bestemming: canada

10 landverhuizers, 10 tekenaars, 10 verhalen

Redaktion: Aimée de Jongh, Erik de Graaf, Wiebke Mokken

Im Auftrag von The Dutch Consulate General in Toronto, Canada
Originalausgabe

Scratch-books

Hardcover | 136 Seiten | Farbe | 27,50 €
ISBN: 
978-94-93166-55-4

Cover bestemming:canada

Unter dem Stichwort Migration werden heutzutage aktuelle Flüchtlingsbewegungen verstanden, die häufig aus einer Katastrophenregion in das direkte Umland stattfinden. Daneben gibt es die oft abwertend als Wirtschaftsmigration bezeichnete Auswanderung mit dem Ziel, sich selbst und die Familie woanders besser ernähren, fortbilden, entwickeln zu können. Dieses Werk behandelt exemplarisch 10 Auswanderungen aus den Niederlanden nach Canada aus den letzten 70 Jahren.

Unterschiedliche Motivationen, Herausforderungen und Gefühle

Die Graphic Novel bestemming: canada enthält 10 völlig unterschiedliche Szenarien zur Auswanderung. Mal sind es die Eltern, denen die kleinen Kinder zwangsläufig folgen, mal sind es die wirtschaftlichen Verhältnisse direkt nach den Zweiten Weltkrieg, der die besetzten Niederlande arg gebeutelt zurückgelassen hatte. Und natürlich darf auch die Liebe als Motiv nicht fehlen.

bestemming:canada page 10

Die Geschichten sind alle sehr persönlich gehalten und basieren auf Interviews, die mit den Personen geführt worden sind. Natürlich stehen dabei zunächst die Fakten im Vordergrund: Wer, von wo, wohin, aus welchem Grund? Schon beim letzten Punkt zeigen sich aber emotionale Punkte. Nicht jede*r wollte die Heimat verlassen, sah sich zu diesem Schritt eher gedrängt. Sie alle aber haben ein Stück der alten Heimat mitgenommen, leben teilweise sogar traditioneller als die Daheimgebliebenen.

Und es wird auch deutlich, dass nicht jedes Problem durch einen Ortswechsel gelöst werden kann. Auch in Canada gibt es Rassismus, und auch dort gibt es Unterschiede zwischen Stadt und Land. Zudem ist die große Weite Canadas nicht immer mit unberührter Natur gleichzusetzen. Grundsätzlich überwiegt aber die positive Grundstimmung.

bestemming:canada page 75

Passende Umsetzungen

Die 10 beteiligten Künstler*innen durften die Beiträge ohne künstlerische Vorgaben umsetzen und so enthält bestemming: canada komplett unterschiedliche Stilrichtungen: es gibt bebilderte Reportagen, Comics im Independent Stil wie auch raffiniert ineinanderlaufende Seitenlayouts. Teilweise realistisch gezeichnete Seiten wechseln sich ab mit naiv gezeichneten oder karikaturesken Bildern.

Neben dem sehr informativen Inhalt bietet die Sammlung daher auch einen Überblick über die aktuelle niederländische Comicszene und ist schon deswegen zu empfehlen! Sowohl zu den Künstler*innen wie auch zu der Geschichte der Auswanderung aus den Niederlanden nach Canada gibt es aufschlussreiche Texte. Gerade zur Auswanderung wird so ein Bezug zwischen den häufigsten Zeitpunkten und den politischen Ereignissen hergestellt.

bestemming:canada page 49

Mehr davon!

Klare Kaufempfehlung für diese Graphic Novel. Einerseits hilft sie das Thema der „Flucht aus wirtschaftlichen Gründen“ ein wenig anders zu betrachten. Teile der Presse und rechte Kreise verurteilen gerne die Migration, wenn wir die Zielländer sind, vergessen aber die Tatsache zu erwähnen, dass „wir“ reiche Westeuropäer*innen vor gar nicht langer Zeit selber das Gleiche gemacht haben. Da es sich aber um persönliche Betrachtungen handelt, hebt hier keiner den Zeigefinger oder stellt moralische Grundsätze auf!

Informativ, emotional und wertschätzend wären die Adjektive, die ich zur Beschreibung in drei Worten aussuchen würde! Und natürlich zeigt dieses offizielle, vom Außenministerium geförderte Projekt mal wieder, wie hoch in den Niederlanden das Ansehen der „stripverhalen“ ist.

Dazu passen ein holländisches IPA, etwas aus der Stadshaven Brouwerij, und Musik von Mark Foggo.

© der Abbildungen 2022 bei den jeweiligen Künstler*innen

Rivière /Wurm – Edgar P. Jacobs

Träume und Apokalypsen

Story: François Rivière
Zeichnungen: 
Philippe Wurm
Originaltitel: 
Edgar P. Jacobs: Le Rêveur d´apocalypses

Carlsen Comics

Hardcover | 144 Seiten | Farbe | 22,00 €
ISBN: 
978-3-551-71755-9

Cover Riviere/Wurm - Edgar P. Jacobs

Biopics werden häufig als Beschreibung von filmischen Annäherungen an ein Leben benutzt. Tatsächlich trifft die Kategorie aber auch auf Comics zu. Ein Leben in Bildern einzufangen ist nicht leicht, allzu oft gibt es entweder eine Aneinanderreihung von Belanglosigkeiten, eine Fokussierung auf Teile oder schlimmstenfalls sogar eine völlig falsche Inszenierung zum Guten oder Bösen. Mit Edgar P. Jacobs steht ein Mitarbeiter Hergés im Mittelpunkt, der es geschafft hat, sich aus diesem Schatten zu befreien: seine Serie Blake und Mortimer wird auch nach seinem Tod fortgesetzt und erfreut sich großer Beliebtheit, zuletzt mit Band 25.

Edgar P. Jacobs - Träume page 7

Vom Bariton zum Comiczeichner

Es gibt immer wieder Karrieren, die auf den ersten Blick unwahrscheinlich klingen. Oftmals liegen ihnen multiple Begabungen zu Grunde. Auch Edgar P. Jacobs ist so ein Multitalent. Anfangs ist der junge Mann ein begeisterter Fan von antiken Skulpturen und widmet sich der Zeichnerei. Sein Traum aber ist es, Opernsänger zu werden, und für ein Engagement zieht der Belgier sogar mitsamt Frau nach Lille um. Die Ehe steht aber unter keinem glücklichen Stern und ein von den Deutschen verhängtes Beschäftigungsverbot für Ausländer zwingt zur Rückkehr nach Belgien.

