Hardcover | 136 Seiten | Farbe oder s/w | 29,80 € ISBN: 978-3-96582-124-8 oder 978-3-96582-137-8
Den meisten Leser*innen dürfte Hugo Pratt wohl aufgrund der Abenteuer des Kapitäns ohne Schiff, Corto Maltese, bekannt sein. Der Italiener hat aber deutlich mehr Werke verfasst und gezeichnet. Der Hamburger Verlag schreiber & leser hatte bisher neben den Geschichten um Corto (und den Fortsetzungen) „Die Wüstenskorpione“ sowie zwei Bände der Reihe „Ein Mann – Ein Abenteuer“ im Portfolio. Dieses wird nun durch einen Western, Fort Wheeling, ergänzt. Wie immer sind die Bände sowohl in einer farbigen als auch in einer schwarz-weißen Klassik-Edition erhältlich!
Die Unausweichlichkeit des Krieges
Virginia 1774: Das weite Land unterhalb der großen Seen bietet Platz für Mensch und Tier. Leider ist dieser romantische Ansatz nicht unbedingt derjenige, der bei den dort ansässigen Menschen den meisten Anklang findet. Weiße Rassisten töten grundlos jede*n der First Nations, der ihnen vor die Flinte kommt da „nur ein toter indianer ein guter Indianer“ sei. Diese wiederum wissen durchaus darum, dass sie unterlegen sind, auch, dass es bei den Usurpatoren nicht nur schlechte Menschen gibt, können sich der Rachepflicht aber auch nicht vollständig entziehen.
Als wäre das nicht schon genug, deutet sich ein weiterer Konflikt zwischen den Engländern und den Kolonialisten an, der sich zu einem siebenjährigen Krieg auswachsen wird. Abgerundet wird diese Gemengelage aus Konflikten mit den zarten Trieben der jungen Liebe, die ebenfalls gerne zu Verwicklungen führt. Trotz allem entstehen mehrere Freundschaften!
Da diese allerdings alle von Gegensätzen gezeichnet sind (Mann und Frau, Weiß und Rot, Engländer und Amerikaner), ist die Frage, wie sie sich entwickeln werden. Gesetze, Scharfschützen, Schlachten und nicht zuletzt gesellschaftliche Erwartungen sind jedenfalls nicht gerade geeignete Rahmenbedingungen. Gnadenloser Realismus gepaart mit unüberwindlicher Romantik!
Reduziert und gleichzeitig voller Details
Die Zeichnungen von Pratt waren ursprünglich für die schwarz-weiße Wiedergabe gedacht. Daher kommt natürlich auch der intensive Einsatz von Schatten und Schwarzflächen. In der kolorierten Version erhalten die ansonsten weißen Hintergründe eine Farbe und wirken dadurch etwas kompletter. Die Farbe lenkt aber auch ein wenig ab und kreiert einen anderen Fokus. Jede*r möge also selbst entscheiden, welche Fassung die gewünschte ist.
Während die Anzahl der Elemente in einem Panel durchaus reduziert ist, ist die Detailtiefe dieser Elemente teilweise unglaublich. Pratt ist mit Sicherheit zurecht einer der größten Vertreter*innen des italienischen Stils. Und: ja, die Darstellung der indigenen Völker ist möglicherweise nach heutigen Erkenntnissen nicht korrekt. Sowohl Kleidung als auch Kopf- und Körperschmuck mag daher Stereotype beinhalten. Man muss Pratt allerdings hoch anrechnenden, dass er keineswegs dem Zeitgeist gefolgt ist, der „Indianer“ auf skalpierende Mörder reduziert hat.
Sollte in keiner Sammlung fehlen
Fort Wheeling ist einerseits ein Klassiker der Comic-Geschichte, entstanden kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges während des Aufenthaltes von Pratt in Argentinien. Die Drucktechniken waren fern von heutigen Möglichkeiten und erlaubten teilweise nur grobe Formen. Umso beachtlicher ist die Zeichenkunst hier zu sehen! Mehr dazu in der Reddition 68. Die bisher einzige weitere deutsche Veröffentlichung war vor fast 40 Jahren in der comicothek.
Hugo Pratt ist zudem neben anderen wie etwa Will Eisner sicherlich einer der Väter der Graphic Novel, Die Südseeballade ist bereits ein Comicroman. Die Anfänge liegen aber früher und werden bereits in Fort Wheeling sichtbar. Zudem ist das Epos eine wichtige Alternative zu den damals marktbeherrschenden US-Western-Comics, die ganz andere Akzente gesetzt haben, und steht somit als einer der Vorfahren in der Tradition des europäischen Westerncomics etwa von Charlier oder Derib! Der Band kommt inklusive der gezeichneten „Einführung“.
Dazu The Jam „That’s Entertainment“ und ein Kellerbier.
Einige Werke haben es verdient, nach angemessener Zeit erneut veröffentlicht zu werden. Die Geschichte der Rache des Grafen Skarbek erschien zuletzt 2006 in zwei Einzelbänden um nun als Gesamtausgabe und umfangreichem Anhang wieder in den Regalen aufzutauchen! Angesichts der Namen der Kreativen sind die Erwartungen hoch, haben sie doch Werke wie Mademoiselle J., Blake & Mortimer oder Thorgal als Referenzen vorzuweisen.
Vielschichtige Handlung zwischen Kunst, Rache und Piraten
Eine wirkliche gute Geschichte erkennt man oft genug daran, dass sie aus verschiedenen, mit einander verwobenen Schichten besteht, die sich erst nach und nach offenbaren und die Leser*innen zwingen, die Vermutungen über den Fortgang zu überprüfen, vielleicht sogar zu revidieren! Skarbek ist eine solche Story! Es beginnt damit, dass ein polnischer Graf, Skarbek, in der Pariser Kunstszene des Jahres 1843 auftaucht und die Bekanntschaft von Sammlern des Malers Louis Paulus sowie ihres Galeristen macht. Durch sie erlangt er sogar Zugang zu der ehemaligen Muse des Künstlers.
Im Zentrum der Geschichte steht ein Prozess, den der Adelige gegen die Sammler und den Verkäufer der Bilder anstrengt. Ein Skandal entwickelt sich und niemand, weder Anwälte noch Beteiligte, Richter, oder gar Zuschauer*innen sind vor Überraschungen und plötzlichen Wendungen in diesem Prozess geschützt. Es scheint, dass der polnische Graf nicht ist, was er zu sein scheint, und dass die angeblichen „Guten“ mehr Dreck am Stecken haben als ihnen lieb ist.
Verwoben in dieses Gerichts- und Rachedrama sind zusätzlich noch eine Piratengeschichte, die Geschichte einer leidenschaftlichen Malerei und mehrfach enttäuschter Liebe. Was klingen mag wie eine Ansammlung einfach aller möglichen Motive für eine Geschichte ist in Wirklichkeit von Yves Sente komplex verwoben und spannend erzählt!
