten Blick sehr freundlichen Zeichnungen und dem teils heftigen Inhalt! Da die handelnden Figuren Kinder sind und der Stil der Marcinelle-Schule folgt, wirkt Allein oberflächlich fast wie ein Semi-Funny. Tatsächlich trachten sich die Akteur*innen aber nach dem Leben, enthält die Story viele Horror-Elemente und ist dystopisch angelegt.
Bruno Gazzotti hat schon eine andere (lesenswerte!) Serie im semi-realistischen Stil über einen Polizisten, der sich wegen der Ängste seiner Mutter als Priester verkleidet aus dem Haus schleicht, gezeichnet: Soda. Seit 2006 arbeitet er an Allein. Seine Bilder sind nicht nur Momentaufnahmen und Umgebung für die Sprechblase, sondern erzählen eigene Geschichten. Sie enthalten so viel Emotionen, Bewegung und Kontext, dass es sich lohnt, die Bände mehrfach zu lesen.
Da Fabien Vehlmann auch genügend Sub- und Parallel-Plots in den Bänden unterbringt wird das mehrfache Lesen auch in dieser Hinsicht zum Genuss! Auf eine Sache möchte ich noch hinweisen: Beiden gelingt es eindrücklich, den Horror des zu schnell erwachsen werden Müssens darzustellen. Sei es der Umgang mit Angst, das der Gefahr stellen, die falsch oder richtig verstandene Romantik oder aber echte Freundschaft. Alle diese Punkte werden ständig in unterschiedlichen Konstellationen thematisiert und tragen viel zur unterschwelligen Grundstimmung des Unbehagens bei.
Die Empfehlung
Allein ist jetzt wieder komplett lieferbar und würde sich in jeder Sammlung gut machen! Wer bisher schon reingeschnuppert hat, sollte auf jeden Fall am Ball bleiben und sich auch den aktuellen Band zulegen. Für alle anderen sei kurz erwähnt, dass es bisher drei (aufeinander aufbauende) Zyklen gibt, die sich an den unterschiedlichen Farben der Nummerierung auseinanderhalten lassen. Der aktuelle 12. Band gehört zum dritten Zyklus und lässt sich auch ohne Vorkenntnisse lesen. Deutlich mehr Spaß macht es allerdings im Zusammenhang!
Schließen möchte ich mit einem kleinen Spoiler: In Kürze erscheint ebenfalls im Piredda-Verlag ein Making-of mit Zeichnungen und Texten rund um die Serie!
Dazu passen Die Toten Hosen mit Learning English, Lesson Two und ein belgisches Sauerbier/Geuze. Beides widerspricht auf den ersten Blick allen Erwartungen, entwickelt aber eigene Qualitäten.
1972 ist das erste Album der meist ein- bis dreiseitigen Geschichten um den weißen Hund, sein Herrchen Bojenberg und die Katze Paustian erschienen, bis 2002 folgten 38 weitere. Die letzten beiden enthalten zwar noch Material des als Dupa publizierenden Belgiers Luc Dupanloup, kamen aber erst nach seinem Tod auf den Markt. Später sind dann noch fünf weitere von einem anderen Autorenteam veröffentlicht worden. Im französischen bzw. niederländischen Sprachraum bevölkerten die Geschichten als Cubitus/Dommel die Seiten von Tintin bzw. Kuifje.
Wie so oft war die deutsche Veröffentlichung dieser klassischen Serie schwierig. Zwar war Cubitus eine der beliebtesten Figuren im ZACK und auch unter anderem in Felix mit von der Partie, konsistente Albenreihen sind aber schwieriger. Den Anfang hatte der Carlsen-Verlag gemacht: 14 Bände, die den Originalen 7 bis 20 entsprachen, die beiden darauffolgenden sind bei Phoenix erschienen. Nach einer längeren Phase des Wartens hat dann der Piredda-Verlag die Aufgabe der Komplettierung übernommen und mit 17 bis 33 in deutscher Folge-Nummerierung und den ersten sechs Bänden als „Blaue Reihe“ unter dem Classic-Label alle noch fehlenden nachgereicht.