Dort lernt der junge Künstler Hergé kennen und wird schnell sein Assistent. Obwohl Jacobs nicht nur bei der Überführung der alten Abenteuer in albengeeignetes Material hilft, sondern auch an neuen Abenteuern von Tim und Struppi beteiligt ist, weigert sich der Star, den „Zuträger“ namentlich zu erwähnen. Sicherlich auch ein Grund dafür, dass der immer noch relativ junge Mann überlegt, seine eigenen Geschichten zu entwerfen und zu zeichnen. Nach den Zweiten Weltkrieg währte die Freude über dessen Ende nur kurz und wurde schnell von dem Kalten Krieg und der Furcht vor einer noch schlimmeren neuen Auseinandersetzung abgelöst. Die Grundstimmung für eine Serie war damit gefunden.

Edgar P. Jacobs - Träume page 8

François Rivière beschreibt im Weiteren den Prozess des Künstlers, sich von seinem Meister abzunabeln, Plots zu entwickeln und sich mit seiner neuen Liebe auf Dokumentationsreisen zu begeben. Zwar ist Jacobs schnell sehr erfolgreich, sein Arbeitstempo und seine akribischen Vorbereitungen bringen aber Leser*innen wie Verleger an den Rand der Verzweiflung. Schön gelöst sind die Momente, in denen der Künstler das direkte Feedback mitbekommt.

Die Geschichte erwähnt viele Details nur am Rande und es bleibt oft den Leser*innen überlassen, die Hinweise mit ihrem Wissen über die Serie zu verstehen. Für Fans also ein echter Genuss. Für alle anderen aber nicht tragisch. Auch wenn viele Details möglicherweise gar nicht entdeckt werden, ist die Geschichte doch auch ohne sie schon spannend und definitiv verständlich. Wer mehr wissen will, sollte einen Blick in die Reddition zu Blake und Mortimer werfen.

Zeichnungen als Hommage

Edgar P. Jacobs - Träume page 9

Seine Zeichnungen hat Philippe Wurm dem Stil von Jacobs nachempfunden. Zwar sind sie nicht so textlastig wie die des Porträtierten, Linienführung und Dekors atmen aber die Verehrung. Dabei nimmt er Zitate aus dem Werk von Hergé als auch von Jacobs auf und zeigt etwa Ausschnitte aus Zeichenblättern oder als Grundlage dienende Motive. Seine klare Linie hätte auf jeden Fall genügt, um Eingang in das Tintin-Magazin gefunden zu haben.

Ansonsten entbehren Geschichten dieser Art natürlich etwas der Action. Ein fahrender Zug, ein Komet sind schon seltene Beispiele für Rasanz. Und auch die Figuren sind selten in Zuständen höchster emotionaler Erregung abgebildet. Auch das kommt natürlich vor, die Schwierigkeit aber liegt darin, den Alltag zu porträtieren. Und das hat Wurm meines Erachtens gut hinbekommen. Die Entwicklung ist nachvollziehbar, die Figuren glaubwürdig und die Posen natürlich.

Ein Stück Comic-Geschichte

Mir macht es Spaß, Werke über Comics zu lesen. Warum hat sich jemand Geschichten ausgedacht, welche persönlichen Erfahrungen sind dabei eingeflossen? Je nach Fähigkeit der Autor*innen kann das eine sehr kurzweilige oder aber auch staubtrockene Angelegenheit werden. Biopics vereinen die Vorzüge der grafischen Literatur mit der Befriedigung des Informationsbedürfnisses und stellen daher eine fast natürliche Symbiose dar. Zumal es dann auch noch ein wenig O-Ton sowie eine Zeittafel und eine Liste der Hauptpersonen gibt.

Edgar P. Jacobs - Träume page 10

Insofern ist diese Graphic Novel natürlich fast schon ein Must Have für alle Fans der Serie Blake und Mortimer, aber auch eine sehr zu empfehlende, kurzweilige Reise in die Anfänge des Tintin-Magazins, und die Transformation der Serie von Zeitschriftenseiten in moderne Alben. Dazu gibt es viele Einblicke in die Arbeitsweise von Edgar P. Jacobs hinsichtlich Motive, Umsetzung und Einfluss auf das tägliche Leben.

Dazu passen ein Macallan sowie Orchestral Manoeuvres In The Dark mit “Talking Loud And Clear”!

© der Abbildungen Glenat 2021 / Carlsen Verlag GmbH Hamburg 2022

Krapp/Verne  – 20.000 Meilen unter dem Meer

Story: Thilo Krapp nach Jules Verne

Zeichnungen: Thilo Krapp

Originalausgabe

Carlsen Comics

Cover 20.000 Meilen unter dem Meer

Klassische Science-Fiction begeistert augenscheinlich auch Thilo Krapp, den in Berlin lebenden Autor und Zeichner unter anderem von dem Krieg der Welten. Diejenigen, die der Generation Zack angehören, werden sich wahrscheinlich noch an die weiß-gelben Einbände der 20-bändigen Jules Verne-Ausgabe im Fischer Taschenbuch Verlag erinnern. Besonders beeindruckend fand ich die Illustrationen, die den Charme des schon vor 50 Jahren etwas Veralteten und doch Visionären gut wiedergegeben haben.

Innencover 20.000 Meilen unter dem Meer

Flucht und Hass

Krapp hält sich in seiner Adaption stark an die literarische Vorgabe und so beginnt die graphische Umsetzung mit einem Trauma aus Kinderaugensicht. Ein indischer Jugendlicher muss mit ansehen, wie das Haus seiner Eltern gestürmt wird. Die Erwachsenen werden getötet, der Sohn kann gerade noch ein Familienporträt greifen und fliehen.

Einen Zeitsprung später werden immer wieder Schiffe auf hoher See Opfer eines unbekannten Phänomens, das schnell als „Seeungeheuer“ bezeichnet wird. Professor Arronax soll zusammen mit seinem Diener Conseil bei der Aufklärung dieses Falles helfen und tatsächlich findet eine Begegnung statt. Dieser fällt jedoch das Schiff mit fast der kompletten Besatzung zum Opfer bis auf Arronax, Conseil und den Harpunier Ned Land. Sie lernen die Ursache der Unglücke kennen, das Unterseeboot Nautilus des Kapitän Nemo!

Detail Krapp/Verne 20.000 3

In einer Reise über 20.000 Meilen unter dem Meer lernen die Drei die wissenschaftlichen Entdeckungen von Nemo kennen, die Leistungsfähigkeit der Nautilus aber auch den Hass des Kapitäns auf alles andere auf der Welt. Und immer wieder versuchen sie zu fliehen …

Jugendstilanleihen und Aquarell

Die Geschichte von Jules Verne ist schon so oft graphisch aufbereitet bzw. verfilmt worden, dass es schwierig ist, noch eigene Akzente zu setzen. Krapp erklärt daher zunächst, wie wichtig es ist, das Haupterkennungsmerkmal einer Umsetzung, die Nautilus, zu designen und zeigt seine Vorstellung in mehreren Ansichten. Zudem nutzt er bei der Innenausstattung viele dem Jugendstil entlehnte Elemente und verbindet damit in der Darstellung Nostalgie und Technische Innovation.