Jedes Bild ein Kunstwerk!
Üblicherweise sind die Bilder in einem Comic-Strip gezeichnet. Grzegorz Rosinski dagegen hat jedes einzelne Panel gemalt und schafft damit eine ganz außergewöhnliche Optik. Einerseits gelingt es dadurch natürlich optimal, die Gemälde des Louis Paulus in die Handlung und ihre Darstellung zu integrieren. Es ist kein Widerspruch zwischen dem Bild des malenden Malers und dem Bild des gemalten Bildes und die Leser*innen werden so noch tiefer in die Handlung hineingezogen.
Auf der anderen Seite ermöglicht diese Art, die Hintergründe und das Dekors so unglaublich detailliert und facettenreich zu gestalten. Jede Zeichnung, teilweise selbst Fotos wären mit dieser Fülle überfordert. Hier aber kann das Auge diese Details zunächst ignorieren, um dann zu ihnen zurückzukommen, wenn die Informationsaufnahme abgeschlossen ist. Die Vielschichtigkeit dieses Werkes liegt also nicht nur in der Handlung, sondern auch in der graphischen Darstellung höchstselbst!
Das Besondere für die Sammlung!
Die Gesamtausgabe von Skarbek kommt zusätzlich mit einem großen Anhang, voll mit Skizzen und Entwürfen. Dieser erlaubt einen Einblick in die Entstehungsprozedur, ermöglicht aber auch, das eine oder andere Schmankerl prominent dazustellen. Die limitierte Vorzugsausgabe enthält zusätzlich noch ein Portfolio mit Zeichnungen zu den Bildern von Paulus mit den entsprechenden Motiven.
Portfolio der VZA
Inhaltlich wie auch grafisch fällt der Band aus dem Rahmen: Die Story ist vielschichtiger als üblich, die Bilder viel detaillierter, aber auch künstlerischer. Nichts für den schnellen Genuss also. Auf der anderen Seite ist dieses Werk zwar besonders (gut), aber nicht experimentell oder schräg. Es bleibt im Kanon des Erwartbaren! Per definitionem also ein besonderes Schmuckstück für jede Sammlung, aber mit sehr hohem Gebrauchswert!
Dazu die Neue von The Damned „Beware of the Clown“ und ein dunkelroter Bordeaux.
Meine Jahresbestenliste und ein paar Worte zum Geleit
Es ist wieder so weit, das Jahr nähert sich dem Ende. Niemand hätte sich träumen lassen, dass die „Katastrophe“ Corona/COVID von viel Schlimmeren abgelöst werden würde. In diesem Sinne wünsche ich allen Leser*innen von comix-online Frohe Festtage und einen guten Start in ein hoffentlich gutes Neues Jahr.
Wie immer folgt eine rein persönliche Übersicht über meine Favoriten in den schon bekannten Kategorien. Dazu ein paar Worte über einige Künstler, die uns in diesem Jahr verlassen haben. Ihr könnt gerne die Kommentarmöglichkeit am Ende des Artikels nutzen, um entweder eure Favoriten mitzuteilen oder aber eure Gedanken zu meiner Auswahl zu posten.
Für comix-online war das Jahr sehr erfolgreich. Mehr als 83.000 gezielte Aufrufe einzelner Seiten (also ohne die Startseite) sind ein neuer Rekord. Die Charts mit den am häufigsten aufgerufenen Seiten der letzten 30 Tage bzw. der „All-Time-Favourites“ zeigen durchaus Bewegung und lassen eure Präferenzen deutlich werden. Trotzdem freue ich mich über Kommentare oder Feedback, gerade auch bezüglich Informationen, die euch fehlen.
Die besten Comics
Die Königskategorie ist in gewisser Weise schwierig: Eigentlich erwartet wahrscheinlich jede*r hier, das Marsupilami-Abenteuer von Flix zu sehen. Mit Sicherheit ein toller Titel, ein Verkaufserfolg und eine Anerkennung des deutschen Zeichners und Szenaristen durch die belgischen Markeneigner. Aber ich möchte hier trotzdem das Spotlight auf fünf andere Titel werfen:
Platz 1 geht an eine Künstlerin aus Deutschland: Jennifer Daniel mit Das Gutachten! Die Autorin wirft einen Blick auf die deutsche Geschichte der 70-er Jahre. Während die einen es die bleierne Zeit nennen, war es für andere die Zeit des Erwachens. Mit sehr persönlichem Blick seziert Jennifer Daniel das Gebilde, in dem der Held funktionieren soll, und das doch immer mehr Risse bekommt!
Knapp dahinter ein ebenfalls politischer Titel: Rorschach 4. 35 Jahre nach den Watchmen verkleidet sich jemand als Rorschach und verübt zusammen mit einer als Cowgirl verkleideten Begleiterin ein Attentat auf den Präsidentschaftskandidaten der Republikanischen Partei. Das FBI versucht, diesen Anschlag aufzudecken und Autor Tom King führt uns immer tiefer in eine Mischung aus Wahrheit und Fiktion, die kaum noch auseinander zu halten sind. Jorge Fornés setzt das in tolle Bilder um.
Adventureman ist eine sehr spannende Mischung aus Pulp und moderner Geschichte. So würde die Gattung wohl aussehen, wenn sie heutzutage entwickelt werden würde. Hohes Tempo, viel Action, eine große Prise Humor und ein Stückchen Irrwitz. Matt Fractions Story treibt Terry Dodson zu rasantem Tempo und macht sehr viel Spaß.
Platz 4 geht an einen wiederentdeckten Klassiker, Alain Cardain von Yvan Delporte und Gérald Forton. In der Reihe ZACK-Spezial, wofür dieser Band auch ein wenig stellvertretend steht, werden frankobelgische Klassiker, die es aus unterschiedlichen Gründen nicht nach Deutschland geschafft haben, ansprechend präsentiert. Hier geht es um die Anfänger der Eroberung des Weltalls. Die Ausgaben sind limitiert und nur für ZACK-Abonennt*innen erhältlich.
Platz 5 ist ein Doppelband: Die Fälle von Lord Harold dem Zwölften spielt im London während des Übergangs zur Moderne. Der junge Lord begeistert sich für die wissenschaftlichen Aspekte der Kriminologie und möchte sein Wissen anwenden. Dem Adel war damals eine Beschäftigung allerdings komplett fremd. Im Mittelpunkt steht der Stadtteil Blackwater, der modernisiert werden soll, gleichzeitig aber die Heimat auch der Kleinkriminellen ist. Sehr witzig, spannend und doch mit ernsthaftem Hintergrund erzählt von Philippe Charlot mit Bildern von Xavier Fourqemin.
Die besten Graphic Novels
Es ist immer ein wenig schwierig, Graphic Novels und „reguläre“ Comics voneinander abzugrenzen. Ich versuche mich gar nicht erst an einer Definition, habe aber klare Vorstellungen.