Mit dem jetzt gerade erschienenen Band 33 „Eingelocht!“ liegen also erstmals alle Dupa-Bände auf Deutsch vor. Alle Stories handeln von dem dicken, intelligenten weißen Hund Cubitus. Er lebt bei Herrn Bojenberg, einem alten Seemann mit einem großen Interesse an komplizierten Dingen und einem alten Motoradgespann, das sehr pflegebedürftig ist. Unverwechselbares Kennzeichen des Hundes ist sein gelber Puschelschwanz. Dritte Hauptfigur ist die Katze Paustian, der totale Gegensatz zu Cubitus. Ihr Verhältnis führt manchmal zu brachialem Humor, aber auch zu philosophischen Diskursen. Im Zweifel verliert dabei die Katze.
Die Zeichnungen sind Tintin-typisch: Reduktion auf das Wesentliche, oft flächige Hintergründe und meistens ein klassisches vier-reihiges Layout, das manchmal überspannt wird. Dupa konzentriert sich in der Darstellung des Hundekörpers auf die Mimik und schafft es, unglaublich viele unterschiedliche Gesichtsausdrücke zu kreieren! Er selbst taucht übrigens in Band 33 auch auf.
Der aktuelle Band
Eingelocht! enthält 27 Geschichten aus unterschiedlichen Jahrzehnten. Das ist auch der einzige Wermutstropfen, denn bereits die Originalbände enthalten die Geschichten keineswegs in chronologischer Reihenfolge. Zudem merkt man den Geschichten an, dass sie 20 Jahre alt sind. Moderne Gags haben mehr und vor allem andere technische Gadgets. Wenn man sich die heutigen Gag-Füller in Spirou oder EPPO anschaut, funktionieren sie auch anders. Trotzdem ist Cubitus eine liebenswerte Reihe mit Einfällen, die auch heute noch ihren Charme haben!
Wenn sich Cubitus und Paustian aufzählen, wie viele Unbillen sie zu ertragen hatten, wenn unüberlegt ausgesprochene Worte plötzlich für ernst genommen werden, Faulheit thematisiert wird oder aber einfach wahnwitzige Ideen in Bilder umgesetzt werden, dann ist das zeitlos! Einige sind dabei sehr liebevoll, wenn es aber das Verhältnis von Hund und Katze im Zentrum steht, dann geht es um Erbfeindschaft und somit um das Ganze. Wer sich (oder seine Kinder) mit Micky Maus und Donald Duck unterhalten kann, wird hier auch richtig liegen. Für die Fans des alten ZACK ist Cubitus sowieso nie unmodern geworden!
Die einzelnen Alben von Carlsen, Phoenix und Koralle sind lange vergriffen und sollten für 3 bis 6 Euro einfach zu bekommen sein, die Bände von Piredda sind noch lieferbar. Da die meisten Softcover in viele kleine Abschnitte unterteilt sind, eignen sie sich besonders dazu, auf der Garten- oder Balkonliege im „Urlaub daheim“ abwechselnd mit dem Sonnenbad genossen zu werden.
Dazu passen dann „Lockdown“ von der Specials Band (Neville Staples) und wahlweise eine Rhabarber-Schorle oder ein Aperol/Rhabarber-Spritz.
Allein ist
eine Serie über Kinder, die sich nach ihrem Tod in einer Zwischenwelt
wiederfinden. Zunächst geht es einzig um das Zurechtkommen von Dodji, Leila,
Yvann, Camilla und Terry in ihrer gewohnten Umgebung aber ohne Eltern, Freund*innen,
überhaupt scheinbar ohne andere Menschen. Nur die Gebäude und alle Sachen sind
noch da, aber auch die entlaufenen Tiere aus dem Zoo. Was anfangs noch wie eine
nette Gruselstory aussieht, entpuppt sich schnell als Mystery-Story, denn es gibt
neben den 5- bis 12-jährigen Kindern noch andere Bewohner*innen der
Zwischenwelt, die dort teilweise ohne zu altern und ohne wirklich sterben zu
können teilweise schon seit Jahrhunderten leben. Dementsprechend haben sich
dort auch Machtstrukturen und Legenden entwickelt und neben freundlichen
Akteuren gibt es auch Kriminelle und Despoten.