Detail Krapp/Verne 20.000 2

Seine Seiten sind sehr abwechslungsreich aufgebaut. Neben dem klassischen Reihen mit Panel-Aufbau gibt es splash-pages, Überlappungen und Schrägen. Die vielen Seiten werden daher nicht langweilig, auch wenn die Geschichte an sich natürlich bekannt ist. Als Extra gibt es auch noch einen kleinen Teil mit Skizzen der die Entwicklung des Interieurs und der Figuren nachvollziehbar macht.

Klassiker in modernem Gewand

Ein Vorteil der oben bereits angesprochenen Fischer-Ausgabe war die Kürzung der Originale um nicht mehr zeitgemäße Passagen. Es gibt klassische Literatur, die auch im Original heute noch super zu lesen ist. Oft hat sich aber der Stil und die Art der Kommunikation so stark geändert, dass eine genussvolle Rezeption besser mit einer bearbeiteten Version funktioniert. Das Gleiche trifft auch hier zu: Krapp ist sehr nah am Original, reduziert aber auf eine sehr spannend zu lesende (und mit dem Auge zu genießende) Strecke!

Detail Krapp/Verne 20.000 1

Für Freund*innen der klassischen Science-Fiction eine sehr gelungene Adaption. Wegen der leichten Modernisierung und Übernahme der heutigen Trigger (wie zum Beispiel Jugendstil-Technik) ist das Ganze aber auch für jüngere, Netflix-gewohnte Leser*innen gut geeignet! Und nicht zuletzt ist die Frage natürlich immer noch aktuell, zu was Leid berechtigt!

Dazu passen ein Citronella-gehopftes IPA sowie Drive by Cinema mit „Summer Sonnet“!

© der Abbildungen Carlsen Verlag GmbH Hamburg 2022, Thilo Krapp

All Verlag – Das Programm 2022 Teil 2

Ansgar Lüttgenau zum Programm des All Verlag für das zweite Halbjahr 2022

c-o: Hallo Ansgar, schon wieder ein halbes Jahr rum. Aktuell sieht es so aus, als ob ein wenig Normalität in das alltägliche Leben zurückkehren würde: Veranstaltungen dürfen wieder stattfinden und der direkte Kontakt mit den Leser*innen wird für Euch wieder möglich. Auf der anderen Seite führt der Krieg mitten in Europa natürlich allen vor Augen, wie labil und gefährdet Sicherheit und Frieden sind. Was erwartest du von den kommenden Monaten?

AL: Ich freue mich erstmal auf Erlangen. An unserem Stand im Hauptzelt auf dem Schlossplatz wird am Freitag und Samstag Philippe Aymond seine Serien Lady S. und Bruno Brazil signieren.

Was die nächsten Monate ansonsten für den Verlag bringen wird man sehen. Trotz den exorbitanten Papierpreiserhöhungen werden wir im 2. Halbjahr einige notwendige Nachdrucke z.B. von Lederstrumpf, Messalina und Wunderwaffen in Auftrag geben.

Cover Hägar 2018

Die Klassiker

c-o: Dein neues Programm setzt die Schwerpunkte der vergangenen Jahre fort. Beginnen wir mit den Klassikern: Du hast die Cartoon-Reihe Hägar gestartet. Hast du schon eine Ahnung über den Erfolg der ersten beiden Teile?

AL: Die Jahrgänge bis 2016 gab es ja bereits einmal von Egmont, sind aber teilweise auch antiquarisch kaum noch zu finden. Deshalb verkaufen sich auch die alten Bände nochmal und die neuen Jahrgänge braucht man auf jeden Fall, um die Egmont Ausgabe zu komplettieren.

Natürlich haben wir nicht die Vertriebspower von Egmont aber die Bücher verkaufen sich zumindest so gut, dass wir schon eine weitere Cartoonserie in Vorbereitung haben.

Cover Hägar 1974

Zum 50. Jubiläum von Hägar soll es ja nächstes Jahr auch noch eine große Ausstellung geben, was sicherlich auch nochmal einen Schub bringt.

c-o: Mit Yalek und Alain Chevallier werden zwei ZACK-Serien fortgesetzt, mit Spaghetti ein alter Klassiker aus dem Tintin-Magazin. Gibt es eigentlich noch ungehobene Schätze in den Archiven?

AL: Da gibt es noch eine ganze Menge toller Sachen. Leider liegen die Rechte dann in der Regel bei den Erben der Künstler und die sind zerstritten oder möchten aus irgendwelchen Gründen keine Veröffentlichung oder man findet sie einfach nicht. Damit ist so ein Projekt dann in der Regel gestorben. Mit genügend Zeit und detektivischem Spürsinn kann man aber manchmal doch einen Erfolg erzielen, wie z.B. bei Jerry Spring, Pharao und Lederstrumpf.

Graphic Novel im All Verlag

c-o: Mit Nur noch Stille gehst du in das Segment Graphic Novel, richtig? Wird das im Zweifel noch ausgebaut werden?

AL: Ein Stern aus schwarzer Baumwolle würde ich auch dort verorten und obwohl ich denke, dass das das beste Buch in unserem gesamten Programm ist, hat es sich nicht gut verkauft. Trotzdem machen wir einen weiteren Versuch mit Nur noch Stille. Die Serienmörderthematik ist vielleicht auch noch interessanter als Rassendiskriminierung. Und außerdem ist der Zeichner durch seine Serie „Der Gesang der Strygen“ auch noch vielen Lesern in positiver Erinnerung.

Cover Nur noch Stille

c-o: Lederstrumpf, die Wunderwaffen und auch die Sechste Waffe sind Serien, die der All Verlag in Deutschland etabliert hat. Man konnte in den letzten Monaten überall lesen, dass das Comicsegment einer der wenigen Bereiche mit Zuwächsen im Print war. Kannst du das bestätigen?

Cover Lederstrumpf 3

AL: In der Coronazeit wurde mehr gelesen, was sich auch in den Verkaufszahlen niedergeschlagen hat. Nicht umsonst haben wir unser Programm deutlich ausgebaut, obwohl das eigentlich erst in ein paar Jahren geplant war.

Nur für Erwachsene

c-o: Nach dem Erfolg von Messalina legst du jetzt im Bereich der Comics für Erwachsene deutlich nach. Gibt es schon Reaktionen darauf?

AL: Der Erfolg von Messalina hat mich ehrlich überrascht. Wir hatten die Lizenz ja schon einige Jahre und ich habe die Veröffentlichung immer wieder verschoben, weil ich dachte, dass das Thema Pornografie im Comic eigentlich durch ist. Aber da beide Bände kurzum vergriffen waren und weiterhin Nachfrage besteht, habe ich mich wohl getäuscht. Wir drucken jetzt bald nach und veröffentlichen mit Bang Bang von Jordi Bernet eine weitere Reihe mit ähnlicher Thematik. Man könnte sagen, „Torpedo“ für Erwachsene.