Platz 1 geht an die Literaturadaption Nur noch Stille aus dem All-Verlag. Fabrice Colin hat die Geschichte von R. J. Ellory für das Comicformat umgearbeitet, Richard Guérineau kongenial umgesetzt. Eine trügerische Kleinstadtidylle wird durch den brutalen Mord an kleinen Mädchen empfindlich gestört. Es gibt falsche Verdächtigungen, Alpträume und eine 60-Jahre lange Verfolgung!
Der folgende Platz geht an das Biopic Anaïs Nin von Léonie Bischoff. Die berühmt-berüchtigte Schriftstellerin wird in all ihren Widersprüchen porträtiert. Bischoff konzentriert sich dabei auf die Seele von Nin und ihre frühkindlich geprägte Verlassensangst, die später zu dem unstillbaren Bedürfnis nach körperlicher Zuneigung geführt hat. Leichte Zeichnungen mit Buntstiften schaffen ein Klima der Annäherung ohne Vorurteile.
Platz drei wird von wieder einer anderen Spielart eingenommen. bestemming: canada erzählt 10 Geschichten über Menschen, die aus den Niederlanden nach Kanada ausgewandert sind. Da die Berichte von zehn sehr unterschiedlichen Zeichner*innen umgesetzt werden, kommt dabei nicht nur eine interessante Sammlung von Schicksalen zum Ausdruck, der Band bietet auch noch einen guten überblick über die aktuelle niederländische Szene.
Die besten Gesamtausgaben
Gesamtausgaben von Klassikern waren schon immer im Programm auch von Verlagen, die ansonsten kein großes Comic-Segment hatten. So auch bei meinem diesjährigen Favoriten, der Marvel Comics Library aus dem Taschen-Verlag! In bisher drei Bänden im XXL-Format, jeweils mehrere Kilo schwer, mit Lesebändchen versehen, in einem speziellen Karton ausgeliefert und auf weltweit 5000 Exemplare limitiert, wurden die jeweils ersten 20 Ausgaben der bahnbrechenden Serien Spider-Man, Avengers und Fantastic Four publiziert. Neben kompetenten, persönlichen Einleitungen von Experten sind die Hefte in fantastischer Reproduktionsqualität abgedruckt, inklusive Werbung, Cover und Leserbriefseiten. Eine Vielzahl an Abbildungen und editorischen Notizen runden die Werke ab, die zurecht mit dem Will Eisner-Award ausgezeichnet worden sind. Coffetable books at their best!
Platz zwei wird gehalten von der Gesamtausgabe einer klassischen Westernserie, die in der Vergangenheit eine sehr wechselhafte Veröffentlichungsgeschichte in Deutschland erlebt hatte und trotzdem nie komplettiert worden war: Chinaman von Serge Le Tendre und Olivier TaDuc. Im Mittelpunkt steht der aus China ausgewanderte Chen Long Ann. Der ursprüngliche Triaden-Killer wendet sich gegen seinen Herren und kämpft fortan gegen Rassismus und Unterdrückung jeder Form. Man kann immer darüber streiten, ob Gesamtausgaben Geldschneiderei sind oder nicht. Solange sie Käufer*innen finden, sind sie für mich legitim. In diesem Falle jedoch wird es Zeit, dass das Highlight des Western-Genres jetzt endlich angemessen auf Deutsch vorliegt.
Auch Platz 3 wird von der Neuausgabe einer Western-Serie erobert: Die Blauen Boys haben in Deutschland nie die Wertschätzung wie bei unseren westlichen Nachbar*innen erfahren. Dabei stellen sie mit ihrer Mischung aus Komik und ernsthafter, faktenbasierter Kritik an Kriegen und Armee eine sehr seltene Mischung dar. Band 1 der Integral-Reihe ist schon vor geraumer Zeit erschienen, die Fortsetzung lag lange auf Eis. In diesem Jahr nun erfolgte mit den Bänden 2 und 3 der Re-Start! Die ersten Bände waren in Deutschland nur in heute fragwürdigen Übersetzungen erschienen.
Ein Novum in der Geschichte: Ein Szenarist nimmt gleich zwei Plätze hintereinander in der Rangliste ein. Cauvin ist nicht nur für die Blauen Boys verantwortlich, sondern auch für die Geschichten mit den Gorillas aus dem Chicago der Prohibitionszeit: Sammy & Jack. Die auf 10 Bände angelegte Reihe kommt mit ausführlichen redaktionellen Beiträgen und setzt auf Humor. Die Zeichnungen stammen von Berck. Auch diese Serie hat eine bewegte Publikationshistorie in Deutschland.
Platz 5 ist eine „echte“ Gesamtausgabe: Miss October von Stephen Desberg und Alain Queireix erzählt einen Krimi über eine junge Frau, die ein Trauma aufzuarbeiten hat und nebenbei als Diebin arbeitet, einen Bullen, der sich in die falschen Leute verliebt, und einen Serienkiller. Alle vier Bände sind jetzt in einem Integral wieder aufgelegt worden.
Die besten Sekundärwerke
Das beste Sekundärwerk in diesem Jahr hat bisher auf dieser Seite keine Rezension erhalten. Trotzdem hat der Ausstellungskatalog Horror im Comic von Alexander Braun jede*n Leser*in verdient! In verständlicher Sprache, trotzdem aber voller Details wird die Geschichte dieser Spielart hergeleitet, psychologisch erklärt und über die verschiedenen Varianten und Epochen sehr anschaulich präsentiert. Die dazugehörige Ausstellung im Dortmunder schauraum: comic und cartoon war für sechs Monate zu sehen und ist mittlerweile beendet. Der Katalog ist aber regulär beim avant-Verlag erhältlich.
Die deutsche Independent-Szene steht im Fokus des ICOM. Dabei geht es sowohl um Marketing nach außen als auch um Unterstützung für die Mitglieder nach Innen. Ein Schwerpunkt der jährlichen Comic!-Jahrbücher ist die Vorstellung der ICOM Preisträger*innen. Der inhaltliche Aspekt stand in diesem Jahr unter dem Motto Comics und Umwelt. Ein verdienter zweiter Preis!
Der dritte Platz geht eindeutig an das Team der Reddition. In 2022 ist leider nur ein Dossier erschienen, das dem Szenaristen André-Paul Duchâteau gewidmet war. Die Dezember-Ausgabe 2021 war eine Doppelnummer gewesen, insofern ist der Regelmäßigkeit des Erscheinens Genüge getan. Wer auch immer zu einem Thema der Comicwelt Informationen sucht, ist gut beraten zunächst im Archiv der Reddition-Ausgaben zu suchen. Für Abonnent*innen gibt es jeweils eine limitierte Extrabeilage.