Die ersten beiden Bände erschienen zu Zeiten von Mirko Piredda und Martin Surmann im ZACK (näheres dazu hier), alle Bände sind als Hardcover im Piredda Verlag erschienen. Nach rund eineinhalb Jahren Pause ist jetzt der aktuelle Band 11 ausgeliefert worden!
In „die nächtlichen Nagler“ steht der neunjährige Yvan im Mittelpunkt.
Er muss sich in einer kleinen Hafenstadt alleine durchschlagen und wird von
einer Instanz Camillas besucht. Er erkennt, dass sie das Mitternachtskind ist (siehe
Band 9) und vernimmt ihre Warnung vor den Naglern, die Yvan für das untere
Terrain gewinnen wollen.
Gleichzeitig ist Anton
weiterhin fleißig dabei, Theorien über die Zwischenwelt und den zeitlichen Ablauf
aufzustellen. Da sich auch in dieser Serie alles auf einen fulminanten
Schlusspunkt hin entwickelt, ist die gehäufte Ankündigung eines Kampfes sicherlich
ernst zu nehmen.
Im weiteren Verlauf, der eindeutige Horrorelemente hat, wird Yvan in seiner Behausung von einem geheimnisvollen Jungen, dessen Kopf komplett von Fliegen umhüllt und somit nicht erkennbar ist und zombieartigen Kindern überfallen und auf einen Billardtisch genagelt. Als Yvan am nächsten Tag aufwacht, fehlt ihm ein Teil seiner selbst und er weiß, dass die Nagler wiederkommen werden…
Ergänzt wird das
Hardcover durch ein mehrseitiges Interview mit Fabien Vehlmann über die Story von „Allein“, seinen
Lieblingscharakter und sein Verhältnis zu Bruno
Gazzotti, illustriert mit vielen Skizzen und Entwürfen, sowie dem Abdruck
der ersten Seite des angekündigten Spinn-Offs „Geschichten aus der Zwischenwelt“, das größeren Fokus auf Details
und Nebenfiguren werfen wird.
Gazzotti hat
sie Serie als klassischen frankobelgischen Funny im SPIROU/Marcinelle-Stil angelegt.
Detailreiche Umgebungen und Hintergründe, dynamische, filmartige Sequenzen und detaillierte
Gesichtszüge mit zum Teil karikaturesken Ergänzungen. Durch diese teilweise
kindliche, abmildernde Darstellung wird der Horror gekonnt verstärkt, denn er
passt nicht in die helle, freundliche Darstellung und wirkt durch diesen
Gegensatz umso befremdlicher. Seitenlayout-technisch sollte der/die Leser*in
aber nicht allzu viel Innovation erwarten.
Die Figuren sind von Vehlmann über mittlerweile 11 Bände gut entwickelt und haben alle „ihre“ Macken, die sie so sympathisch machen. Es gibt auch genügend Querverbindungen zu alten Hinweisen oder auf noch unbekannte Ereignisse um die Spannung aufrecht zu erhalten. Dabei hilft sicherlich, dass die gesamte Geschichte in aktuell drei Zyklen unterteilt ist.
Die Serie Allein ist eine der besten aktuell
laufenden Reihen! Sie ist bereits für jüngere Leser*innen ab 12 – 14 Jahren (je
nach Person) lesbar, hält aber für Ältere noch weitere Schichten bereit, die
sie ebenfalls lesenswert machen. Die Ausstattung lässt ebenfalls keine Wünsche
übrig!
Dazu passen haltbare
Getränke, die es in die Zwischenwelt schaffen und sowohl zeitlich als auch gegenüber
äußeren Einflüssen äußerst robust sind, also praktisch jedes Getränk in Dosen, und
leicht verstörende Musik etwa von The Other
(Dreaming of the Devil als Beispiel).