Tops’n‘Flops

c-o: Wie immer zum Abschluss die Frage nach deinem Lieblingstitel für die kommenden Monate und nach den Tops und Flops der Vergangenheit.

AL: Eigentlich waren für dieses Programm noch zwei weitere Titel geplant, und zwar ein weiterer EC Archiv-Band von Wally Wood, für den wir aber bis heute auf die Druckdaten aus den USA warten und ein Moebius-Titel, dessen Bonusmaterial bisher von Frau Giraud nicht freigegeben wurde und den wir deshalb ins nächste Programm verschoben haben. Der Moebius-Band hätte eigentlich der Toptitel in diesem Programm werden sollen. Nun fällt diese Ehre Nur noch Stille zu, der mit perfekter Zeichentechnik und konstanter Spannung in der Schnittmenge von Southern Gothic und spannungsgeladenem Thriller angesiedelt ist.

Cover Wunderwaffen 11

Am besten verkauft haben sich in den letzten 12 Monaten: Lady S., Die erotische Kunst von Wally Wood, Messalina, Wunderwaffen, Gil St. Andre, Lederstrumpf.

c-o: Vielen Dank, Ansgar für das Interview! Viel Spaß auf Messen und natürlich weiterhin viel Erfolg!

Das Programm im Einzelnen

Wie immer gibt es beim All Verlag zu jedem Titel auch eine auf 111 Exemplare limitierte Vorzugsausgabe mit Ex Libris und teilweise Variantcover. Zu Teil 1/2022.

August 2022 
Bang Bang 1Die Geliebte von Al Capone
Bang Bang 2Viva Mexico
Die sechste Waffe 7Nicht die Kugel, sondern der Fall
Nur noch Stille 
Cover Die sechste Waffe 7
September 2022 
Lederstrumpf 3Der Pfadfinder
Lederstrumpf 4Die Pioniere
Alain Chevallier 3Turnier für 500 ccm
Alain Chevallier 10Das Monster im Schnee
November 2022 
Yalek 3Das Reich der Angst
Yalek 4Die Gefangenen von Yacomac
Wunderwaffen 11Der Schatten der Wewelsburg
Wunderwaffen 12Die Zeitfalle
Dezember 2022 
Messalina 5Der Palast der Qualen
Messalina 6Der letzte Orgasmus
SarvanGesamtausgabe
SpaghettiGesamtausgabe Teil 2
Hägar1974
Hägar2018

© aller Abbildungen 2022 All Verlag und jeweilige Lizenzgeber

Will Eisner  – Das Komplott

Die wahre Geschichte der Protokolle der Weisen von Zion

Story: Will Eisner mit einer Einführung von Umberto Eco

Zeichnungen: Will Eisner

Originaltitel: The Plot: The Secret Story of The Protocols of the Elders of Zion

Carlsen Comics
Softcover | 152 Seiten | s/w | 15,00 €
ISBN: 
978-3-551-72696-4

Cover Eisner - Das Komplott

Will Eisner gilt als der Vater der Graphic Novel. Seinen ersten Mega-Erfolg hatte er mit der wöchentlichen Beilage THE SPIRIT, einem kompletten Comic-Supplement, das von vielen Zeitungen lizenziert war. Schon hier hatte er Grenzen des Mediums neu gesetzt. Nach einer jahrelangen Pause hatte er dann erneut Neuland betreten: der amerikanische Markt war von Heftchen dominiert, Eisner dagegen wollte Geschichten erzählen. Die Graphic Novel war geboren. Mehr dazu in dem lesenswerten Band von Alexander Braun. Das Komplott ist das letzte abgeschlossene Werk des Meisters und war ihm eine Herzensangelegenheit.

Wie kämpft man gegen Verleumdung?

Antisemitismus ist zwar leider immer noch ein aktuelles Problem, hat aber eine lange Geschichte. Es gibt und gab viele Ursachen für diese Geisteshaltung: Neid, übersteigerter Nationalismus, Raffgier aber auch das Bedürfnis, einen Sündenbock nutzen zu können. Eines der perfidesten Mittel zur angeblichen Begründung dieses Hasses auf Menschen mit jüdischen Vorfahren sind die angeblichen Protokolle der Weisen von Zion. Man weiß seit mehr als 100 Jahren, dass dieses Machwerk eine plumpe Fälschung ist und genauso lange wird es immer wieder veröffentlicht, benutzt und – vor allem – geglaubt.

detail out of Eisner - Das Komplott 3

Will Eisner hatte die Hoffnung, dass wenn er mit seiner Reputation eine Graphic Novel über das Thema schreiben würde, mehr Menschen damit erreicht werden könnten, als mit noch einem wissenschaftlichen Artikel. Er hat alle seine Kunstfertigkeit aufgeboten, das Thema darzustellen. Er fängt dabei mit der Vorgeschichte an: Während der Herrschaft Napoleon III. war eine direkte Kritik an ihm nicht möglich. Maurice Joly verfasste daher 1864 „die Gespräche in der Unterwelt zwischen Machiavelli und Montesquieu“ um verklausuliert die Diktatur an den Pranger zu stellen. Dieses Werk wurde später ziemlich dreist kopiert mit den sogenannten Weisen von Zion in der Rolle der Bösen.

Es sollte 1898 zunächst dazu dienen, den Zaren Nikolaus II. davon abzubringen, zu liberale Ideen zu unterstützen, diente nach der russischen Revolution dann den konterrevolutionären „weißen“ Truppen in der Propaganda gegen die sog. „jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung“ und Hitler als Quelle bei der Verfassung von „Mein Kampf“. Unzählige politische Strömungen haben seitdem und immer noch die „Protokolle“ neu veröffentlicht.

Eisner, amerikanischer Jude mit österreichischen Wurzeln, beschreibt aber auch den Kampf um die Wahrheit. Spätestens 1920 war nach einem Artikel in der Times klar, dass die Protokolle eine Fälschung waren. Das Original war bekannt, der Name des Fälschers und seine Auftraggeber. Auch in der Graphic Novel werden die Originaltexte und die Kopien gegenübergestellt, um den Leserinnen zu erlauben, die Behauptungen nachzuvollziehen. Leider haben aber Hass und eigene Überhöhung eine sehr große Widerstandsfähigkeit gegenüber der Wahrheit.

detail out of Eisner - Das Komplott 2

Informationsvermittlung anhand von Zeichnungen

Das Komplott ist schon fast ein „Sachcomic“. Es geht darum, Wissen zu vermitteln, Quellen nachvollziehbar auszulegen und Lügen als solche kenntlich zu machen. Das ist intellektuell schon eine Herausforderung, wird hier aber noch verschärft durch die Notwendigkeit, alles grafisch darzustellen. Eisner gelingt es, seine Figuren „leben“ zu lassen. Ihre Emotionen sind deutlich und Theorie wird dadurch erlebbarer.