Die besten Magazine
Auf Platz 1 in diesem Jahr das ZACK! Jeden Monat liefert Georg F. W. Tempel einen guten Querschnitt aus aktuellen Comics, Gags und Informationen ab, der nicht nur die „Generation ZACK“ bedient, sondern auch über den Tellerrand schaut und Comics nach Deutschland bringt, die hier (meistens) nicht als Alben erscheinen. Hervorzuheben ist dabei, dass angefangene Serien auch beendet werden, selbst wenn sie über Jahre laufen. Dabei stehen neben den runderneuerten Klassikern wie Michel Vaillant oder Rick Master auch spannende Projekte wie Amoras oder MADI im Fokus. Serien aus Deutschland haben dort ebenfalls ihren Platz, aber nicht um eine Quote zu erfüllen, sondern weil sie wie etwa die Frau mit dem Silberstern einfach gut sind! 50 Jahre ist es nun her, dass die erste Ausgabe erschienen ist und das Jubiläumsjahr hat unter anderem eine Erweiterung des Umfanges auf nun 92 Seiten gebracht. Weiter so!
Kann eine Zeitschrift, die nur alle drei Jahre erscheint und außerdem noch in der aktuellen Nummer keine einzige Comic-Seite enthält, den zweiten Platz im Ranking von Comic-Magazinen einnehmen? Ja! CAMP erscheint zwar nur selten und hat ein deutlich breiteres Spektrum, ist aber definitiv sehr unterhaltsam, anregend und die eigenen Lesegewohnheiten herausfordernd. Da es zudem viele Artikel enthält, die dem Comic-Segment zuzuordnen sind, stehe ich zu dieser Auswahl. Da wären etwa die Adaptionen der Nestor-Burma-Romane oder Nosferatu im Comic, aber auch Überlegungen zur Cancel-Kultur, zu Isaac Asimov oder dem Sammeln von Spielzeugrobotern. Rezension folgt!
Platz 3 geht an den Relaunch des Wandelnden Geist: Das Phantom ist zurück auf dem Kiosk-Markt! Alle zwei Monate werden Geschichten aus den unterschiedlichen internationalen Veröffentlichungen präsentiert. Dabei kommen sowohl „alte“ Sonntagsseiten von Lee Falk zum Abdruck wie auch aktuelle Stories aus Schweden oder den USA! Die Hefte haben in der Mitte jeweils ein Poster zum herausnehmen. Zauberstern Comics haben damit allen Phans einen Wunsch erfüllt.
Und dann ist da noch …
das Jubiläum des Jahres! Während in der realen Welt Superreiche wesentliche Teile ihres Einkommens spenden, aufgrund einer Scheidung riesige Summen abgeben müssen und trotzdem superreich bleiben oder sich aus Spaß eine Software mit blauen Häkchen kaufen, feiert die wahrlich reichste Ente der Welt bereits ihren 75. Geburtstag! Comix-online gratuliert Onkel Dagobert!
Ein vollständiger Nekrolog ist an dieser Stelle nicht möglich. Ein guter Anlaufpunkt dafür sind die entsprechenden Seiten von Wikipedia in den jeweiligen Landessprachen. Den vollständigsten Überblick findet man sicherlich auf der englischsprachigen Variante. Trotzdem soll hier an ein paar erinnert werden:
Jean-Claude Mézières, Neal Adams, George Pérez, Tim Sale, Alan Grant, François Corteggiani und viele mehr !
Auf comix-online ist es ein guter Brauch, Rezensionen mit einem Vorschlag für ein passendes Getränk und musikalische Begleitung abzuschließen. An dieser Stelle darf daher der Hinweis nicht fehlen, dass Im Dezember Terry Hall, der Sänger und Songwriter der Specials, Fun Boy Three und vieler weitere Combos von uns gegangen ist. In diesem Sinne: „Ghost Town“!
So schön wie durchgehende Geschichten sind, so nervig können sie sein, wenn man auf die Auflösung des Cliffhangers warten muss. Vor allem im Thriller-Bereich, der von der Spannung lebt, kann das sehr anstrengend sein. Umso erfreulicher ist es, dass von dieser Serie nun gleich alle vier Teile in der einbändigen Gesamtausgabe auf den Markt gebracht werden.
Pin-Up des Todes
Stephen Desberg ist wahrlich kein Anfänger im Bereich der spannend erzählten Comics: 421, Empire USA oder Mic Mac Adam deuten die Bandbreite an. Miss October startet mit dem Versuch einer blonden Diebin, ein Kunstartefakt zu stehlen. Auf ihrer Flucht läuft sie Detective Clegg in die Arme und küsst ihn. Zwei Jahre zuvor wird ebenjener Clegg damit beauftragt, einen ganz speziellen Killer festzunehmen. Junge Frauen zwischen denen kein Zusammenhang zu bestehen scheint werden entführt, vergewaltigt und gefoltert und schließlich in Pin-Up-Posen als Miss Januar, Februar usw. zur Schau gestellt.
Clegg war der Star des LAPD, spürt aber jetzt den Atem seines Konkurrenten im Nacken. Dieser kämpft mit harten Bandagen und politischer Unterstützung und soll mit der Aufklärung der Einbruchsserie, deren Täterin wir Leser*innen bereits kennen, seine Fähigkeit für große Fälle beweisen. Die angespannte Situation zwischen den beiden wird nicht besser als Affären dazukommen und neben die (kaputte) Liebe Eifersucht und Machtgelüste treten.
Lynn Scott kämpft derweil mit ihren eigenen Dämonen: Vor einiger Zeit hat sie ihr Gehör verloren, kann sich an die Situation aber nicht mehr erinnern. Und so sucht sie ständig nach Hinweisen auf den vermeintlichen Überfall und betäubt ihre Hilflosigkeit mit waghalsigen Einbrüchen. Sie scheint aber auf der To-Do-Liste des Killers zu stehen, und zwar als Miss October!
Realistische Zeichnungen und Action
Alain Queireix bringt die Geschichte sehr realistisch auf das Papier! Das von Schreiber & Leser gewählte Hochglanzpapier unterstützt die Qualität der Zeichnungen. Die Körper sind in ihren Posen ebenso glaubwürdig wie die frustrierten, zermürbten Gesichtszüge der Cops. Da der Comic zu Beginn der 60-er spielt, sind auch Kleidung und Technik, etwa der Autos, noch sehr unterschiedlich und erfordern viele unterschiedliche Ausstattungen durch den Zeichner.
Die Story betrifft im Wesentlichen Leute aus dem gehobeneren Milieu der oberen Mittelschicht. Armut und Dreck tauchen daher nur am Rand auf und selbst Erotik und die Gewalt, die keinesfalls verschämt dargestellt wird, sehen ästhetisch aus. In der Welt der Reichen und Schönen ist aber keinesfalls alles „gut“ und so stehen die freundlichen Zeichnungen immer öfter in krassem Gegensatz zu den sich auftuenden Abgründen.
Thriller Tipp!
Es gibt seit Jahren die Tendenz, immer mehr Marken zu entwickeln und erfolgreiche Konzepte auszuwringen, bis wirklich kein Tropfen mehr rauskommt. Miss October ist da erfreulich anders. Natürlich sind einzelne Versatzstücke wiederzuerkennen, die Mischung ist aber neu und vor allem eigenständig. Trotzdem haben sich Desberg und Queireix mit vier Bänden genügend Zeit genommen, um verständlich zu erzählen. Miniserie statt überlangem und doch zu kurzem Einzelband!
Für alle Fans dieses Genres ein Versuch wert! Auch wer etwa auf Lady S. steht, sollte hier einen Blick riskieren. Und nicht zuletzt ist genug hard-boiled enthalten um auch von dieser Seite kommend einen Blick zu riskieren. Der Band enthält alle vier Alben samt Titelbildern. Dazu erscheint eine limitierte Vorzugsausgabe mit signiertem Druck.
ExLibris der limitierten Vorzugsausgabe
Im Hintergrund läuft das North East Ska Jazz Ensemble und es wartet ein Emmerich Koebernik Dornfelder.
Der Kapitän ohne Schiff ist eine Gestalt von Hugo Pratt. Corto Maltese ist bei sehr vielen zeitgeschichtlichen Ereignissen des letzten Jahrhunderts dabei und ist ein Begleiter des Großen, der im Kleinen agiert. Fast immer ist eine Frau involviert und häufig tauchen bestimmte Personen aus dem Umfeld von Corto immer wieder auf. Mehr dazu im Serienkompass. Vor einigen Jahren setzen die aktuellen Künstler die Reihe nach 25 Jahren Pause fort; Nacht in Berlin ist ihr vierter Beitrag!
Der Tod eines Freundes und die Organisation Consul
Der neue Band spielt im Berlin und Prag des Jahres 1921. Die erstarkenden Nazis haben Prof. Steiner, Cortos alten Freund, ermordet und nun möchte dieser die Gründe dafür herausfinden. Er gerät in ein Konglomerat aus verschiedenen Handlungssträngen. In Berlin, später dann auch in Prag wird ein Film mit dem Titel „Bestia Triumphans“ gedreht. Schnell wird deutlich, dass es Versuche aus dem rechtsradikalen Millieu gibt, Drehbücher umschreiben zu lassen. Daneben geht es um eine besondere Tarot-Karte. Sie ist die einzige noch fehlende, um ein ganz bestimmtes Spiel zu komplettieren, das dann besondere Macht haben würde.
Natürlich geht es aber auch um eine schöne Frau zwischen mehreren Männern, um Geheimgesellschaften, den jüdischen Glauben, den österreichischen Künstler Joseph Roth und natürlich um die Machenschaften der Organisation Consul.
Wie so oft verschwimmen dabei die Grenzen zwischen dem Fiktionalen und dem Realen in der Fiktion. Auch Juan Díaz Canales schafft es spielend, seine Leser*innen zu verwirren und bei der Stange zu halten. Hervorzuheben ist aber, dass trotz aller esoterischen, alchimistischen und filmtheoretischen Stränge die Betonung der politischen Gefahr des Nationalsozialismus nicht untergeht.
Die Nähe zum expressionistischen Film
Der moderne, expressionistische Film ist nicht nur eines der Themen des Comics, er hat auch großen Einfluss auf die Zeichnungen. Insbesondere die Panels mit harten Schatten wirken direkt von Murnau und Kollegen inspiriert. Rubén Pellejero hat aber auch dort weitergemacht, wo er im letzten Band aufgehört hat, und „sein“ Corto ist hochklassig!
Eben diese Meisterschaft erlaubt es dem Verlag auch, weiterhin eine unkolorierte „Klassik-Ausgabe“ zu veröffentlichen. Sammler*innen können bei dieser Reihe seit Anbeginn wählen oder beides genießen! Für mich ein sehr gelungenes Beispiel dafür, dass „Innovation“ auch im klassischen Setting mit vier Panel-Reihen sehr gut funktionieren kann.
Gelungen!
Bei Fortsetzungen von hochklassigen Reihen stellt sich immer die Frage, ob „die Neuen“ die Qualität werden liefern und vor allem halten können. Nun kann niemand Hugo Pratt vergessen machen, Díaz Canales und Pellejero setzen aber Corto Maltese angemessen fort und beweisen mit ihrem mittlerweile vierten Band, dass sie auch den langen Atem haben! Für alle Fans daher absolut zu empfehlen.
Die Mischung aus Zeitkolorit, theoretischer Diskussion und Action sollte aber auch Freund*innen anderer Gattungen ansprechen können. Wer etwa Babylon Berlin mag, sollte hier einen Blick riskieren. Zusätzlich gibt es noch eine sehr lesbare Einführung in die Zeit und die Kunst!
Dazu passen Paul Godwin mit „Erst trink‘ mit mir ein bisschen Alkohol“ und ein Bee‘s Knees.
Der Verlag aus Hamburg bringt in rascher Folge die Doppelbände über den Erben des Winch-Konzerns heraus. Zur Erinnerung: Largo Winch ist der lange geheim gehaltene Erbe der Gruppe W. In seiner Jugend hat er überall auf der ganzen Welt Abenteuer erlebt und Körper und Geist gestählt. Nachdem er zunächst einmal seine Machtposition im Konzern hatte festigen müssen, erlaubt Autor Jean Van Hamme seinem Helden nun wieder etwas „Natur“. Van Hamme hatte die Figur zunächst als Romanhelden für eine erwachsenere Zielgruppe angelegt. Der Wechsel in das Comic-Genre hat sich auf jeden Fall gelohnt, gehört die Serie im französischsprachigen Ram doch zu den Erfolgsgaranten.
Politische Spielchen in Myanmar
In Myanmar, dem ehemaligen Birma, regiert zum Zeitpunkt dieser Geschichte noch nicht die heutige Militärjunta, Generäle haben aber schon damals das Sagen. Nicht unerwarteterweise gibt es in den Ländern, die an das kommunistische Gebiet angrenzen, Kontakte der Regierenden mit der CIA, insbesondere dann, wenn ein großer Teil der Weltproduktion an Heroin aus dem jeweiligen Land stammt. Ebenfalls erwartbar ist, dass es Untergrundgruppen gibt. Oft aus indigenen Strukturen entstanden, versuchen diese, teilweise mit Ideologien verknüpft, eine andere, aus ihrer Sicht bessere Zukunft für ihr Land zu erreichen. Nicht immer gehen diese Interessen mit denen der ausländischen Berater konform.
Wie dem auch sei: Simon Ovronnaz, Freund von Largo Winch seit früheren Tagen, bereist mit einer Freundin Myanmar. Beide werden mit fadenscheinigen Argumenten festgenommen und auf der Wache versucht Simon, eine Vergewaltigung seiner Begleiterin zu verhindern. Dabei wird ein Beamter scheinbar tödlich verletzt. In einem anschließenden Prozess wird Simon zum Tode verurteilt und zur Vollstreckung auf die abseits gelegene und schwer bewachte Festung Makiling verbracht.