Natürlich muss auch viel Information dargestellt werden: viele Zeitschriftenartikel sind wiedergegeben und die Gegenüberstellungen der Originaltete mit den Kopien nehmen viele Seiten in Anspruch. Selbst hier schafft es der Künstler aber, die Information spannend und passend einzurahmen und Leser*innen bei der Stange zu halten. 2005 war dieses Buch erstmals auf Deutsch erschienen, jetzt liegt es endlich wieder vor, zudem als preiswertes Paperback!

detail out of Eisner - Das Komplott 1

Gegen Fake News hilft nur Bildung

Eine kurze Recherche führt zu Tage, dass auch heute die sog. Protokolle leicht bestellbar sind. Umso wichtiger ist es daher, der Hasspropaganda etwas entgegenzusetzen. Für mich gehört diese Graphic Novel von Will Eisner in den Pflichtkanon jede*s Comicleser*in: Nicht nur wegen des Inhalts, sondern auch als Beispiel, wie man Informationsvermittlung und Kunst kombinieren kann.

Das Komplott eignet sich in dieser Ausgabe aber auch als Schullektüre: Der Preis ist angemessen, Taschengeldtauglich und die beigefügten Texte von Umberto Eco und anderen erlauben eine noch bessere Einordnung. Wer sich bei dem Band über Beate und Serge Klarsfeld gefragt hat, wie Nazis eine solch menschenverachtende Ideologie definieren konnten, findet hier einen Teil der Begründung. Must have!

Dazu passen ein starker Kaffee sowie Esther Bejarano & Coincidence mit „Mir lebn ejbig“!

© der Abbildungen 2005 by the Estate of Will Eisner / Carlsen Verlag GmbH Hamburg 2022

Mazurage  – Sea Shepherd 1

Milagro

Story: Guillaume Mazurage
Zeichnungen: 
Guillaume Mazurage
Originaltitel: 
Sea Shepherd 1 – Milagro

Egmont Comic Collection
Hardcover | 56 Seiten | Farbe | 16,00 €
ISBN: 
978-3-7704-0309-7

Cover Mazurage Sea Shepherd 1

Seit einigen Jahren ist Comic-Journalismus eine anerkannte Kunstform. Was als Bestandteil der „Graphic Novel“ angefangen hat, ist nun eigenständig und vielfältig. Neben Kriegsberichterstattung geht es um die Begleitung Sterbender, Gentrifizierung von Stadtteilen oder ganzer Regionen oder die Klimakrise. In dieser neuen Serie des jungen französischen Künstlers Guillaume Mazurage werden die Leser*innen mitgenommen auf ein Schiff der Organisation Sea Shepherd. Diese NGO kämpft für die Meere und den Erhalt des vielfältigen Lebens auf und in den Weltmeeren. Fast nie ist dieser Kampf ohne Risiko, teils sogar für das Leben, zumindest aber für die körperliche Unversehrtheit der Freiwilligen.

Der Vaquita – eine der bedrohtesten Säugetierarten überhaupt

Der Vaquita ist ein Schweinswal, der nur in einem kleinen Gebiet im Golf von Kalifornien vorkommt. Er hat es geschafft, auf die Liste der 100 meistgefährdeten Tierarten weltweit zu kommen. Ende 2019 gab es in freier Wildbahn schätzungsweise noch 19 (!) lebende Tiere. Dabei ist der Schweinswal gar nicht das Ziel der Fischerei, er verendet typischerweise als Beifang. Sea Shepherd hat daher die Operation Milagro gestartet, um zu versuchen, die Tiere doch noch vor dem Aussterben zu bewahren.

Sea Shepherd 1 page 3

Der Comic beginnt sehr dramatisch – ein kleines Schlauchboot der Aktivist*innen von Sea Shepherd versucht einen Wal, der sich in einem Netz verfangen hat, zu befreien. Unter ihnen ist der Erzähler, Guillaume Mazurage, der sich auf Anraten seines Freundes und Mentors Pierre Christin aufgemacht hat. Er will nicht über den Walfang schreiben und zeichnen, sondern über die Jäger der Jäger. Was läge also näher als sich selbst in die Gefahr zu begeben und hautnah einige Aktionen mitzumachen.

Gesagt, getan: Im März 2018 wird der Künstler und Journalist Besatzungsmitglied auf der John Paul DeJoria und nimmt an der Milagro-V-Kampagne teil. Er berichtet von der Gefahr für die Aktivist*innen, die von den Fischern sowohl an Land als auch auf See teilweise massiv angegriffen werden, und von den verzweifelten Versuchen, gefangene Großsäuger zu befreien. Es gibt aber auch positive Aspekte: das freundschaftliche Miteinander im Team und die notwendigen Veränderungen im täglichen Leben. Natürlich lebt die Crew vegan.

Sea Shepherd 1 page 4

Grausame Menschen, großartige Natur?

Bei den Zeichnungen ist Mazurage nicht ganz so klar. Zum einen sehen die meisten Aktivist*innen noch sehr jugendlich aus. Das kann natürlich der angepeilten Zielgruppe geschuldet sein. Wer auf Veränderung zielen will, muss die Jugend im Blick haben. Die Älteren haben das Problem entweder schon verstanden oder aber andere Sachen im Kopf und sind kaum noch erreichbar.

Die Schurken sind dagegen klar erkennbar: verhärmte Gesichter, Drei-Tage-Bart und pure Aggression. Für eine vertiefte Auseinandersetzung wäre es vielleicht notwendig, Alternativen zum Fischfang zu entwickeln. Nicht, dass ich die Überfischung verteidigen wollte. Trotzdem stellt sie für die dortige Bevölkerung teilweise die einzige Einnahmequelle dar. Wie schon Bert Brecht sagte: „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.“ Die Zeichnungen des Meeres, die Dünung und auch die teils großartigen Begegnungen mit seinen Bewohnern sind dagegen großartig und machen auch die Größenunterschiede zwischen Menschen und Walen sehr deutlich.

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Eine klare Empfehlung

Früher gab es immer die Aussage, dass zu bestimmten Anlässen wie Konfirmation/Firmung oder ähnlichen Anlässen ein „gutes Buch“ verschenkt werden sollte. Milagro ist so etwas! Allerdings nicht ganz im Sinne von früher: Sea Shepherd ist eine Organisation, die klar zu illegalen Aktionen aufruft und sie auch durchführt. Sie möchte die Meere und ihre Bewohner*innen schützen und richtet ihre Handlungsweisen daran aus.

Diese Comic-Reportage stellt die Frage nach dem Sinn. Darf der Kapitalismus in seiner Verwertungslogik alles oder gibt es Werte, die darüberstehen sollten? Trotz COVID und Ukraine dürfen wir die Klimakrise, die Umweltzerstörung und die Ausrottung vieler Tier- und Pflanzenarten nicht vergessen. Milagro ist ein (sehr pointierter) Beitrag zu dieser Diskussion und daher zu empfehlen. Meine Meinung dazu: Jede*r, der/die behauptet, die absolute/einzige Wahrheit zu kennen, hat das Problem noch nicht in seiner ganzen Bandbreite erkannt. Ein „die Augen verschließen“ ist aber keinesfalls die Lösung.