Im Laufe der Geschichte stellt sich heraus, dass das angebliche Opfer bei dieser Aktion gar nicht zu Schaden gekommen war. Ein Komplott war geschmiedet worden, um finstere Ziele zu erreichen, und zwar basierend auf der Annahme, dass Largo Winch seinem Freund zu Hilfe kommen werde. Es scheint auch bekannt zu sein, dass Largo aus früherer Zeit Kontakte zu dem Führer der Rebellen, dem Tiger hat. Van Hamme verknüpft politische Motive (ja, auch ein wenige Verschwörungstheorie ist natürlich dabei) mit Actionelementen und Romantik zu einem glaubhaften, spannenden und realistischen Double-Feature und beweist ein weiteres Mal, warum seine Szenarien so erfolgreich sind!
Der Dschungel als Kulisse
Natürlich besteht Myanmar nicht nur aus Dschungel und Philippe Francq kann auch Städte und vor allem Technik perfekt auf das Papier bringen. Ein großer Teil dieser beiden Geschichten besteht aber aus Urwald mit all seiner überwältigenden Flora und Fauna. Er erklärt im Anhang, dass er sich an sich auf diese Möglichkeit sehr gefreut hätte, schon bald aber gemerkt hätte, wieviel Arbeit das macht. Glücklicherweise hat er sich nicht entmutigen lassen und die Qualität des Anfangs durchgehalten.
Außerdem darf er natürlich auch seine Kunst in der Darstellung des Alleskönners Winch beweisen. Sei es, dass dieser McGyver gleich aus unmöglichen Situationen einen Ausweg findet oder sich wie ein Martial Arts Kämpfer zur Wehr setzt. Nicht zuletzt ist seine Form beeindruckend, hat der CEO doch keineswegs an Kondition eingebüßt. Formal bewegt sich Francq allerdings auf sehr klassischem Terrain: meist dreizeiliges Layout und nur selten solch opulente Extravaganzen wie die Diskussion auf Seite 62. Trotzdem: Solide frankobelgische Thriller-Ware!
Sehr ansprechende Gesamtausgabe
Die Doppelbände haben Überformat und bringen dadurch den Inhalt noch besser zur Geltung. Allen gemeinsam ist der Anhang mit Informationen der Künstler zum jeweiligen Werk und vielen Skizzen und zusätzlichen Illustrationen, die den Schaffensprozess verständlich darbieten. Van Hamme ist nicht nur im Thrillerbereich (XIII) ein Star, seine Serien behandeln etwa auch die Geschichte des Brauens, spielen während der Kolonialisierung in Indien oder setzen Klassiker wie Blake und Mortimer fort.
Largo Winch gehört bei unseren westlichen Nachbarn zurecht zu den Kassenschlagern und hat auch hier eine größere Aufmerksamkeit verdient. Diese Gesamtausgabe in Doppelbänden ist allen ans Herz zu legen, die die Bände noch nicht besitzen aber Spaß an gut erzählten Thríllern wie James Bond, Bruno Brazil oder Bob Morane haben.
Dazu passt eine etwas ruhigere Begleitung mit Blues von Keb‘ Mo‘! In Anbetracht des Dschungels sollte dazu ein chininhaltiges Getränk passen.
Es gibt ein paar Große der Comicwelt, die es auch heute noch schaffen, ihre Werke in einen Zusammenhang zu stellen. Auch wenn formal betrachtet die Bände unabhängig voneinander sind, kann man teilweise doch gleiche Motive erkennen und eine Entwicklungslinie ziehen. Einer davon ist François Schuiten, hauptsächlich bekannt für seine Geheimnisvollen Städte, die er zusammen mit Benoît Peeters entwickelt hat. Dass er schon vorher in dieser Richtung unterwegs war, belegt das Frühwerk mit Claude Renard eindrücklich!
Experimentelle Arbeiten, die Schichten aufdecken
Der Band mit unterschiedlichen Geschichten heißt nicht umsonst Metamorphosen! Alle Geschichten haben mehrere Ebenen, die Oberfläche hat nicht unbedingt etwas mit dem Darunterliegenden zu tun und nichts endet wie geplant. Den Anfang macht eine von den beiden Künstlern zusammen entwickelte Story mit Bleistiftzeichnungen. Die Mediane von Zymbiola verknüpft mehrere Handlungs- und Zeitebenen. Es geht um Architektur, gesellschaftliche Weiterentwicklung und Macht. Wie immer gibt es Forschende und solche, die nur auf die eigenen Pfründe schauen. Und die Reaktion ist nicht immer bereit, zu unterscheiden.
Express ist der Versuch der Beiden, bei etwas Neuem mitzumachen. Plötzlich waren Comics nicht mehr minderwertig, sondern Kunst und Literatur ebenbürtig und z.B. Portfolios möglich. Schuiten und Renard haben eine Folge von 8 Blättern entworfen, die ohne Worte erzählen, wie ein Zug sich zu etwas Anbetungswürdigem verwandelt und gleichzeitig eine erotische Eskapade ihren Lauf nimmt.
Den Abschluss bildet Das Gleis: ein Funktionär muss erkennen, dass er und das, für das er steht, nicht mehr gewollt ist und Neues sich Bahn bricht. Immer wieder stehen Züge im Mittelpunkt von Geschichten von Krimis oder auch Science-Fiction-Serien, weil sie Technik und Beherrschbarkeit der Umgebung mit der Situation des Eingeschlossen- und Ausgeliefertseins verbinden. Es gibt kein Entkommen!
Gelungene Experimente!
Die Verknüpfung von Form und Inhalt wird hier teilweise auf die Spitze getrieben. Formalisierte Konzepte erlauben nur kleine Veränderungen, die erst in ihrer Abfolge wirksam werden. Die Geschichte in der Geschichte, die trotzdem Crescendo und Beruhigung teilt, ist mehr als eine Spielerei. Und die Verknüpfung von Architektur und Gesellschaftskritik über die Zeiten hinweg ist ein spannender Einfall, der das Lesen zum Genuss macht.
Wer die schnelle Lektüre sucht, wird hier sein Glück nicht finden. Wer aber Spaß hatte an der Dekonstruktion der klassischen Erzählweise, an den neuen Möglichkeiten, die Metal Hurlantbot, der sollte hier zuschlagen!
Schöne Ergänzung zu den Geheimnisvollen Städten
Der Band mit dem Frühwerk von François Schuiten ergänzt die Reihe nahezu perfekt. Auch ohne Kenntnisse ist er aber ein Leckerbissen der besonderen Art, der durch die Skizzen im Anhang noch einmal gewinnt. Sehr schön präsentierte anspruchsvolle Sachen die der Bezeichnung „Neunte Kunst“ vollauf gerecht werden!
Dazu passen David Gilmour mit „In Any Tongue“ und ein trockener Bordeaux.