Dazu passen The Smiths mit „Meat is Murder“ und ein (veganes) Sierra Nevada Pale Ale.

© der Abbildungen Hachette Livre 2020 | 2022 Egmont Comic Collection

ZACK 275

ZACK 275 (Mai 2022)

Herausgeber/Chefredaktion: Georg F. W. Tempel

Blattgold Verlag

Heft Din A 4 | 92 Seiten | Farbe | 9,00 €
ISSN: 1438-2792

Cover ZACK 275

Das Jubiläum mit der extradicken Feiernummer ist vorbei, auch die reguläre ZACK-Ausgabe hat aber von nun an jeden Monat acht Seiten mehr! Statt fünf Serien können also nun sechs die Heftseiten füllen und noch mehr Abwechslung bringen. Georg F. W. Tempel darf sich dabei durch die Ergebnisse der Wahl zum ZACK-Held oder Heldin bestätigt fühlen, zeigen die Ergebnisse doch, dass nicht nur die klassischen Serien wie (Tusch!!) Rick Master oder Michel Vaillant ganz oben platziert sind. Alle Ergebnisse gibt es hier im Überblick.

Der Neustart

Wie gut, dass die mittlerweile EXPO genannte Schau so oft Station in Paris gemacht hat und als Hintergrund für diese Serie dienen kann. Das Mädchen von der Weltausstellung ist 1867 schon eine junge Frau und betreibt die Wahrsagerei zusammen mit ihrer Mutter. Julie Kleinnagel ist der Traum einer Vielzahl von Junggesellen und schon deswegen eine Erfolgsgarantin des gemeinsamen Gewerbes. Gleichzeitig geht es um den Kampf der Polen für Freiheit und einen gescheiterten Anschlag auf Zar Alexander II. Jack Manini vermischt erneut in seinem Blick aus der Perspektive der kleinen Leute Drama und Historie zu einem spannenden Unterfangen. Dass dabei auch der Humor im Vordergrund steht, wird durch die Zeichnungen von Étienne Willem schon in der ersten Zeichnung deutlich!

ZACK 275 page 22

Die Fortsetzungen

Titelmodel ist in dieser Ausgabe die Serie Rani von Jean van Hamme und Alcante. Die als Sklavin an ein Bordell in Indien verkaufte Adelige hat viel Glück gehabt. Ihr Gönner schützt sie, doch anderen Mädchen drohen bei Verfehlungen drakonische Strafen. Als es wieder einmal so weit ist, kann sich Jolanne nicht beherrschen und greift die Besitzerin an. Spannendes Epos mit detaillierten Kostümen in farbenprächtiger Kulisse von Francis Vallès. Die Kolorierung dieses Bandes ist meines Erachtens etwas schlechter als vorher, vor allem bezüglich der Hautfarbe der Heldin. Trotzdem ist der dritte Platz im Ranking verdient!

ZACK 275 page 05

Bob Morane und sein Sidekick Bill Ballantine müssen sich 1952 gegen die 100 Dämonen des Gelben Schatten behaupten. Die Ninja-Kämpferinnen, die die Militärpatrouillen bei Annam heftig dezimiert haben, scheinen Klone zu sein. Erstmals gelingt es Bob, eine der Kämpferinnen gefangen zu nehmen. Wird das zu erhellenden neuen Erkenntnissen führen? Christophe Bec und Corbeyran haben das Szenario auf der Basis der Figur von Henry Vernes geschrieben und leicht modernisiert zu einem Actionknaller gemacht. Paulo Grella darf zeigen, dass er die Einstellungen im Dschungel genauso gut beherrscht wie Kampf- und Explosionsszenen. Solide Kunst.

ZACK 275 page 47

Die Kämpfe in der Finanzwelt von Paris sind weniger blutig und haben pyrotechnisch nichts zu bieten. Sie sind aber weder harm- noch folgenlos. In Die Bank von Pierre Boisserie und Philippe Guillaume haben die Geschwister Saint-Huberts zwar noch das Sagen, ihre Zeit neigt sich aber dem Ende zu und Die Zweite Generation ist gefragt! Wie so oft passen aber Geschlecht und Fähigkeit nicht zueinander. Die eine könnte, darf aber aus gesellschaftlichen Gründen nicht, der andere muss, besitzt aber keine der notwendigen Eigenschaften. Passende Zeichnungen von Malo Kerfrieden, die zu einer Platzierung in den Top-Ten geführt haben!

ZACK 275 page 63

Die Abschiede

Johnny Focus ist ein Reporter, der überall dort auftaucht, wo Probleme sind. Nicht immer ergreift er Partei, nie aber für die Mächtigen. Der Anti-Held von Attilio Micheluzzi ist ein Kind der späten Siebziger, beginnenden Achtziger Jahre und in Deutschland leider immer noch größtenteils zu entdecken! Als Vorgeschmack auf die für den Spätsommer angekündigte Gesamtausgabe bewegt sich der Held auf den Pfaden des Rauschgiftschmuggels durch Das Goldene Dreieck! Große Comickunst in schwarz-weiß!

ZACK 275 page 37

Auch die grafisch moderne Mystery/Science-Fiction-Serie Harmony von Mathieu Reynès geht (leider schon wieder) zu Ende. Während der Rettungsaktion für Mahopmaa werden Harmony, die Alte und Karl von Maskierten mit militärischen Mitteln angegriffen… Omen hat ein wenig Klarheit in die Geschichte der Kinder mit besonderen Fähigkeiten gebracht. Es ist allerdings völlig offen, wie sich die Story weiterentwickeln wird und wie die einzelnen Player wirklich miteinander vernetzt sind.

ZACK 275 page 78

Und sonst?

Die Wertung im Ranking für Parker & Badger und Tizombi hätte ich getauscht. Die One-Pager verbreiten auch in diesem Heft wieder gute Laune; bei beiden geht es um die in den Mai passende Liebe. Dazu kommen die üblichen Infos und Kolumnen, ein Artikel über die deutsche Graphic Novel auf Basis der Augensammler von Sebastian Fitzek und ein Interview mit Paul Rietzl zu seinem neuen Projekt Augsburg 1521. Für warme Herzen bei den Nostalgiker*innen sorgt die Serie über das ZACK vor 50 Jahren von Michael Klein.

Alles wird teurer und auch Verlagserzeugnisse gehören dazu: gestiegene Papierpreise, Löhne, Transportkosten erfordern eine Erhöhung. Die Kombination aus mehr Geld und mehr Inhalt finde ich persönlich eine gute Lösung. Zudem beendet sie die jahrelange Diskussion im Forum über eine geänderte Erscheinungsweise (zumindest vorläufig). Das Preis-Leistungs-Verhältnis stimmt jedenfalls auch weiterhin. In diesem Sinne: Alles neu macht der Mai!

Dazu passen die aus Wales stammende Band The Alarm und letztmalig für dieses Jahr ein Maibock.

© der Abbildungen 2022 bei den jeweiligen Autoren und Verlage c/o Blattgold GmbH

Renard/ Schuiten – Metamorphosen

Das Frühwerk

Story: Claude Renard
Zeichnungen: 
François Schuiten
Originaltitel: 
Metamorphoses

Schreiber & Leser

Hardcover | 176 Seiten | Farbe | 34,80 € | 
ISBN: 978-3-96582-102-6

Cover Renard/Schuiten Metamorphosen

Es gibt ein paar Große der Comicwelt, die es auch heute noch schaffen, ihre Werke in einen Zusammenhang zu stellen. Auch wenn formal betrachtet die Bände unabhängig voneinander sind, kann man teilweise doch gleiche Motive erkennen und eine Entwicklungslinie ziehen. Einer davon ist François Schuiten, hauptsächlich bekannt für seine Geheimnisvollen Städte, die er zusammen mit Benoît Peeters entwickelt hat. Dass er schon vorher in dieser Richtung unterwegs war, belegt das Frühwerk mit Claude Renard eindrücklich!

Experimentelle Arbeiten, die Schichten aufdecken

Der Band mit unterschiedlichen Geschichten heißt nicht umsonst Metamorphosen! Alle Geschichten haben mehrere Ebenen, die Oberfläche hat nicht unbedingt etwas mit dem Darunterliegenden zu tun und nichts endet wie geplant. Den Anfang macht eine von den beiden Künstlern zusammen entwickelte Story mit Bleistiftzeichnungen. Die Mediane von Zymbiola verknüpft mehrere Handlungs- und Zeitebenen. Es geht um Architektur, gesellschaftliche Weiterentwicklung und Macht. Wie immer gibt es Forschende und solche, die nur auf die eigenen Pfründe schauen. Und die Reaktion ist nicht immer bereit, zu unterscheiden.

Express ist der Versuch der Beiden, bei etwas Neuem mitzumachen. Plötzlich waren Comics nicht mehr minderwertig, sondern Kunst und Literatur ebenbürtig und z.B. Portfolios möglich. Schuiten und Renard haben eine Folge von 8 Blättern entworfen, die ohne Worte erzählen, wie ein Zug sich zu etwas Anbetungswürdigem verwandelt und gleichzeitig eine erotische Eskapade ihren Lauf nimmt.

Renard/Schuiten Metamorphosen page 48

Den Abschluss bildet Das Gleis: ein Funktionär muss erkennen, dass er und das, für das er steht, nicht mehr gewollt ist und Neues sich Bahn bricht. Immer wieder stehen Züge im Mittelpunkt von Geschichten von Krimis oder auch Science-Fiction-Serien, weil sie Technik und Beherrschbarkeit der Umgebung mit der Situation des Eingeschlossen- und Ausgeliefertseins verbinden. Es gibt kein Entkommen!

Gelungene Experimente!

Die Verknüpfung von Form und Inhalt wird hier teilweise auf die Spitze getrieben. Formalisierte Konzepte erlauben nur kleine Veränderungen, die erst in ihrer Abfolge wirksam werden. Die Geschichte in der Geschichte, die trotzdem Crescendo und Beruhigung teilt, ist mehr als eine Spielerei. Und die Verknüpfung von Architektur und Gesellschaftskritik über die Zeiten hinweg ist ein spannender Einfall, der das Lesen zum Genuss macht.

Wer die schnelle Lektüre sucht, wird hier sein Glück nicht finden. Wer aber Spaß hatte an der Dekonstruktion der klassischen Erzählweise, an den neuen Möglichkeiten, die Metal Hurlant bot, der sollte hier zuschlagen!

Renard/Schuiten Metamorphosen page 131

Schöne Ergänzung zu den Geheimnisvollen Städten

Der Band mit dem Frühwerk von François Schuiten ergänzt die Reihe nahezu perfekt. Auch ohne Kenntnisse ist er aber ein Leckerbissen der besonderen Art, der durch die Skizzen im Anhang noch einmal gewinnt. Sehr schön präsentierte anspruchsvolle Sachen die der Bezeichnung „Neunte Kunst“ vollauf gerecht werden!

Dazu passen David Gilmour mit „In Any Tongue“ und ein trockener Bordeaux.

© der Abbildungen 2022 Casterman / Verlag Schreiber & Leser

Daniel  – Das Gutachten

Ein Blick auf die deutsche Nachkriegsgesellschaft

Story: Jennifer Daniel

Zeichnungen: Jennifer Daniel

Originalausgabe

Carlsen Comics
Hardcover | 208 Seiten | Farbe | 25,00 €
ISBN: 
978-3-551-78170-3

Cover Jennifer Daniel - Das Gutachten

Ende der Siebziger Jahre in Deutschland. Während ein Teil der sogenannten 68-er sich mehr und mehr auf die Gefangenen-Frage fokussiert und Themen wie Sexismus, Machtstrukturen und den Alltag immer mehr aus den Augen verliert, feiert die konservativ-patriarchalische Gesellschaft fröhlich Rückeroberungserfolge in Vorbereitung der geistig-moralischen Wende. In diese Zeit, die später teilweise die „bleierne“ genannt werden wird, fällt die hier erzählte Geschichte.

Ein Rädchen wacht auf

Herr Martin ist der Protagonist dieser Erzählung. Er ist ein typischer Angestellter, der immer vorbildlich arbeitet, immer zu Sonderaufgaben bereit ist, der „Obrigkeit“ nichts abschlagen kann und ziemlich klare Vorstellungen davon hat, was „nicht“ sein sollte. Dazu zählen etwa die langen Haare seines Sohnes und seine Überlegungen, den Dienst mit der Waffe zu verweigern. Er folgt einem ganz klassischen Muster und funktioniert.

Daniel - Gutachten page 4

Irgendwann aber kommt für jede*n der Punkt, an dem eine Entscheidung gefragt ist. Schon sich selbst die Frage zu stellen, ob der Alltagstrott hier immer noch richtig ist, nur weil er von allen so hingenommen wird, ist der erste Schritt. Für Herrn Martin ist die ausschlaggebende Situation ein Autounfall, bei dem eine junge Frau und ihr dreijähriger Sohn getötet werden. Im Endeffekt wird es das Gutachten geben in dem versucht wird, das Geschehen zu verstehen.

Dazu bringt Jennifer Daniel noch weitere Handlungsstränge unter: Versuche der Antiimperialisten, die RAF zu unterstützen, Alkoholmissbrauch und seine Folgen im Straßenverkehr, den Krieg und die dadurch ausgelösten Traumata, und die Probleme alleinerziehender Mütter. Alle diese Themen werden sehr stimmig integriert und sorgen daher für eine aus heutiger Sicht sehr beklemmende Atmosphäre.