Im frankobelgischen Raum haben erfolgreiche Comics eine Startauflage von mehreren 100.000 Exemplaren. Auch Largo Winch gehört seit Jahren in diese Riege. Die ersten 20 Bände wurden dabei von Jean Van Hamme getextet. Dieser hatte ursprünglich sechs Romane über den Erben eines Milliardenvermögens geschrieben, voll von Sex und Gewalt. Der große Erfolg blieb den Büchern allerdings versagt, bis die Reihe ab 1990 mit Zeichnungen von Philippe Francq als Comic veröffentlicht wurde.
Die Anfänge
Nerio Winch ist ein erfolgreicher Geschäftsmann, der die Gruppe W aufgebaut hat: Ein Konzern mit 44 Milliarden Dollar Umsatz und fast 400.000 Mitarbeitenden weltweit, verstreut über viele einzelne Gesellschaften. Die einzige Verbindung zwischen diesen ist das persönliche Eigentum der Anteile in der Hand des Gründers. Er ist unverheiratet und ohne eigene Kinder. Als er eines vermeintlichen Selbstmordes stirbt, macht sich das Board der Direktoren Hoffnungen auf eine freiere Zukunft mit glänzenden finanziellen Auswirkungen. Sie müssen jedoch erfahren, dass Nerio einen heimlichen Adoptivsohn hatte und dass der Erbe das gesamte Vermögen bekommen wird.
Bis es so weit ist muss dieser allerdings erstmal ein Komplott gegen ihn überstehen. Er gerät in der Türkei in eine Falle und wird des Mordes verdächtigt. Im Gefängnis trifft er auf einen Berufsverbrecher, den Dieb Simon Ovronnaz. Die Beiden beschließen zu fliehen.
Der zweite Band, Gruppe W, zeigt die Auseinandersetzung in dem Board mit dem neuen Eigentümer. Niemand ist wirklich davon begeistert, einen Unbekannten als neuen Chef präsentiert zu bekommen, der nicht nur aus dem Nichts kommt, sondern auch noch mit einem Messer herumspielt und zu lange Haare hat. Aber nur ein Vertreter scheint auch kriminelle Methoden anwenden zu wollen.
Spannendes, actiongeladenes Szenario des wohl erfolgreichsten Szenaristen für realistisch gezeichnete Stoffe, etwa Hopfen & Malz oder Rani. Van Hamme hatte nach einem Sujet gesucht und (damals) die Finanzwelt als freies Gebiet entdeckt. Die Romane waren nur leidlich erfolgreich und wurden für die Comicadaption angepasst, indem die Gewalt reduziert und der Sex entfernt wurde. Diese beiden ersten Bände bieten einen guten Einstieg.
Action, Landschaften und gehobenes Management
Die Mischung verspricht tatsächlich viel: Der reiche Erbe kann sich mit seinen Mitteln überall auf der Welt herumtreiben. Außerdem stehen van Hammes Szenarios für Action und nebenbei gibt es Luxus und Partys der Oberklasse. Philippe Francq darf wirklich aus dem Vollen schöpfen. Ursprünglich hatte er für die Studios Hergé und Bob de Moor gearbeitet, ist seit 1990 aber mit Largo Winch ausgelastet.
Seine Zeichnungen sind routinierte Kost: Keine Extravaganzen im Layout, keine Schnörkel oder Karikaturen bei den Personen, dagegen gute Vorbereitung im Hinblick auf Örtlichkeiten und Technik! Die Männer sind vielleicht etwas zu kantig, die Frauen zu schön, und beide etwas zu schematisch. Das ist aber schon ein Jammern auf hohem Niveau, denn bei vielen Zeichner*innen wäre man als Leser*in heilfroh über eine vergleichbare Qualität!
Der Start in die Gesamtausgabe
Während der neuste Band 23 gerade bei den Hamburger*innen von schreiber & leser erschienen ist werden nun auch die Anfänge wieder zugänglich gemacht. Dieser Doppelband beinhaltet zusätzliche Seiten mit Skizzen und Hintergründen zu der Serie und schon in wenigen Wochen erscheint der nächste Teil mit den Folgen drei und vier. Superreiche sind heutzutage gar nicht mehr so unbekannt und in der Presse sowohl auf den Wirtschaftsseiten als auch im Panorama präsent. Damals war das noch etwas anders und so hat sich auch die Serie im Laufe der Zeit modernisiert.
Das Grundprinzip ist aber geblieben und bietet spannende Unterhaltung! Die Aufmachung im großen Format, stabilem Hardcover und redaktionellen Extras bietet viel für einen fairen Preis. Auch wenn bei uns in Deutschland die Millionengrenze für einen Band sicherlich noch in weiter Ferne liegt, kann der Neustart dieser Serie vielleicht doch verdientermaßen neue Leser*innen bescheren!
Dazu passen die etwas aus der Zeit gefallenen Elephant Stone mit so ziemlich allen Songs und ein Cragganmore Sherry Cask.
Große Serien überdauern ihre Schöpfer*innen. Ihre Ideen tragen über einen langen Zeitraum und sind ausbaufähig, das Artwork ist optimalerweise ebenfalls transformierbar und ermöglicht trotzdem die klare Wiedererkennung. Das kommt besonders zum Tragen, wenn eine Serie nicht nur fortgesetzt, sondern (auch) durch One-shots angereichert wird. In einem solchen Fall fehlt die Kontinuität, was einerseits befreiend sein kann, andererseits aber auch gefährlich, da feste Halteleinen plötzlich vermisst werden.
Corto Maltese von Hugo Pratt ist so eine Serie. Sie zählt zurecht zu den besten Serien des europäischen Comics. Der Held ist auch in anderen Serien seines Erfinders am Rande aufgetaucht bzw hat Erwähnung gefunden und war Namensgeber für ein eigenes Magazin. Die 12 Originalbände werden seit einigen Jahren von einem neuen Duo fortgesetzt. Zu den Details siehe den Serienkompass. Unzählige andere Werke haben dem Kapitän ohne Schiff eine Referenz erwiesen, so z.B. Micky Maltese als liebevolle Hommage an die Südseeballade.
Der Kapitän ohne Schiff als Pirat
Mit Schwarzer Ozean setzen Bastien Vivès und Martin Quenehen einen neuen Meilenstein. Bisher war die Geschichte klar Anfang bis Mitte des letzten Jahrhunderts verortet. Schon immer waren die handelnden Personen, allen voran Corto selbst, aber auch Rasputin und eine Vielzahl an Frauen, in die Ereignisse der Weltgeschichte eingebunden. Nun aber wurde quasi eine Zeitmaschine angeworfen und wir befinden uns in der Zeit um die Anschläge des 11. September.
Der Held ist unter die Piraten gegangen als ein Überfall auf ein privates Boot zu einem fürchterlichen Schusswechsel führt. Da Corto die Tötung von Menschen während seiner Tätigkeiten strikt ablehnt, rettet er das vorgesehene Opfer und flieht mit ihm zusammen. Dieser wiederum ist in kriminelle Machenschaften verstrickt und möchte seine Tochter noch einmal sehen. Einer solchen Aufgabe kann der romantische Weltenbummler natürlich nicht widerstehen und so bringt er ihn nach Tokio. Während einer Kabuki-Aufführung kommt es allerdings zu einem erneuten Angriff.