Daniel - Gutachten page 5

Auf das Wesentliche reduzierte Malerei

Die einzelnen Panels haben teilweise einen sehr hohen Weißraum-Anteil. Hintergründe verwendet Jennifer Daniel wirklich nur dann, wenn sie das Geschehnis voranbringen. Ihre Figuren sind nicht bis ins Feinste mit Wasserfarben ausgearbeitet, sondern auf die Kernpunkte konzentriert: markige Linien im Gesicht, Betonfrisuren und steife Klamotten. Besonders auffällig sind die oft aus langen Rechtecken bestehenden, wie aufgeklebt wirkenden Nasen.

Die Künstlerin verschwendet keine Zeit drauf, eine Szene „schön“ zu gestalten. Ihr kommt es darauf an, den Gesamteindruck zu erzeugen, der heutige Leser*innen daran erinnert, wie es früher war. Keine Diskussionen gegenüber Autoritäten als Standard aber auch die einfache Abgrenzung (etwa durch lange Haare oder den fehlenden Schlips) in einer Gesellschaft, die weder hier noch dort auf neue Ideen gesetzt hat.

Daniel - Gutachten page 54

Eine mutmachende Geschichte

Im Endeffekt ist Herr Martin ein Verwandter von so vielen Menschen, die irgendwann ihre Eigenschaft als Rädchen erkennen und mehr oder weniger erfolgreich auszubrechen versuchen. Und jede einzelne davon beweist, dass es geht! Wer etwa 1984 gut fand, sollte hier reinschauen.

Hinzu kommen der sehr spannende, krimiartige Aufbau der Graphic Novel und das durchgezogene stimmige Konzept: ein echtes Highlight des Frühjahrprogramms! Die im Hardcover präsentierte Geschichte beweist die auch in Deutschland zu findende hohe Qualität einzelner und verdient Aufmerksamkeit!

Dazu passen ein kleines Pils mit Korn und Dropkick Murphys mit „We Shall Overcome!“!

© der Abbildungen Carlsen Verlag GmbH Hamburg 2022

Munuera – Bartleby, der Schreiber

Eine Geschichte aus der Wall Street

Story: José-Luis Munuera nach Herman Melville
Zeichnungen: 
José-Luis Munuera
Originaltitel: 
Bartleby le Scribe

Splitter Verlag

Hardcover | 72 Seiten | Farbe | 18,00 € | 
ISBN: 978-3-96792-168-7

Cover Munuera Bartleby, der Schreiber

Bartleby, der Schreiber ist eine der bekanntesten Erzählungen von Herman Melville, allerdings auch eine der umstrittensten und schwierigsten. Viele Bewegungen haben versucht, sich den Anti-Helden der Erzählung anzueignen. Am ehesten gelungen ist das wohl Occupy. Der passive Widerstand gegen Alles ist sicherlich in der Geschichte enthalten, die Motive bleiben aber unbekannt.

Bartleby page 1

Ich möchte lieber nicht

Eine Kanzlei hat mehr Arbeit als sie mit dem bisherigen Personal bewältigen kann und so stellt der Ich-Erzähler einen neuen Schreiber ein. Schon der erste Moment lässt aufhorchen, denn der Neue bekommt einen Platz, der ihn direkt auf eine Ziegelsteinmauer schauen lässt. Von dem ursprünglichen Ausblick ist aufgrund des Baubooms nichts geblieben. Später wird der Arbeitsplatz auch nach innen durch einen Paravent abgeschottet.

Der Neue wird gebeten, nicht nur Schriftstücke zu kopieren, sondern diese mit seinen Kollegen zusammen auch zu kollationieren. Diese qualitätssichernde Tätigkeit gehört zum normalen Büroalltag, wird aber von Bartleby verweigert. Er möchte auch andere Tätigkeiten lieber nicht ausführen … Die Kollegen wie auch ein Freund drängen den Chef zum Handeln, aber dieser scheint seltsam unsicher und unfähig, etwas zu unternehmen und so umfasst die Verweigerung des Schreibers immer mehr Bereiche.

Munuera - Bartleby page 10

Munuera, bekannt für seine eher humoristischen Serien im Spirou-Umfeld oder die Campbells, liefert hier eine Literaturadaption ab, die sowohl die Schwierigkeiten des Verstehens und des Verständnisses des Chefs darstellt als auch die Zielstrebigkeit in der Verweigerung. Gerade diese Verhaltensweise wird von den Vertreter*innen des gewaltlosen Widerstands in den Vordergrund gestellt.

Fatalistische Stimmung auch in den Zeichnungen

Munuera zeigt den Fatalismus, die Akzeptanz des Scheiterns, auch in seinen Zeichnungen. Die in Grün- und Brauntönen gehaltenen Panel zeigen alle Beteiligten in einer Haltung, die einen Glauben an den Erfolg bereits ausschließt. Sei es der beratende Freund, der weiß, dass seine Ratschläge nicht fruchten werden, die geifernden Kollegen, die wissen, dass keine Abreibung erfolgen wird, oder der Chef, der nicht weiß, was er mit dem Angestellten machen soll.

Selbst der Anti-Held Bartleby ist keinesfalls heroisch. Er verweigert nicht aktiv auf ein Ziel hin, er möchte halt lieber nicht. Und tatsächlich zwingt ihn ja auch niemand. Fans von Munuera werden seinen Zeichenstil wiederkennen. Die Figuren, die Nasen und der Strich sind unverkennbar. Und vielleicht kommt ja tatsächlich ein*e Leser*in auf den Geschmack und möchte mehr von Melville lesen.

Bartleby page 12

Nicht nur für Bildungsbürger*innen

Auch wenn diese Graphic Novel mit dem Gewicht einer Literaturadaption daherkommt, ist sie doch allen zu empfehlen. Die Situation, eine übertragene Aufgabe lieber nicht ausführen zu wollen, dürfte allgemein bekannt sein. Und leider gibt es auch aktuell sehr viele Situationen, in denen es viel besser wäre, wenn nicht alle blindlings Befehlen gehorchen würden. Ein wenig mehr „Ich möchte lieber nicht“ würde uns allen guttun. Wie weit diese Verweigerung gehen sollte, ist allerdings eine andere Frage.

Splitter präsentiert die Geschichte im üblichen Format als Hardcover und hängt noch ein kleines Nachwort an. Die Zeichnungen sind locker und sollten daher niemand abschrecken. Immerhin verspricht Bartleby, der Schreiber, auch bei mehrmaligem Lesen neue Dinge zu offenbaren. Daher eine klare Empfehlung!

Detail Bartleby, der Schreiber page 15

Dazu passen Barry McGuire mit “Eve of Destruction” und ein warmes Dosenbier.

© der Abbildungen DARGAUD BENELUX (Dargaud-Lombard s.a.) 2021, by Munuera, Splitter Verlag GmbH & Co. KG, 2021

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