Nach und nach erschließen sich Corto Verbindungen, angestoßen durch das Notizbuch des Opfers. Es geht um eine politische Sekte, die die Nachkriegsordnung nicht akzeptieren will, einen sagenhaften Schatz der Inkas, vor allem aber auch um höchst aktuelle Probleme: Umweltzerstörung und Drogenhandel. Wie immer sind Geheimdienste involviert und erneut spielen zwei Frauen eine große Rolle. Der Band erfordert weniger (zeit-)geschichtliches Vorwissen als die von Pratt, geht also auf ein größeres Publikum zu, aber ohne dabei beliebig zu werden.
Die Kunst der Reduktion
Das Original lebte von Strichen. Hugo Pratt verstand es meisterhaft, mit ihnen ganze Welten zu erschaffen und brauchte zusätzlich nur noch schwarze Flächen. Bastien Vivès hat einen etwas anderen Stil. Auch ihm schadet es nicht, dass die Zeichnungen nicht koloriert sind (Patrizia Zanotti hat nur die ersten Seiten bearbeitet). Auch er ein Meister der Auslassung, arbeitet aber doch mit mehr Graustufen und Details. Die Stimmung des Werkes ist aber sehr ähnlich und trifft den Markenkern.
Es gibt mystische Sequenzen, wie etwa in den ausgewählten Bildbeispielen, Rasputin und Corto werden aber auch in Actionszenen gezeigt. Selten durfte der Held eine Beziehung so ausleben wie hier, das Ergebnis des sympathischen Verlierens bleibt aber gleich. Im Anhang sind teilweise kolorierte Skizzen und Portraits abgedruckt. Diese Momentaufnahmen in charakteristischen Posen sind natürlich Fingerübungen, fangen aber auch eine Art Selbstbildnis der Figuren ein und dienen somit in genau dieser Auswahl auch dem besseren Verständnis.
Eine Ikone in neuem Licht
Neue Interpretationen einer großartigen Serie haben immer auch etwas Beängstigendes an sich. Hier bestätigen sich die Befürchtungen allerdings keinesfalls: die beiden Künstler haben eine eigenständige Interpretation geschaffen, die Corto Maltese und Rasputin in die Jetztzeit katapultiert haben. Sie haben dabei behutsam alle Ingredienzen mitgenommen. Außer ein paar alles ablehnenden Puristen, die es wahrscheinlich immer geben wird, kommen hier sowohl die Fans des Klassikers auf ihre Kosten als auch Leser*innen von heute mit etwas anderen Lesegewohnheiten, Themen und geschichtlichen Hintergründen.
Eine nahezu perfekte Modernisierung, die sich wegen der Anlehnung an die Serie nahtlos im Regal hinzufügt, aber auch alleine eine gute Figur macht! Im Bereich der Graphic Novel mit Sicherheit eine der Empfehlungen, die in der einen oder anderen Rückschau auf 2022 weit vorne stehen wird.
Dazu passen Amusic Skazz Band, etwa mit „Mosaic“, und ein Sake.
Auch die schönste Geschichte hat manchmal ein Ende! Und so ist der 19. Band der letzte in der Reihe Caroline Baldwin! Aber, um es gleich vorneweg zu sagen, es ist nicht der letzte mit der Heldin! Natürlich fehlt in der aktuellen Gesamtausgabe noch der Sammelband 4. Zusätzlich hat André Taymans festgestellt, dass einige Sachen noch nicht auserzählt sind. Es werden daher noch einige Spezialausgaben erscheinen.
Lose Fäden werden zusammengeführt
Einige Serien hören irgendwann einfach auf. Falken führt dagegen viele lose Enden zusammen, schafft Verbindungen und verlockt dazu, die Reihe mit dem nun vorhandenen Wissen nochmal zu lesen! Wie jeder gute Abschluss lässt der Autor das weiterhin mögliche Geschehen halbwegs offen. Im Traum wird der Kreis aber geschlossen und der Astronaut aus Band 1, der „eigentliche Held“ aus Moon River, hat einen Kurzauftritt.
Caroline scheint komplett gescheitert zu sein. Sie konnte ihren tödlich erkrankten Chef nicht retten da der als Spender vorgesehene, drogensüchtige Sohn verstorben ist. Wie so oft ist die Heldin kurz davor, ihren Frust in Whiskey zu ertränken. Dann allerdings eröffnet Gary die Möglichkeit, in die Vergangenheit einzutauchen. Während des Indochinakrieges waren Carolines Vater, ihr Chef und zwei weitere Kameraden, eben die Falken, in der Gegend eingesetzt worden. Ihre damaligen Taten haben Auswirkungen bis heute.
Nun muss die Heldin feststellen, dass bisherige Gewissheiten teilweise revidiert werden müssen! Dazu kommen der Drogenbaron Teo Pak und die undurchsichtige Madame Jow mit ihren Aktionen, die das Leben der Heldin gefährden.
Traum und Trauma
André Taymans verknüpft in diesem Band die Traumwelt der Heldin mit realen Handlungen und wechselt immer wieder aus dem gewohnten Stil in sepia-getönte Bildfolgen. Diese kommen teilweise ohne Sprechblasen aus, werden dann aber wieder realer und textueller. Stilistisch bietet dieser Band daher etwas ganz Neues!
Wie schon bei den Vorgängern sind wieder zwei Seiten hinzugefügt, die den Entstehungsprozess erschließen. Fotos werden zu Vorzeichnungen und schließlich zu Panels. Da die Bilder teilweise nur drei- oder sogar zweireihig angeordnet werden, haben einige Szenen weniger Dynamik als andere. Sie können dadurch aber mit einer vertieften Atmosphäre aufwarten (im Film würde in diesen Momenten die Musik um einige Stufen dramatischer) und natürlich viel detaillierter ausgeführt werden.
Ein großartiger Abschluss für eine feine Serie
Caroline Baldwin ist eine Serie, die etwas außerhalb der gängigen Klischees liegt. Die Heldin ist tough, kann und muss durchaus einiges einstecken. Immer wieder wird sie mit ihrer Vergangenheit konfrontiert die Stück für Stück detaillierter wird und sich doch als falsch entpuppt. Die Privatermittlerin darf viel reisen und Taymans kann so seine Fähigkeiten in der Naturdarstellung gleichberechtigt mit den körperbetonenden Zeichnungen der Heldin und Abbildungen der unterschiedlichen Architekturen präsentieren.
Für Fans von Heldinnen, von Krimis, Agent*innenstories und dem klassischen Abenteuer wie etwa bei Andy Morgan eine sehr zu empfehlende Serie! Die Hardcover-Ausstattung und das gute Papier tun ihr Übriges und auch der Preis ist angemessen.
Dazu passen Letters to Cleo und ein leicht salziger Old Pulteney.